Jemand, der hier A. heißen soll, berichtet, wie es sich gehört, regelmäßig bei Facebook über all sein Wohl und Wehe. Unlängst schrieb er (und ich übersetze): „Nur in Europa … Ein Typ im Sessellift neben uns zündet sich eine Zigarette an, der Wund bläst den Rauch in unsere Richtung, dann ist er überrascht und empört, als wir uns beschweren und ihm sagen, wie schlecht Passivrauchen ist … Seine Antwort: Das Leben selbst ist gefährlich.“
Eine ganz alltägliche Geschichte: Jemand benimmt sich schlecht, indem er unnötigerweise andere mit seinen Lebensäußerungen belästigt, und als diese anderen ihn auf sein Fehlverhalten aufmerksam machen, gibt er eine vorlaute Antwort. So weit, so banal. Doch mindestens zwei Dinge lassen mich aufhorchen, zum einen die einleitende Wendung „only in Europe“ und zum anderen die Stelle „we complain and tell him how bad second-hand smoke is“.
A. ist, soweit ich weiß, gebürtiger Österreicher und naturalisierter US-Bürger. Dasselbe gilt für seine Frau und wohl auch die beiden Kinder (Junge und Mädchen, beide Teenager). Er ist zum Skifahren in irgendwo in Tirol oder Salzburg oder — was weiß ich, für mich endet Österreich am Semmering. A. ist, das geht nicht nur aus seinen Mitteilungen bei Facebook hervor, sehr bemüht, ein hundertfünfzigprozentiger Amerikaner zu sein. Das erklärt auch, warum er seiner Erzählung einer an sich trivialen und nicht weiter erwähnenswerten Geschichte — allerdings, was ist in der Facebook-Kommunikation von Millionen Menschen nicht alles eigentlich nicht erwähnenswert! —, dass er also seiner Mitteilung eines nicht weiter berichtenswerten Alltagserlebnisses das deutende „Nur in Europa …“ voranstellt. Die Wendung hat ja kein Prädikat, aber man wird „Das gibt es nur“ ergänzen dürfen. Nur in Europa also kann einem sowas passierten. Aber was? Gibt es anderswo, etwa in den USA, keine Rüpel? Keine Nikotinabhängigen, die einen mit dem gasförmigen Abfallprodukt ihres Suchtverhaltens belästigen? Das glaube ich nicht.
Was in Europa anders ist als in den USA, zumindest nehme ich an, dass A. das sagen will, ist die Reaktion des Rauchers, nachdem man sich bei ihm beschwert hat und ihn daran erinnert hat, dass Passivrauchen doch bekanntlich gesundheitsschädlich ist. Statt sein Fehlverhalten einzusehen, sich zu entschuldigen und Besserung zu versprechen, gibt er ein flapsige Antwort. Passivrauchen gefährdet die Gesundheit? Das Leben selbst ist gefährlich.
Mir scheint dies, die Art des Vorwurfs und die Reaktion darauf das eigentlich Bemerkenswerte, auch wenn in der Darstellung von A. nicht ausdrücklich gesagt wird, worum es geht, wohl weil er ihm die Voraussetzungen, die er macht, so selbstverständlich sind, dass er sie nicht ohne weiteres explizieren könnte.
Im Grunde ist ja, wenn einem jemand Zigarettenrauch ins Gesicht bläst, keine Berufung auf irgendwelche medizinische Fakten erforderlich. Es gehört sich einfach nicht, andere auf diese Weise zu belästigen. Man rülpst und furzt ja anderen auch nicht ins Gesicht. Ob die Belästigung absichtlich geschieht oder zufällig, spielt keine Rolle. Tritt man jemandem in der Straßenbahn unabsichtlich auf den Fuß, entschuldigt man sich ja auch. So weit, so herkömmlich.
Dass die Neo-Amerikaner (also A. und vermutlich seine Frau, vielleicht auch die Kinder, genauer wird das von A. erwähnte Wir ja nicht erklärt), dass also die sich besonders amerikanisch gebenden Neo-Amerikaner sich nicht auf die Regeln guten Benehmens berufen, sondern auf die Gefahr für ihre Gesundheit aufmerksam machen, ist allerdings, so meine ich, charakteristisch. Gewiss ist Passivrauchen gesundheitsschädlich, aber man wird schon fragen dürfen, wie lange man im Freien bei Wind und Wetter in einem Sessellift neben einem Kettenraucher sitzen müsste, bis wirklich eine merkbare gesundheitliche Beeinträchtigung einträte …
Der rüpelhafte Raucher hat sich danebenbenommen, keine Frage, aber er dürfte wohl niemand anderes Gesundheit gefährdet haben, bloß seine eigene. Warum also dieses Argumentieren mit „second-hand smoke is bad“? Weil das Teil des herrschenden Diskurses ist. Es geht aus dessen Sicht nicht darum, dass jemand mit seinem Rauchverhalten andere belästigt, es geht darum, dass Rauchen selbst ein Fehlverhalten ist. So wird bekanntlich argumentiert, seit vor Jahren die Anti-Rauch-Bewegung in den USA aufkam, die vor einiger Zeit auch nach Europa schwappte. Der Einzelne wird in die Pflicht genommen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten und das gesundheitsbewusste Verhalten anderer nicht zu stören. Wer davon abweicht, ist ein Übeltäter, den es zu disziplinieren gilt.
Entsprechend waren auch die Kommentare zu A.s kleiner Erzählung. Man führte Klage darüber, wie man selbst unter Zigarettenrauch leide, oder gab Hinweise, wie A. und die Seinen sich hätte zur Wehr setzen sollen: durch einen gezielte Gewaltanwendung etwa (wenn einer aus dem Lift fällt, kann er sich nicht beschweren, wenn er doch das Leben für gefährlich hält) oder wenigstens durch Herbeizitieren des Liftbetreibers, der gefälligst für anständiges Verhalten unter seinen zahlenden Kunden zu sorgen habe. (Denn immerhin ist, das zeigt auch ein von A. beigebrachtes Lichtbild, das Rauchen im Lift verboten.) Nun, da vermutlich die Einschaltung der örtlichen Polizei wenig bringen würde und eine private Handfeuerwaffe vielleicht gerade nicht zur Hand war, wäre auch noch der Einsatz von Marineinfanterie zu erwägen gewesen … (Einer freilich, vielleicht ein Alt-Europäer sagte, er sei selbst Raucher und frage Leute in seiner Nähe immer, ob es ihnen etwas ausmache, bevor er sich eine Zigarette anzünde, wenn er aber geschulmeistert würde, würde er sich auch aufregen!)
Only in Europe …? Wenn dem so ist, macht es mir das gute, alte Europa sehr sympathisch. Denn ich selbst bin zwar von Geburt an Nichtraucher und in den letzten 46 Jahren unzählige Male gegen meinen Willen zum Passivrauchen gezwungen worden, weshalb es mir also völlig fernliegt, das rücksichtslose Verhalten von Nikotinsüchtigen zu verharmlosen oder gar zu verteidigen, aber es stört mich vor allem deshalb, weil es eine starke olfaktorische Belästigung ist — wie auch unappetitlicher Körpergeruch, Fastfoodgestank in öffentlichen Verkehrsmitteln oder penetrantes Parfüm im Theater. Ob Raucher ihre Gesundheit gefährden, ist hingegen ihre Sache, nicht meine oder die des Staates bzw. der „Gesellschaft“. Dieser pseudomedizinische Diskurs, wo es eigentlich bloß um Fragen der Höflichkeit geht, widert mich an. Er macht aus einer Frage der Umgangsformen eine Problematisierung von Verhaltensabweichung und aus dieser womöglich gar ein Delikt.
Typisch europäisch? Typisch amerikanisch? Einer kommentierte A.s Erzählung und die übrigen Kommentare so: „… and that’s exactly why I want to stay in the US“. Diese Einstellung halte ich für vorbildlich. Einfach daheim bleiben, dann erspart man sich als Amerikaner den Kontakt mit diesen europäischen Barbaren, die den aktuellen Stand der Disziplinierung noch nicht erreicht haben.
Der Titel dieser Glosse spielt an auf Mark Twains Reisebericht „The Innocents Abroad“ aus dem Jahr 1869 (als „Die Arglosen im Ausland“ ins Deutsche übersetzt) .
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