Das so reiche Lebenswerk Gore Vidals ist eine Fundgrube an brillanten Zitaten. Der Meister des geschliffenen Wortes hat viel geschrieben und gesagt, das als überlieferungs- und bedenkenswerter Aphorismus taugt. Darunter ist nicht wenig, das ich schätze, bewundere, mag. Dies hier aber ist mir ganz besonders lieb: „Actually, there is no such thing as a homosexual person, any more than there is such a thing as a heterosexual person. The words are adjectives describing sexual acts, not people. The sexual acts are entirely normal; if they were not, no one would perform them.“
Vidal schrieb dies 1979 und ich las es erst Jahrzehnte später. Es gefällt mir, weil es mit anderen Worten als meinen eigenen eine meiner Grundüberzeugungen auf den Punkt bringt, eine Überzeugung, die ich längst hatte, als ich die Formulierung las, was die Übereinstimmung umso freudiger machte, denn es ja immer schön, in einer Welt, in der fast alle anders denken, einen Gleichgesinnten zu finden.
Der moderne Homosexualitätsbegriff, der seit dem 19. Jahrhundert etabliert wurde und mittlerweile kaum noch einen Widerspruch duldet (oder auch nur findet), erklärt Homosexualität zur Eigenschaft von Personen. Homosexualität, das ist das Homosexuellsein der Homosexuellen. Entsprechendes gilt für Heterosexualität. Dem zeitgenössischen Subjekt wird folgerichtig abverlangt, eine „sexuelle Identität“ zu haben, also entweder eine „heterosexuelle“ oder eine „homosexuelle Identität“. (Explizite Bisexualität wirkt irgendwie halbherzig, ist nicht Fisch, nicht Fleisch.) Heterosexuell zu sein gilt nach wie vor als normal, wenn nicht gar normativ. Heterosexualität ist immer schon da und mehr oder minder selbstverständlich. Eine homosexuelle Identität ist im Vergleich dazu etwas, was man erst entdecken und wozu man dann gefälligst auch stehen muss.
Mit dieser ebenso populären wie ubiquitären Einstellung, die Menschen ein bestimmtes, ihre innerste Wahrheit ausdrückendes, sexuelles Sein zuordnet, hat man sich von den sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen weit entfernt. Von einer allgemeinen Bisexualität kann im öffentlichen Diskurs keine Rede sein, auch all die möglichen Abstufungen und Übergänge zwischen exklusiver Heterosexualität und exklusiver Homosexualität sind unsichtbar und vielleicht sogar undenkbar geworden. Man ist entweder schwul bzw. lesbisch oder man ist es nicht. Basta.
Dieses ideologische Korsett schränkt emanzipatorische Politik extrem ein. Statt für die Befreiung aller zu kämpfen, sind die, die man, wenn man die Litanei möglichst komplett herunterleiern will, als „LGBTIQ-Personen“ bezeichnet (wobei Kategorien der sexuellen Orientierung mit solchen der Geschlechtsidentität und der politischen Interpretation durcheinandergeworfen werden: lesbisch, schwul, bisexuell, trans, intersexuell, queer) darauf zurückgeworfen, Rechte für sich selbst als so und so definierte Minderheit einzufordern. Aus einer grundsätzlichen Kampfansage ans System ist längst Interessenspolitik in Namen des eigenen „Stammes“ geworden. Statt die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren, will man in sie integriert werden. Schrumpfpunkt solcher Entpolitisierung ist das Projekt der Verrechtlichug gleichgeschlechtlicher Zweierkisten, wobei absurderweise eine gar nicht bestehende Rechtsungleichheit (auch heterosexuelle Männer durften nie Männer heiraten) durch Sonderrecht („Homo-Ehe“) kuriert werden soll.
Um diesen anti-emanzipatorischen Irrweg verlassen zu können, wäre es notwendig, mit identitätspolitischen Konzepten zu brechen. Es mag einmal strategisch wichtig gewesen sein, sich sichtbar zu machen und eine bestimmte wiedererkennbare Gestalt anzunehmen: „We are here, we are queer, get used to it!“ Aber die Zeiten, in denen eine solche kollektive Identität eine mobilisierende und vor allem kritische Funktion hatte, sind vorbei. Längst ist die Vorstellung, es gebe so etwas wie „Homosexuelle“ (gern „Lesbenundschwule“ genannt), zur Sackgasse, ja zur Falle geworden.
Gewiss, wenn man mich fragt, kann ich, wenn ich will, guten Gewissens sagen, ich sei schwul. Aber bin ich deshalb ein Schwuler? Muss ich deshalb eine homosexuelle Identität haben? Welche Festlegungen, welche Einschränkungen impliziert das? Warum kann ich nicht einfach sein, was oder wer ich sein will und mich fragen, ob, was ich tue oder tun will, erlaubt oder verboten, richtig oder falsch ist? Warum soll ich mich von vornherein auf ein bestimmtes Wesen, ein bestimmtes Sosein, auf bestimmte erwartbare Handlungen festlegen lassen? Warum werde ich nicht nach meinen Handlungen beurteilt, sondern auf Grund eines vermeintlichen Seins im Voraus definiert?
Tatsächlich hält sich keine Rechtsordnung der Welt mit dem Sein auf. Wo immer es antihomosexuelle Strafbestimmungen gibt oder gab, waren oder sind Handlungen erforderlich, um eine Straftat zu begehen. Homosexuellsein als solches war nie verboten. (Was nicht heißt, dass es nicht gefährlich war oder ist, als homosexuell zu gelten.)
Hier müsste man ansetzen. Homosexuelle Handlungen sind offensichtlich etwas, was im Prinzip jeder vollziehen kann. Insofern bedroht antihomosexuelle Politik potenziell jeden. Solange Homosexualität als Homosexuellsein der Homosexuellen die sich davon abgrenzenden Heterosexuellen nichts angeht, sondern die Thematik hübsch im begrifflichen und lebensweltlichen Ghetto belässt, kann es keine emanzipatorische Politik geben.
Solange es nur vordergründig um das Wohl und Wehe dieser oder jener Minderheit geht, kann nicht radikal in Frage gestellt werden, warum es überhaupt die eine Mehrheit und die vielen Minderheiten geben soll. Wird Homosexualität denn unterdrückt, diskriminiert, marginalisiert, weil sie minoritär ist, oder ist sie nicht vielmehr deshalb minoritär, weil sie unterdrückt, diskriminiert, marginalisiert wird, weil somit nicht jeder „homosexuell sein“, in Wahrheit also: homosexuell handeln darf? Doch erst wenn Homosexualität als eine jeden Einzelnen betreffende Möglichkeit begriffen wird — die ihm vorenthalten wird oder die er ergreifen kann —, kann der Kampf für das Recht auf Homosexualitäten (was etwas ganz anderes ist als die Rechte der Homosexuellen) zu einer gesellschaftsverändernden Kraft werden.
An all das denke ich, wenn ich lese: „There is no such thing as a homosexual person, any more than there is such a thing as a heterosexual person. The words are adjectives describing sexual acts, not people.“ Ich bin mir sicher, der Verfasser jener Worte hätte meinen Ausführungen nur zum Teil zugestimmt, wenn überhaupt. Das macht nichts. Ich bin trotzdem froh, dass er einen Gedanken, der mir wichtig ist, so klar formuliert hat. Thank you, Mr. Gore Vidal. May you rest in peace.