Sonntag, 28. Februar 2016

Das Ereignis von Kiel

In Kiel, so wird berichtet, seien drei Mädchen in einem Einkaufszentrum stundenlang von erst zwei, dann zwei Dutzend, dann „knapp 30“ Männern (einem „Männer-Mob“) belästigt worden. Es kam zu vier Festnahmen durch die schließlich herbeigerufene Polizei, aber alle Verdächtigten sind bereits wieder auf freiem Fuß. Warum die Mädchen sich die Belästigung über einen so langen Zeitraum gefallen ließen und auch sonst niemand eingriff, wird nicht berichtet. Zwischen den Mädchen und den Männern gab es übrigens keinen physischen Kontakt, diese haben jene anscheinend nur (wohl gegen deren Willen) gefilmt und photographiert. Näheres soll die Auswertung der Überwachungskameras und privater Handys ergeben …
Was ich mich jetzt naturgemäß frage: Was zum Teufel kann an den Mädchen so sehenswert gewesen sein?
Aber niemand kann mir diese Frage beantworten. Niemand will es. Niemand darf es. Besonders nicht, wer über das Ereignis berichtet. Doch wer nicht bei dem Ereignis dabei war — und wer war das schon? —, muss sich eben an die Berichte halten, die die Medien ihm bieten. Tatsächlich aber sind diese Berichte voller Ungereimtheiten und Lücken, sie sagen immer zu wenig oder zu viel.
Berichtet wird nicht, wie man sich den Ablauf der „Attacke“ im Detail vorzustellen hat. Irgendwie muss es ja begonnen haben. Was genau an den drei Mädchen erregte die Aufmerksamkeit der drei Männer, die dann „knapp dreißig“ herbeilockten? Wie vollzog sich die Verfolgung? Gingen die Mädchen stundenlang von Geschäft zu Geschäft und die Männer folgten ihnen? In welchem Abstand? Oder befanden sie sich die Mädchen die ganze Zeit über an einer bestimmten Stelle? Gab es in dem Einkaufszentrum keine anderen Kunden, denen etwas hätte auffallen müssen? Warum griffen keine Angestellten ein? Gab es keinen Sicherheitsdienst, der gerufen werde konnte oder, durch Überwachungskameras informiert, von selbst kam?
Berichtet wird, dass es sich bei den filmenden und photographierenden beiden Männern um Afghanen gehandelt habe. Also um Herkunftsmenschen*. Mehr erfährt man über sie nicht. (Auch nicht über die anderen beiden Festgenommenen, schon gar nicht über die „zwei Dutzendweiteren.)
Während also über die Opfer nichts berichtet wird, als dass es Mädchen waren, wird bei den Tätern außer dem Geschlecht auch die Herkunft erwähnt und natürlich die Tat selbst. Das ist nur folgerichtig, wenn man der herrschenden Doktrin folgt, dass nie und nimmer irgendetwas, was Frauen tun, ein Fehlverhalten von Männern auslöst. Dieses Fehlverhalten ist vielmehr bereits durch das Mannsein selbst vollständig bedingt, das aber einer je verschiedenen, durch die Herkunftsangabe markierten Prägung unterliegt. Während also die Mädchen ausschließlich als passiv, als unweigerliche Opfer gedacht werden dürfen — alles andere müsste der Doktrin zufolge ja bedeuten, dass sie „selbst schuld“ seien, und das ist undenkbar —, sind es ausschließlich Männer, die handeln.
Auf diese Weise verstellen die Berichte das vermeintliche Ereignis mehr als es darzustellen. In relativer Unabhängigkeit von dem, was tatsächlich war, entsteht so ein Ereignis eigener Art, ein zugleich „unvorstellbares“ und immer schon vorgestelltes: Herkunftsmäßig unmarkierte, also im Zweifelsfall „deutsche“ Mädchen werden von Männern mit Herkunft belästigt, also angegriffen. Das war zu befürchten. Jetzt ist es endlich eingetreten.
Die Motivation für das Handeln der Männer liegt in ihrer fremdländischen Männlichkeit — das ist die eigentliche Nachricht. Die Frage, warum gerade diese drei Mädchen zu Objekten des photographischen Interesses (lies: [hetero-]sexuellen Begehrens) wurden, stellt sich nicht. Wie gesagt, löst nichts an einer Frau männliches Fehlverhalten aus. Darum kann jede Frau jederzeit Opfer von Männlichkeit, insbesondere von durch falsche kulturelle Prägung nicht gezähmter Männlichkeit werden. Sie kann nichts dagegen tun. Denn so, wie ihr Verhalten das Fehlverhalten nicht auslöst, kann ihr Verhalten es auch nicht beenden. Frauen sind per definitionem wehrlos. Jede Form der Selbstverteidigung (oder schon des Versuchs, sich nicht in bestimmten Situationen wiederzufinden oder sich diesen zu entziehen) befände sich auf der Ebene des Handelns, die aber Männern vorbehalten ist, und widerspräche dem reinen Opferstatus.
Das alles klingt, so formuliert, nach hanebüchenem, frauenfeindlichem Unsinn. Ist aber doch nichts anderes als die auf den Punkt gebrachte Logik der Berichterstattung. Das muss einem nicht gefallen, und mir gefällt es auch nicht, aber die Alternative kann ja wohl nicht im Ignorieren jener Logik bestehen. Sie muss im Gegenteil gerade dann aufgezeigt werden, wenn sie einem missfällt. Alles andere wäre Zustimmung (und sei es durch Unterlassung von Kritik). Wenn man also die Berichte über gewisse Ereignisse nicht einfach hinnehmen und das Berichtete als Tatsache weitergeben will, muss man vor allem fragen, was die Berichterstattung bewirkt und bewirken soll.
Es geht dabei selbstverständlich nicht darum, etwas zu leugnen, was passiert ist, oder irgendein Fehlverhalten zu rechtfertigen. Es geht darum, die Fabrikation von Faktizität selbst in den Blick zu bekommen, weil sonst womöglich das, was als Gegenstand einer Beurteilung dargeboten wird, lediglich Effekt eines immer schon gefällten Urteils ist.
Solche „Berichte“ über solche „Ereignisse“ bestätigen, wenn man genauer hinsieht, immer nur, was man schon vorher wusste. Sie verleihen Ressentiments und Vorurteilen den Anschein der Bestätigung durch Fakten. Aber bloß deshalb, weil ihre Erzählung festgelegten Mustern folgt, die die fraglose Notwendigkeit dieser Fakten voraussetzen. Wirklich erstaunlich ist am Ereignis solcher Berichte eigentlich nur, dass niemand dagegen aufbegehrt. Ganz offensichtlich wird damit ein Bedürfnis befriedigt. Muss das sein? Muss es so bleiben? 


*Als „Menschen mit Herkunft“ oder kurz „Herkunftsmenschen“ bezeichne ich Personen, bei deren Erwähnung im öffentlichen Diskurs ihre Herkunft, ihre Abstammung, ihr „Migrationshintergrund“, ihre Staatsbürgerschaft oder ihr Aufenthaltsstatus unbedingt angegeben werden müssen. Die drei Mädchen in den hier erörterten Berichten sind offensichtlich keine Herkunftsmenschen.

 * * *

NACHTRAG: Inzwischen wird berichtet, dass in Folge der Berichterstattung über den Vorfall sich weitere Frauen gemeldet hätten, die erzählen, ebenfalls Opfer von Übergriffen gewesen zu sein. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Berichte über Ereignisse diese hervorbringen. Womit ich nicht sagen will, es habe die Übergriffe nicht gegeben, denn das kann ich mangels Wissens nicht beurteilen; was ich aber feststellen kann, ist dass der öffentliche Diskurs bestimmten Regeln folgt, zu denen gehört, dass bestimmte Berichte über bestimmte Ereignisse die Bereitschaft stimulieren, über das eigene Opfersein zu sprechen, und dass besagter Diskurs Effekte hat, die beispielsweise offenkundig rassistisch und sexistisch sind: Bestimmte Beschreibung funktionieren nur, weil die vorgenommenen Zuschreibungen des Geschlechts (hier: Männer) und der Herkunft (hier: Afghanen) bestimmte Handlungen erwarten lassen.

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