Sonntag, 26. März 2017

Anmerkung zu „Aschermittwoch“ (4)

Bemerkenswert ist wohl auch, dass die Formulierung der Goldenen Regel, wie Jesus sie im Evangelium nach Matthäus (7,12: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“) und nach Lukas (6,31: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“) gibt, positiv ist und nicht negativ wie im bekannten deutschen Reim: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Diese Positivität impliziert meinem Verständnis nach eine anthropologische These über den fundamental sozialen Charakter der Extistenz. Es ist eben nicht primär so, dass die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen begrenz wäre (wie es etwa der Liberalismus lehrt), sondern die Freiheit des einen ermöglicht die Freiheit des anderen. Anders gesagt: Es geht vor allem darum, dass die Menschen für einander da sind und ihr Tun und Lassen das Sein aller betrifft. (Dasein im doppeltenaber dabei der Sache nach durchaus verschränkten Sinne verstanden: als existierend angenommen werden und für einander sorgen.) Man ist ja, wie ich zu sagen pflege, immer in Gesellschaft. Das ist in vielfältiger Hinsicht Voraussetzung des eigenen Daseins, und unvermeidbarerweise wirkt dabei das Verhalten aller Einzelnen auf jeden Einzelnen zurück, der seinerseits, ob er will oder nicht, das Verhalten aller auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitbestimmt. Konsequenterweise wendet sich Jesu Formulierung der Goldenen Regel nicht an diesen oder jenen einen Einzelnen, sondern an alle, an die Gemeinschat aller, die Gottes Willen tun wollen. Egoismus und Ethik schließen einander aus. Ethik ist immer Sozialethik, denn niemand handelt, ohne dass er in Gesellschaft wäre. Auch die Sorge um sich, die jeden in unterschiedlichem Maße und verschiedenen Formen umtreibt, ist eingebettet in die Sorge anderer und für andere. Handeln freilich muss der Einzelne, Kollektive handeln nicht, was als ihr „Handeln“ erscheint, ist zusammengesetzt aus einzelnen Akten Einzelner. Darum sind moralische Appelle immer auch an den Einzelnen zu richten, ohne dass dieser deswegen als isoliertes Subjekt, als souveräner Herr des Verfahrens zu gälten hätte, im Gegenteil.

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