X. erzählte mir unlängst, er habe von meinem Roman „Romans Erzählungen“ nur etwa siebzig Seiten gelesen und dann die Lektüre abgebrochen. Als Grund gab er an, er habe beim Lesen den Text immer mit meiner Stimme gehört, davon habe er sich nicht freimachen können, er habe aber nun einmal keine Lust, die sexuellen Phantasien seiner Freunde und Bekannten zu lesen.
Selbstverständlich kann man eine solche Einstellung wie die von X. banausisch, gar idiotisch finden (also unkünstlerisch und laienhaft), und sie ist es auch, doch das ändert nichts daran, dass sie nun einmal besteht und eine Lektüre verständlicherweise unangenehm und letztlich unmöglich macht. Und da ich mich als Autor für die Rezeption meiner Texte durchaus interessiere, muss ich mich auch mit einer ― aus meiner Sicht ― recht eigenartig begründeten Ablehnung befassen. Ich bin ja geradezu dankbar, wenn man mir sagt, warum man „Romans Erzählungen“ nicht liest (oder nur ungern gelesen hat). Allzu oft merke ich nur, das man schweigt.
Ehrlich gesagt, ich hatte eine solche Haltung wie die von X. gegenüber meinem Roman, als ich ihn schrieb, nicht vorhergesehen. Gewiss, er ist als Herausforderung angelegt und verlangt den Lesern und Leserinnen einiges ab, vor allem den Verzicht auf Identifikation und genüsslich konsumierbare Realitätssimulationen. Ausdrücklich wird im Roman der Wunsch zurückgewiesen, sich als Leser mit einer Figur mehr oder minder gleichzusetzen, sich in sie und ihre Erlebnisse einzufühlen und es sich in einer Scheinwelt gemütlich zu machen. Dass aber für einen Leser die Identifikation des Autors Stefan Broniowski mit den diversen „ich“ des Textes im Vordergrund stehen könnte (und womöglich auch mit manchen „er“ sowie irgendwie bezeichneten und benannten Figuren), daran hätte ich nie gedacht.
Wer liest denn so? Gewiss, jeder, den das überhaupt interessiert, weiß, dass Thomas Mann in den „Tod in Venedig“ auch persönliche Erfahrungen hat einfließen lassen. Aber deswegen ist Gustav von Aschenbach doch nicht einfach Thomas Mann, so wenig wie Thomas Buddenbrook, Adrian Leverkühn oder Felix Krull. Nicht einmal der „Marcel“ der „Recherche“ ist schlechterdings identisch mit deren Autor Marcel Proust. Solche platt biographisierende Lesart mag es geben, aber sie sind doch absurd! Wozu Literatur, wenn sie nur Verkleidung der Erlebnisse und Phantasien des Autors ist? Es wäre doch ein ziemlich bescheuertes Hobby, als Schreibender das eigene Leben zu verschlüsseln und als Lesender ein fremdes, einen eigentlich gar nichts angehendes zu entschlüsseln. Was bitte schön hätte das mit Kunst zu tun? Oder ist die Literaturgeschichte etwa bloß ein lange Reihe von verkappten Autobiographien? Spricht in all den Texten, egal, wer ausdrücklich zu Wort kommt, immer nur der Autor über sich? Und die „Odyssee“ und der „Don Quijote“? Nun, da die meisten heutigen Leser weder Homer noch Cervantes persönlich gekannt haben dürften, sind sie zum Glück davor bewahrt, die Texte „mit der Stimme“ des jeweiligen Autors hören zu müssen …
Doch selbst wenn ich meinen Roman als Hörbuch eingelesen und verbreitet hätte: Wie kommt man auf die Idee, es gehe darin um mich? Zumal der Text sich doch lang und breit damit befasst, mit Figuration und Autorschaft (und Figurationen der Autorschaft) seine Spielchen zu treiben und sie vor den Augen der Lesenden zu kritisieren, zu relativieren und in bestimmter Weise sogar bedeutungslos zu machen.
Ja, ich, Stefan Broniowski, bin es, der „Romans Erzählungen“ geschrieben hat, und ja, in den Text sind auf verschiedene Weise gewiss auch irgendwelche privaten Dinge eingeflossen. Aber weder das eine noch das andere spielt für die Lesbarkeit des Romantextes eine Rolle. Aus meiner Sicht handelt es sich bei meinem Roman vielmehr um etwas Objektives, von mir völlig Losgelöstes, um eine komplex konstruierte Ansammlung sprachlicher Ereignisse, deren Bedeutung (oder Bedeutungslosigkeit) der Leser oder die Leserin sich erst erarbeiten muss, nämlich indem er oder sie den Sinn, den es für ihn oder sie haben soll, anhand des Vorgelegten erst herstellt, um dadurch etwas über sich selbst und sein oder ihr Verhältnis zu Sprache, Literatur, Realität usw. zu erfahren.
Durch das Gespräch mit X., dem ich für seine Offenheit sehr dankbar bin, musste ich also nun feststellen, dass dieses meine Sicht vielleicht nicht falsch, aber eben nur eine mögliche ist. Eine Formulierung Foucaults aufgreifend, könnte man sagen, der Roman kann statt als Monument auch als Dokument gelesen werden. Als Psychobiographie Stefan Broniowskis. Na, viel Spaß dabei! Wozu soll das gut sein? Wen interessiert das? Warum unter den verschiedenen möglichen Haltungen ausgerechnet diese völlig unbedeutende und, wie sich gezeigt hat, letztlich kontraproduktive einnehmen? Warum eine Lesart wählen, die einem keinen Genuss und keine Anregung verschafft, sondern nur Abneigung einflößt und unweigerlich zum Abbruch der Lektüre führt?
X. sagte, er konnte nicht anders, als den Text mit meiner Stimme zu hören. Mag ja sein, aber warum? Warum den Zufall, dass er mich kennt, nicht zum Anlass für freundlich voreingenommenes Interesse am Werk nehmen, sondern sich von der Zwangsvorstellung beherrschen lassen, hier werde ihm etwas aufgedrängt, was ihn nichts angehe. Literatur hat es oft mit Innenleben und Affekten und Begierden zu tun, warum werden diese zum unerträglichen Problem, wenn man zufällig den Autor kennt, und bleiben als Elemente eines autonomen Textes lesbar, wenn man den Autor zufällig nicht kennt? Nicht etwa, wie der Text geschrieben ist, hat X. seinem Bekunden nach gestört (aber vielleicht hat er es bloß nicht erwähnt), sondern gewisse „Stellen“ darin waren ihm zu persönlich. Marquis de Sade also ja, Broniowski aber nein? (Zufällig weiß ich, dass X. Sade gelesen hat; wir taten das zur selben Zeit …)
Ein merkwürdiges Verhältnis zu Literatur. Zur Kunst überhaupt. Ich kann mir vielleicht noch vorstellen, dass X. ein Ölbild bedenklich findet, dass, sagen wir mal, eine gute Freundin von ihm nackt zeigt. Aber dass ein mit ihm befreundeter Maler Frauenakte malt oder, ein besserer Vergleich, Männerakte, die als Selbstporträts deutbar sind, das würde ihn stören? Bin ich zu harsch, wenn ich eine solche Einstellung (wie immer verständlich oder berechtigt sie sein mag) als Banausentum bezeichnen möchte?
X. sagte, er lese auch sonst nicht mehr viel, höchstens zwei, drei Bücher im Jahr. Das war früher anders, wie ich weiß. X. ist ein überdurchschnittlich gebildeter Mitteleuropäer, der sich lange Zeit für alles Möglich interessierte, auch Literatur und Philosophie; beim Philosophiestudium lernt wir einander ja auch vor über fünfunddreißig Jahren kennen. Heute, sagt X., habe er an all dem „Intellektuellem“ keinerlei Interesse mehr. Die Philosophie liege heute weit hinter ihm. Sie bedeute ihm nichts mehr. Und Literatur sei ihm nie so wichtig gewesen (obwohl ich weiß, dass es eine Handvoll Autoren gab, von denen er „alles“ gelesen hatte).
Meinen Roman hatte er also nur zu Hand genommen, weil es eben mein Roman ist. Ehrlich gesagt, ich hatte das von noch viel mehr Menschen, die mich kennen, erwartet: dass die bloße Nachricht, ich hätte einen Roman veröffentlicht, in ihnen den dringenden Wunsch wecken würde, ihn recht bald zu lesen. Das war allerdings dann so überhaupt nicht der Fall. Sogar einige von denen, den ich ein Exemplar geschenkt hatte, hüllten sich in Schweigen oder teilten nach vielen Monaten auf Nachfrage mit, sie seien noch nicht zum Lesen gekommen oder noch lange nicht damit fertig …
Wie auch immer. Ich bin in solchen Fällen ― und es gibt erfreulicherweise auch ganz andere! ― weder beleidigt oder gekränkt, sondern nur verwundert. Mir selbst geht es da nämlich anders. Wann immer ich erfahre, dass jemand, den ich kenne und schätze, etwas Neues geschrieben hat, besorge ich es mir und lese es. (Es wäre denn ein Krimi.) Vielleicht „höre“ ich den Betreffende dann auch beim Lesen und beziehe Textpassagen auf das Wissen, das ich über ihn zu haben meine. Nur hat das keinen Einfluss darauf, ob mir der Text gefällt oder nicht, ob ich ihm etwas abgewinnen kann oder nicht, und was ich von dem Werk insgesamt halte. Zumindest ist das die Einstellung, die ich haben will; und wenn ich entdeckte, dass es anders wäre, versuchte ich, etwas daran zu ändern. Man ist doch als Leser nicht der Sklave seiner Erwartungen und Vorannahmen! Man ist vielmehr gebildet und wahrt kritisch-ironische Distanz.
X. jedenfalls hat sich entschieden, nach nicht einmal einem Sechstel des Romans nicht mehr weiterzulesen. Ausdrücklich genannt hat er als Grund die „sexuellen Phantasien“, die er nicht lesen wolle (weil er sie für meine hält). Von den intellektuellen Spielereien, mit denen der Text gespickt ist, und die X. als Ex-Philosophen und Ex-Intellektuellen doch auch zuwider sein müssten, war, warum auch immer, in unserem Gespräch keine Rede. Darum will ich hier über die zur Rede stehenden Textabschnitte noch ein paar grundsätzliche Dinge sagen.
Selbstverständlich handelt es sich bei den Darstellungen sexueller Handlungen, die den Text durchsetzen, keineswegs um meine privaten sexuellen Phantasien. Und selbst wenn sie derlei wären: Es ist vollkommen belanglos, woher ich den Stoff bezogen habe, diese Passagen sind literarische Konstrukte wie alle anderen Passagen des Romans auch. Sie sind bewusst weder pornographisch noch „erotisch“ gestaltet, sondern in ihrer sprachlichen Einfachheit und Gleichförmigkeit, in ihrer Knappheit und Wiederholbarkeit im Grunde nur Belege für Foucaults berühmten Satz: „Sex ist langweilig.“
Aber selbstverständlich haben sie noch eine andere Funktion als die zu langweilen: Sie sollen offensichtlich provozieren. Als explizite Darstellungen von Sexualakten von Männern mit Männern stellen sie den Leser und die Leserin, und zwar relativ unabhängig von der jeweiligen sexuellen Orientierung, auf den Prüfstand: Was macht das mit dir? Was löst es aus: Scham, Ekel, Langeweile? Oder doch Geilheit? Sex ist etwas, darf man annehmen, was im Leben vieler eine grolle Rolle spielt. Und irgendwo treibt es dauernd ein Mann mit einem anderen (oder triebe es gern). Trotzdem wird dieser Teil der sozialen Realität zumeist weder literarisch noch sonstwie repräsentiert. Er bleibt marginal und exzeptionell (oder ins Pornographische verbannt).
Auch die aufgeklärte, tolerante, queerfreundliche Gesellschaft hält schwulen Sex nach wie vor auf Abstand. Kulturell dominant sind die Repräsentationen heterosexuellen Begehrens. Darum käme niemand auf die Idee, einen Roman, in dem Männer mir Frauen, Frauen mit Männern Sex haben, als „heterosexuelle Literatur“ zu bezeichnen. Was aber, wenn es im Text Männer mit Männern treiben? (Vgl. S. 309 ff.)
Wenn also ein Leser sich von den „Sex-Szenen“ meines Romans „Romans Erzählungen“ herausgefordert fühlt und ihretwegen die Lektüre abbricht (obwohl er doch einfach über sie hinweglesen könnte, der Text besteht ja zu mehr als 85% aus anderem), so ist er an der bewusst eingebauten Herausforderung gescheitert. Und ich würde ihm raten, sich zu fragen, warum eigentlich ― statt sich bequem darauf zurückzuziehen, er wolle sowas halt nicht lesen.
Wohlgemerkt, jeder Leser, jede Leserin hat das Recht, meinen Roman „Romans Erzählungen“ schlecht zu finden, bescheuert, lächerlich, wichtigtuerisch, manieriert, verfehlt, geschmacklos, aufdringlich usw. usf. Aber er ist, so meine ich, auf jeden Fall eines: ein Angebot, über das man nachdenken kann. Warum gefällt einem daran dieses, aber jenes nicht? Was soll das alles? Welche Erwartungen hat man und was folgt daraus, wenn sie nicht erfüllt werden? Wie geht man mit Herausforderungen um, mit Überraschungen, mit Langeweile, mit Überforderung?
Wie X. mit „Romans Erzählungen“ umgegangen ist, weiß ich ja nun, zumindest in groben Zügen. Hoffentlich hält dieser Blog-Text hier niemanden davon ab, mir seinerseits zu berichten, wie es ihm mit dem Roman ergangen ist. Ich schreibe doch nicht für mich. Schon gar nicht, um lediglich private Passionen auszuleben. Ich schreibe, um der anderen willen. ― Lest! Spürt! Ahnt! Lacht! Ärgert euch! Denkt nach! Denkt noch einmal nach! Ändert euer Leben!
Selbstverständlich kann man eine solche Einstellung wie die von X. banausisch, gar idiotisch finden (also unkünstlerisch und laienhaft), und sie ist es auch, doch das ändert nichts daran, dass sie nun einmal besteht und eine Lektüre verständlicherweise unangenehm und letztlich unmöglich macht. Und da ich mich als Autor für die Rezeption meiner Texte durchaus interessiere, muss ich mich auch mit einer ― aus meiner Sicht ― recht eigenartig begründeten Ablehnung befassen. Ich bin ja geradezu dankbar, wenn man mir sagt, warum man „Romans Erzählungen“ nicht liest (oder nur ungern gelesen hat). Allzu oft merke ich nur, das man schweigt.
Ehrlich gesagt, ich hatte eine solche Haltung wie die von X. gegenüber meinem Roman, als ich ihn schrieb, nicht vorhergesehen. Gewiss, er ist als Herausforderung angelegt und verlangt den Lesern und Leserinnen einiges ab, vor allem den Verzicht auf Identifikation und genüsslich konsumierbare Realitätssimulationen. Ausdrücklich wird im Roman der Wunsch zurückgewiesen, sich als Leser mit einer Figur mehr oder minder gleichzusetzen, sich in sie und ihre Erlebnisse einzufühlen und es sich in einer Scheinwelt gemütlich zu machen. Dass aber für einen Leser die Identifikation des Autors Stefan Broniowski mit den diversen „ich“ des Textes im Vordergrund stehen könnte (und womöglich auch mit manchen „er“ sowie irgendwie bezeichneten und benannten Figuren), daran hätte ich nie gedacht.
Wer liest denn so? Gewiss, jeder, den das überhaupt interessiert, weiß, dass Thomas Mann in den „Tod in Venedig“ auch persönliche Erfahrungen hat einfließen lassen. Aber deswegen ist Gustav von Aschenbach doch nicht einfach Thomas Mann, so wenig wie Thomas Buddenbrook, Adrian Leverkühn oder Felix Krull. Nicht einmal der „Marcel“ der „Recherche“ ist schlechterdings identisch mit deren Autor Marcel Proust. Solche platt biographisierende Lesart mag es geben, aber sie sind doch absurd! Wozu Literatur, wenn sie nur Verkleidung der Erlebnisse und Phantasien des Autors ist? Es wäre doch ein ziemlich bescheuertes Hobby, als Schreibender das eigene Leben zu verschlüsseln und als Lesender ein fremdes, einen eigentlich gar nichts angehendes zu entschlüsseln. Was bitte schön hätte das mit Kunst zu tun? Oder ist die Literaturgeschichte etwa bloß ein lange Reihe von verkappten Autobiographien? Spricht in all den Texten, egal, wer ausdrücklich zu Wort kommt, immer nur der Autor über sich? Und die „Odyssee“ und der „Don Quijote“? Nun, da die meisten heutigen Leser weder Homer noch Cervantes persönlich gekannt haben dürften, sind sie zum Glück davor bewahrt, die Texte „mit der Stimme“ des jeweiligen Autors hören zu müssen …
Doch selbst wenn ich meinen Roman als Hörbuch eingelesen und verbreitet hätte: Wie kommt man auf die Idee, es gehe darin um mich? Zumal der Text sich doch lang und breit damit befasst, mit Figuration und Autorschaft (und Figurationen der Autorschaft) seine Spielchen zu treiben und sie vor den Augen der Lesenden zu kritisieren, zu relativieren und in bestimmter Weise sogar bedeutungslos zu machen.
Ja, ich, Stefan Broniowski, bin es, der „Romans Erzählungen“ geschrieben hat, und ja, in den Text sind auf verschiedene Weise gewiss auch irgendwelche privaten Dinge eingeflossen. Aber weder das eine noch das andere spielt für die Lesbarkeit des Romantextes eine Rolle. Aus meiner Sicht handelt es sich bei meinem Roman vielmehr um etwas Objektives, von mir völlig Losgelöstes, um eine komplex konstruierte Ansammlung sprachlicher Ereignisse, deren Bedeutung (oder Bedeutungslosigkeit) der Leser oder die Leserin sich erst erarbeiten muss, nämlich indem er oder sie den Sinn, den es für ihn oder sie haben soll, anhand des Vorgelegten erst herstellt, um dadurch etwas über sich selbst und sein oder ihr Verhältnis zu Sprache, Literatur, Realität usw. zu erfahren.
Durch das Gespräch mit X., dem ich für seine Offenheit sehr dankbar bin, musste ich also nun feststellen, dass dieses meine Sicht vielleicht nicht falsch, aber eben nur eine mögliche ist. Eine Formulierung Foucaults aufgreifend, könnte man sagen, der Roman kann statt als Monument auch als Dokument gelesen werden. Als Psychobiographie Stefan Broniowskis. Na, viel Spaß dabei! Wozu soll das gut sein? Wen interessiert das? Warum unter den verschiedenen möglichen Haltungen ausgerechnet diese völlig unbedeutende und, wie sich gezeigt hat, letztlich kontraproduktive einnehmen? Warum eine Lesart wählen, die einem keinen Genuss und keine Anregung verschafft, sondern nur Abneigung einflößt und unweigerlich zum Abbruch der Lektüre führt?
X. sagte, er konnte nicht anders, als den Text mit meiner Stimme zu hören. Mag ja sein, aber warum? Warum den Zufall, dass er mich kennt, nicht zum Anlass für freundlich voreingenommenes Interesse am Werk nehmen, sondern sich von der Zwangsvorstellung beherrschen lassen, hier werde ihm etwas aufgedrängt, was ihn nichts angehe. Literatur hat es oft mit Innenleben und Affekten und Begierden zu tun, warum werden diese zum unerträglichen Problem, wenn man zufällig den Autor kennt, und bleiben als Elemente eines autonomen Textes lesbar, wenn man den Autor zufällig nicht kennt? Nicht etwa, wie der Text geschrieben ist, hat X. seinem Bekunden nach gestört (aber vielleicht hat er es bloß nicht erwähnt), sondern gewisse „Stellen“ darin waren ihm zu persönlich. Marquis de Sade also ja, Broniowski aber nein? (Zufällig weiß ich, dass X. Sade gelesen hat; wir taten das zur selben Zeit …)
Ein merkwürdiges Verhältnis zu Literatur. Zur Kunst überhaupt. Ich kann mir vielleicht noch vorstellen, dass X. ein Ölbild bedenklich findet, dass, sagen wir mal, eine gute Freundin von ihm nackt zeigt. Aber dass ein mit ihm befreundeter Maler Frauenakte malt oder, ein besserer Vergleich, Männerakte, die als Selbstporträts deutbar sind, das würde ihn stören? Bin ich zu harsch, wenn ich eine solche Einstellung (wie immer verständlich oder berechtigt sie sein mag) als Banausentum bezeichnen möchte?
X. sagte, er lese auch sonst nicht mehr viel, höchstens zwei, drei Bücher im Jahr. Das war früher anders, wie ich weiß. X. ist ein überdurchschnittlich gebildeter Mitteleuropäer, der sich lange Zeit für alles Möglich interessierte, auch Literatur und Philosophie; beim Philosophiestudium lernt wir einander ja auch vor über fünfunddreißig Jahren kennen. Heute, sagt X., habe er an all dem „Intellektuellem“ keinerlei Interesse mehr. Die Philosophie liege heute weit hinter ihm. Sie bedeute ihm nichts mehr. Und Literatur sei ihm nie so wichtig gewesen (obwohl ich weiß, dass es eine Handvoll Autoren gab, von denen er „alles“ gelesen hatte).
Meinen Roman hatte er also nur zu Hand genommen, weil es eben mein Roman ist. Ehrlich gesagt, ich hatte das von noch viel mehr Menschen, die mich kennen, erwartet: dass die bloße Nachricht, ich hätte einen Roman veröffentlicht, in ihnen den dringenden Wunsch wecken würde, ihn recht bald zu lesen. Das war allerdings dann so überhaupt nicht der Fall. Sogar einige von denen, den ich ein Exemplar geschenkt hatte, hüllten sich in Schweigen oder teilten nach vielen Monaten auf Nachfrage mit, sie seien noch nicht zum Lesen gekommen oder noch lange nicht damit fertig …
Wie auch immer. Ich bin in solchen Fällen ― und es gibt erfreulicherweise auch ganz andere! ― weder beleidigt oder gekränkt, sondern nur verwundert. Mir selbst geht es da nämlich anders. Wann immer ich erfahre, dass jemand, den ich kenne und schätze, etwas Neues geschrieben hat, besorge ich es mir und lese es. (Es wäre denn ein Krimi.) Vielleicht „höre“ ich den Betreffende dann auch beim Lesen und beziehe Textpassagen auf das Wissen, das ich über ihn zu haben meine. Nur hat das keinen Einfluss darauf, ob mir der Text gefällt oder nicht, ob ich ihm etwas abgewinnen kann oder nicht, und was ich von dem Werk insgesamt halte. Zumindest ist das die Einstellung, die ich haben will; und wenn ich entdeckte, dass es anders wäre, versuchte ich, etwas daran zu ändern. Man ist doch als Leser nicht der Sklave seiner Erwartungen und Vorannahmen! Man ist vielmehr gebildet und wahrt kritisch-ironische Distanz.
X. jedenfalls hat sich entschieden, nach nicht einmal einem Sechstel des Romans nicht mehr weiterzulesen. Ausdrücklich genannt hat er als Grund die „sexuellen Phantasien“, die er nicht lesen wolle (weil er sie für meine hält). Von den intellektuellen Spielereien, mit denen der Text gespickt ist, und die X. als Ex-Philosophen und Ex-Intellektuellen doch auch zuwider sein müssten, war, warum auch immer, in unserem Gespräch keine Rede. Darum will ich hier über die zur Rede stehenden Textabschnitte noch ein paar grundsätzliche Dinge sagen.
Selbstverständlich handelt es sich bei den Darstellungen sexueller Handlungen, die den Text durchsetzen, keineswegs um meine privaten sexuellen Phantasien. Und selbst wenn sie derlei wären: Es ist vollkommen belanglos, woher ich den Stoff bezogen habe, diese Passagen sind literarische Konstrukte wie alle anderen Passagen des Romans auch. Sie sind bewusst weder pornographisch noch „erotisch“ gestaltet, sondern in ihrer sprachlichen Einfachheit und Gleichförmigkeit, in ihrer Knappheit und Wiederholbarkeit im Grunde nur Belege für Foucaults berühmten Satz: „Sex ist langweilig.“
Aber selbstverständlich haben sie noch eine andere Funktion als die zu langweilen: Sie sollen offensichtlich provozieren. Als explizite Darstellungen von Sexualakten von Männern mit Männern stellen sie den Leser und die Leserin, und zwar relativ unabhängig von der jeweiligen sexuellen Orientierung, auf den Prüfstand: Was macht das mit dir? Was löst es aus: Scham, Ekel, Langeweile? Oder doch Geilheit? Sex ist etwas, darf man annehmen, was im Leben vieler eine grolle Rolle spielt. Und irgendwo treibt es dauernd ein Mann mit einem anderen (oder triebe es gern). Trotzdem wird dieser Teil der sozialen Realität zumeist weder literarisch noch sonstwie repräsentiert. Er bleibt marginal und exzeptionell (oder ins Pornographische verbannt).
Auch die aufgeklärte, tolerante, queerfreundliche Gesellschaft hält schwulen Sex nach wie vor auf Abstand. Kulturell dominant sind die Repräsentationen heterosexuellen Begehrens. Darum käme niemand auf die Idee, einen Roman, in dem Männer mir Frauen, Frauen mit Männern Sex haben, als „heterosexuelle Literatur“ zu bezeichnen. Was aber, wenn es im Text Männer mit Männern treiben? (Vgl. S. 309 ff.)
Wenn also ein Leser sich von den „Sex-Szenen“ meines Romans „Romans Erzählungen“ herausgefordert fühlt und ihretwegen die Lektüre abbricht (obwohl er doch einfach über sie hinweglesen könnte, der Text besteht ja zu mehr als 85% aus anderem), so ist er an der bewusst eingebauten Herausforderung gescheitert. Und ich würde ihm raten, sich zu fragen, warum eigentlich ― statt sich bequem darauf zurückzuziehen, er wolle sowas halt nicht lesen.
Wohlgemerkt, jeder Leser, jede Leserin hat das Recht, meinen Roman „Romans Erzählungen“ schlecht zu finden, bescheuert, lächerlich, wichtigtuerisch, manieriert, verfehlt, geschmacklos, aufdringlich usw. usf. Aber er ist, so meine ich, auf jeden Fall eines: ein Angebot, über das man nachdenken kann. Warum gefällt einem daran dieses, aber jenes nicht? Was soll das alles? Welche Erwartungen hat man und was folgt daraus, wenn sie nicht erfüllt werden? Wie geht man mit Herausforderungen um, mit Überraschungen, mit Langeweile, mit Überforderung?
Wie X. mit „Romans Erzählungen“ umgegangen ist, weiß ich ja nun, zumindest in groben Zügen. Hoffentlich hält dieser Blog-Text hier niemanden davon ab, mir seinerseits zu berichten, wie es ihm mit dem Roman ergangen ist. Ich schreibe doch nicht für mich. Schon gar nicht, um lediglich private Passionen auszuleben. Ich schreibe, um der anderen willen. ― Lest! Spürt! Ahnt! Lacht! Ärgert euch! Denkt nach! Denkt noch einmal nach! Ändert euer Leben!