Bemerkenswert
ist wohl auch, dass die Formulierung der Goldenen Regel, wie Jesus sie
im Evangelium nach Matthäus (7,12: „Alles, was ihr also von anderen
erwartet, das tut auch ihnen!“) und nach Lukas (6,31: „Was ihr von
anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“) gibt, positiv ist —
und nicht negativ wie im bekannten deutschen Reim: Was du nicht willst,
dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Diese Positivität
impliziert meinem Verständnis nach eine anthropologische These über den
fundamental sozialen Charakter der Extistenz. Es ist eben nicht primär
so, dass die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen begrenz
wäre (wie es etwa der Liberalismus lehrt), sondern die Freiheit des
einen ermöglicht die Freiheit des anderen. Anders gesagt: Es geht vor
allem darum, dass die Menschen für einander da sind und ihr Tun und
Lassen das Sein aller betrifft. (Dasein im doppelten —
aber dabei der Sache nach durchaus verschränkten —
Sinne verstanden: als existierend angenommen werden und für einander
sorgen.) Man ist ja, wie ich zu sagen pflege, immer in Gesellschaft. Das
ist in vielfältiger Hinsicht Voraussetzung des eigenen Daseins, und
unvermeidbarerweise wirkt dabei das Verhalten aller Einzelnen auf jeden
Einzelnen zurück, der seinerseits, ob er will oder nicht, das Verhalten
aller auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitbestimmt.
Konsequenterweise wendet sich Jesu Formulierung der Goldenen Regel nicht
an diesen oder jenen einen Einzelnen, sondern an alle, an die
Gemeinschat aller, die Gottes Willen tun wollen. Egoismus und Ethik
schließen einander aus. Ethik ist immer Sozialethik, denn niemand
handelt, ohne dass er in Gesellschaft wäre. Auch die Sorge um sich, die
jeden in unterschiedlichem Maße und verschiedenen Formen umtreibt, ist
eingebettet in die Sorge anderer und für andere. Handeln freilich muss
der Einzelne, Kollektive handeln nicht, was als ihr „Handeln“ erscheint,
ist zusammengesetzt aus einzelnen Akten Einzelner. Darum sind
moralische Appelle immer auch an den Einzelnen zu richten, ohne dass
dieser deswegen als isoliertes Subjekt, als souveräner Herr des
Verfahrens zu gälten hätte, im Gegenteil.
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