Sonntag, 8. Mai 2022

Achter-Mai-Gedanken

Alle Jahre wieder feiern die Nachfahren derer, von denen befreit wurde, die Befreiung. Als ob sie nachträglich selbst gleichsam Opfer gewesen wären oder zumindest deren Perspektive einzunehmen (und zu verstaatlichen) berechtigt wären.
Auch der Rechtsnachfolger (als kleindeutscher Kanzler) Hitlers (als großdeutscher Kanzler) hält eine Rede. Niemand empfindet das als pervers. Und immer noch wird die von der habsburgischen Monarchie gestohlene Hymne, zu deren Klängen halb Europa verwüstet wurde und Millionen Menschen getötet wurden, bei Gelegenheit gespielt. Es gibt bei einer Melodie keine „dritte Strophe“
Nie wieder!, sagen alle. Und tatsächlich, was war, geschieht so nicht noch einmal. Aber anders?
Etwa, wenn deutsche Herrenmenschen in einem öffentlichen Brief beteuern, die Menschen in der Ukraine, deren Leben, Rechte und Würde seien doch gar nicht so wichtig, nicht wichtig genug jedenfalls, um es sich mit Russland zu verderben und auf irgendwelchen Komfort zu verzichten. Rassismus in Reinkultur in der Tarnfarbe der Friedensliebe.
Wo stecken die deutschen Gelegenheitspazifisten eigentlich, wenn die BRD seit Jahrzehnten führend bei Waffenexporten ist? Den Beitrag der Rüstungsindustrie zum deutschen Wohlstand hat man unbesehen gern akzeptiert. Wenn aber Waffen mal nicht an eine Diktatur gehen sollen, entdeckt man plötzlich eine perfide Moral.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa bedeutete nicht nur die Niederringung des Nationalsozialismus (und seiner Verbündeten), sondern auch unzählige ungestrafte Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde, Verschleppungen im sowjetischen Herrschaftsbereich und nicht zuletzt die schrittweise Errichtung kommunistischer Diktaturen. Für viereinhalb Jahrzehnte. Tag der Befreiung? Als Osteuropäer kann man das wohl nur zynisch finden.
Befreit werden könnten heute übrigens auch noch viele. Von Kriegen, von Gewaltherrschaft, von Ausbeutung, Zerstörung und Verblödung. Wie kann man von „Befreiung“ faseln und über das Böse in der Vergangenheit lauwarme Tränen vergießen, während man das heutige Böse daheim und in derc Welt nicht nur zulässt, sondern fördert und durchsetzt? Wie kann eine hedonistsch-konsumistische Kontroll- und Disziplinierungsgesellschaft sich für „befreit“ und also frei halten?

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