Sonntag, 22. November 2020

Nachschlag zu „Teuflischer Unsinn“

Einer schreibt mir „Der Glaube an die planvolle, zielgerichtete Veränderung und Umgestaltung der Welt, nach den Wünschen und Vorstellungen des Menschen, ist erschüttert. Die Postmoderne offenbart die Grenzen des menschlichen Denkens und Handelns. Die globalisierte Welt erscheint als ganzheitlicher Zusammenhang, der dem Mythos der menschlichen Veränderungsgewalt mit schleichenden und ungeplanten Nebenfolgen trotzt. (…) Scheißegal, was du machst, ob es zum Guten oder Schlechten gereicht, ist nicht von deinen Absichten und Handlungen, sondern von den unplanbaren Nebenfolgen und Handlungen anderer abhängig. Wir können lediglich die Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter Ereignisse etwas beeinflussen. Es kann ganz schön sein, sich mit diesem Wissen nicht allein zu fühlen …“
 
Woher kommt diese Idee der Planbarkeit (des Ganzen)? Ist das nicht typisch neuzeitliche Hybris? Die Vorstellung, das eigene Tun und Lassen sei, wenn man es nur richtig kalkuliere, ein kleiner Beitrag, eine Rädchenbewegung in einer Maschinerie, die am Ende das allgemeine Glück fabriziere, ist schon absurd, oder? Muss der Anspruch, sozusagen als Individuum stellvertretend für die Totalität zu handeln, nicht notwendig scheitern? Zum einen, weil diese Totalität so, nämlich als erfassbare, steuerbare, gar nicht existiert, zum anderen weil es, selbst wenn sie existierte, gar nicht möglich wäre, sie mit den begrenzten menschlichen Mitteln zu erfassen und zu steuern, zumal höchstwahrscheinlich gar nicht alle Faktoren bekannt sind, also immer unerwartete und unerwartbare Nebenwirkungen auftreten werden.
Den Machbarkeitsanspruch in Frage zu stellen, mag „postmodern“ sein. (Obwohl ich mit diesem undeutlichen Begriff nicht den Ausdruck „ganzheitlicher Zusammenhang“ verbinden würde, eher das Gegenteil: das Ende der Großen Erzählungen und die Achtsamkeit fürs Partikulare.) Es ist zumindest nicht-modern. Die Menschen früherer (und anderer) Zeiten und Kulturen dachten, soweit man weiß, nicht, sie könnten (individuell oder kollektiv) irgendwann alles im Griff haben. Die Bescheidung mit der eigenen Endlichkeit ist aber etwas ganz anderes als die Haltung_ Ach, ich kann ohnehin nichts tun, weil ich nicht weiß, was dabei herauskommen wird. Damit verbleibt man vielmehr im modernen Rahmen: Entweder alles ist planbar oder alles ist sinnlos. Nein!
Dabei ist es sogar ziemlich egal, ob man (wie die erwähnten Außermodernen) annimmt, dass eine höhere Ordnung über die Geschicke entscheidet. Egal, ob man glaubt, dass sich letztlich alles zu einem ― nicht menschengemachten, sondern göttlich bewirkten - Guten fügt, bleibt richtig richtig und falsch falsch.
Es ist und bleibt richtig, einem Hungernden zu essen zu geben, auch wenn ihn später der Blitz trifft oder er an Leberzirrhose stirbt oder vom Bus überfahren wird. Es ist und bleibt wohl auch richtig, Blitzableiter zu montieren, Krankheiten zu diagnostizieren und zu therapieren und auf die Einhaltung von Verkehrsregeln zu achten., auch wenn es letztlich weder individuell gelingt, alle Unwetterschäden abzuwenden, alle Krankheiten zu erkennen und zu heilen oder menschliches Verhalten so konditionieren, dass jeder brav reguliert ist. (Vielleicht wird jemand vom schlecht montierten Blitzableiter erschlagen, stirbt an Nebenwirkungen einer Impfung oder fällt vom Rad, als er aufs Auto verzichtet, Kann alles sein. Zwischen Folgen zu unterscheiden, die man im Voraus bedenken kann, und solchen, auf die man keinen Einfluss hat, ist klug.)
Ethik ist also möglich. Etwa auf Grundlage der Goldenen Regel: Jeden zu behandeln, wie man an seiner Stelle selbst behandelt werden wollen würde.
Und es ist sogar möglich, scheint mir, zumindest eine ― ich nenn es mal: begründete Intuition zu haben, was den Wert oder Unwert des Agierens gewisser Zusammenhänge betrifft, innerhalb derer Menschen leben müssen. Die Weltwirtschaftordnung etwa, auf deren Durchsetzung und Erhaltung sich die Nationalstaaten verpflichtet wissen, produziert sie im Großen und Ganzen nicht vor allem Unrecht und Unfreiheit, Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung? Werden durch dieses System (das ein Funktionszusammenhang ist, keine Verschwörung) nicht Reiche reicher und alle anderen in Schach gehalten (zum sehr kleinen Teil auch mit Wohlstand und sozialer Sicherheit beglückt, wovon aber die globalen Massen nur träumen können)? Ist es nicht auch hier klar, was richtig und was falsch ist? Profitmaximierung pfui, Regenwaldabholzung pfui, Unterschichtenfernsehen pfui. Bedingungsloses Grundeinkommen hui, nachhaltiges Wirtschaften hui, selbstbestimmte Bildung hui.
Und dann, auch das sei erwähnt, wenn dieselben Lemuren, die sonst alles tun, um den Globalen Kapitalismus am Laufen (und über Leichen Gehen) zu halten, plötzlich vor lauter Sorge um Alte und Kranke, ja um die ganze Bevölkerung den pandemischen GAU (größten anzunehmenden Unsinn) proklamieren und eine Gängelungs- und Schädigungsmaßnhame nach der anderen unter Hintanstellung der sonst ach so kostbaren verfassungsmäßig gewährten Grundrechte anordnen und durchsetzen, sollte also, wenn das übliche Gesindel plötzlich zu Fürsorglichkeitsexperten mutiert, nicht sogar all denen, die angeblich nicht wissen, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist, der Verdacht kommen, dass da etwas nicht stimmen kann? Gewiss, wer schon bisher den Staat für einen guten Onkel gehalten hat (wir leben schließlich in einer Demokratie, hurrah!), dem kann man alles aufschwatzen. Und den autoritären Linken, die heimlich-unheimlich vom bösen Onkel träumen, der ihre Ressentiments rächt, sowieso. Aber gesellschaftskritisches Denken und neugewonnener Coronakrisengehorsam stimmen für mich nicht zusammen.
Also, das gemeinsame Wissen, dass nicht alles und nicht das Ganze planbar ist, weder vom Individuum noch vom Kollektiv noch von irgendwelchen Technokraten, ist gewiss eine gute Sache. Die behagliche Freude am selbstverschuldeten gemeinsamen Unwissen nicht.
Richtiges Handeln ist auch in Zeiten der Nebelwerfer und Verdunkler möglich (und damit per definitionem verpflichtend). Kritik ist möglich, ja sogar Gegenentwürfe zum Bestehenden sind möglich. Alles andere spielt der Pandämonie in die Hände.

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