Dienstag, 23. Februar 2016

„Staatsversagen“

Nochmals: „Staatsversagen“ impliziert, dass der Staat eigentlich gut ist, dass er sich um das Wohlergehen seiner Bürger sorgt, dass Gerechtigkeit sein Anliegen ist, dass er für die Menschen da ist. Wie kommt man auf sowas? Wessen Erfahrungen entspricht das? Sicher, es gibt zum Beispiel den „Sozialstaat“. Doch ganz abgesehen davon, dass ich mich an keine Zeit erinnern kann, in der dieser nicht in Frage gestellt und Sozialabbau gefordert und betrieben wurde: Der Staat als „sozialer“ mindert nur den Druck von Problemen, die es ohne ihn, ohne seine Dienste für eine bestimmte Wirtschaftsordnung gar nicht gäbe. Wäre nicht durch das Privateigentum an Produktionsmitteln im Voraus alles ungerecht verteilt, müsste nachher nichts „umverteilt“ werden. Oder beispielsweise der Sicherheitsstaat: Ja, es ist angenehm, nachts unbehelligt durch wohlbeleuchtet Straßen gehen zu können, weil alle Mitbürger sich an die Gesetze halten - und wenn doch mal was passiert, kann man die Polizei rufen oder wenigstens mit ihr drohen. Aber das sind Nebeneffekte. Die Polizei sichert nur dann und dort die Ordnung, wo anderes den Betrieb störte. Wenn es dem Staat passt, überlässt er Stadtteile und Landstriche sich selbst. Wenn es ihm passt, ignorierte er von Gesetzes wegen die Gesetze, die er selbst gemacht hat. Wenn es ihm passt, ist jeder Bürger ein potenzieller Verbrecher und wird entsprechend behandelt. Wenn es ihm passt, bringt der Staat seine Bürger auch schon mal um. „Der Staat sind wir alle.“ Dass ich nicht lache! Wie kommt man auf sowas? In welch privilegierter (und unreflektierter) Lage muss man sich befinden, um das glauben zu wollen und zu können?
Wer den Staat als Gemeinschaft von gleichberechtigten Bürgern imaginiert, ist der gewöhnlichen Indoktrination auf den Leim gegangen. Wer kann im Ernst annehmen, der Manager eines börsennotierten Unternehmens und ein Obdachloser seien irgendwie „gleichberechtigt“? Sicherlich, beide unterstehen denselben Gesetz. Aber gilt das Gesetz denn tatsächlich für beide in gleicher Weise? Haben beide dieselben Möglichkeiten, ihre Rechte wahrzunehmen und ihren Pflichten nachzukommen? Offensichtlich nicht. In der Theorie ist die Demokratie eine tolle Sache, aber ihre Praxis sieht anders aus und das ist das Entscheidende. Oder will irgendjemand behaupten, die gesellschaftlich Benachteiligten hätten ja alle ihre Chance gehabt, es sei jedoch irgendwann darüber abgestimmt worden, ob die Reichen immer reicher werden und die Armen in Schach gehalten werden sollen — und die breite Mittelschicht, die voller Neid nach oben buckelt und ohne Mitleid nach unten tritt, habe eben entschieden, das alles so sein solle, wie es ist? Wer sagt überhaupt, dass eine Mehrheit über Minderheiten bestimmen darf? Das ist doch offensichtlich bloß eine gewaltlose Formalisierung des absurden „Rechts des Stärkeren“. Konsequenterweise werden darum Wahlen (die bekanntlich verboten wären, wenn sie etwas ändern könnten) gern wie Sportereignisse dargestellt, bei denen die einen gewinnen, die anderen verlieren, aber dabei sein alles ist. Es geht ja um nichts. Wie auch, solange die eigentlichen Probleme und die offensichtlichen Lösungen nicht zur Debatte stehen.
Selbstverständlich zögere ich keinen Augenblick, ehrlich zuzugeben, dass ich lieber in einem demokratischen Rechtsstaat lebe als in einer Diktatur, in der Willkür und Gewalt herrschen. Aber ich will ja auch nicht weniger als den Nationalstaat, weniger als Demokratie, weniger als Recht und Ordnung und Sicherheit, sondern mehr. Mehr ist möglich. Derzeit sind Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen kleine Oasen in einer großen Wüste der Unfreiheit, des Unrechts, der Unwissenheit und des Elends. Ich will aber, dass das Gute, Wahre und Schöne kein Privileg ist, sondern Allgemeingut. Das ist denkbar, das ist machbar. Mag sein, dass die materiellen Güter nicht beliebig verfügbar sind, und es darum der vernünftigen Beschränkung bedarf, damit alle genug haben. Aber Gerechtigkeit, Wissen, Freude, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe werden nicht weniger, wenn sie nicht nur einigen wenigen vorbehalten sind, sondern jedem zuteilwerden.
Dem steht der real existierenden Staat im Wege. Seine Funktion ist es, Privilegien zu verteidigen. Wenn er es also zulässt und fördert, dass gesellschaftliche Konflikte nicht gelöst werden, sondern so ausagiert, dass die Leute affektiv ausgelastet sind und sich nicht mit ihren wirklichen Problemen befassen, dann ist das kein „Staatsversagen“, sondern Pflichterfüllung. Gerade durch das zuweilen geradezu ordnungswidrige Ausleben ihrer Ressentiments werden die Menschen zu Komplizen des Systems. Denn das lebt von ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrem Hass, ihrer Gier, ihrem Neid. Gewiss, es profitiert auch von Kreativität, Fürsorglichkeit und Offenheit. Doch wer Gutes will, könnte es auch am Staat vorbei wollen; wer hingegen Böses will, macht sich unweigerlich zum Gegenstück des Staates, imitiert den Staat, indem er zum Beispiel (verbale oder physische) Gewalt im Namen eines angemaßten Rechtes ausübt. Raub und Steuern, Mord und Todesstrafe sind nicht dasselbe, aber Variationen der Herrschaft von Menschen über Menschen.
Dass der Staat nicht der ist, für den man ihn gern ausgibt, der gute Onkel, der gern besser wäre, aber halt manchmal Fehler macht, scheint mir offensichtlich. Die Abweichungen vom Ideal sind keine Versehen, kein Versagen, sondern die eigentliche Norm, das eigentliche Funktionieren. Der Staat ist nicht ein nur eingeschränkt taugliches Mittel zu einem an sich richtigen Zweck, sondern die Zwecke sind falsch und darum sind es auch die Mittel. Ziel des Zusammenlebens von Menschen darf es nicht sein, dass es einigen dadurch gut geht, dass es anderen schlecht geht, dass Menschen von Menschen beherrscht werden. Jeder muss frei sein, damit alle frei sind. Mit dem Staat aber ist das nicht zu machen.

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