Sonntag, 29. Dezember 2024
Balken & Splitter (108)
Freitag, 27. Dezember 2024
Notiz zur Zeit (240)
Leute (20)
Nachdem er zum ersten Mal eine Frau Sex gehabt hatte, erklärte mir X. damals, er sei sich jetzt sicher, dass Heterosexualität von der Natur vorgesehen sei. Die Genitalien passten einfach zu gut zueinander. Ich sagte nichts dazu. Hätte ich ihm raten sollen, sich einmal von einem Mann in den Arsch ficken zu lassen?
Montag, 23. Dezember 2024
Leute (19)
Sonntag, 22. Dezember 2024
Wozu über Weihnachten lügen?
Gewiss, Kinder können phantastische Erzählungen, die ihre Phantasie anregen, gut gebrauchen. Aber es ist ein Unterschied zwischen Dornöschen, Schneewittchen, Aschenbrödel usw. und Weihnachtsmann und Zahnfee: Die Märchenfiguren werden als solche ― hoffentlich ― vorgestellt und verstanden und ihre tatsächliche Existenz wird nicht behauptet.
Man sollte Kinder überhaupt nie belügen. Man kann ihnen zudem die Wahrheit über Weihnachten von Anfang an zumuten: Gottes Sohn ist Mensch geworden, ist zu den Menschen gekommen, um sie von allem Schlechten zu befreien und ihnen zu helfen, Gutes zu tun, und wurde darum damals im Stall bei Bethlehem geboren. Aus Freude darüber feiern wir ein Fest und beschenken einander.
Wozu aber diese sinnlosen, mit dem Festgeheimnis überhaupt nichts zu tun habenden Lügengeschichten? Fällt nicht von diesem Unsinn ein Schatten auf die „hochheilige Nacht“? Wenn der Weihnachtmann nur erfunden ist, ist es dann nicht vielleicht auch Jesus?
Gewiss, viele werden sagen, die Lügen hätten ihnen nicht geschadet, und sie erzählen sie darum auch ihren Kindern. Trotzdem, über Weihnachten zu lügen, ist unwürdig. Der Unsinn von Weihnachtsmann und Weihnachtsfee scheint jedoch Teil der längst sehr erfolgreichen Bemühungen zu sein, das Fest nichts mit Gottes Sohn, mit Sünde und Erlösung, mit Wiederkunft und Letztem Gericht zu tun haben zu lassen. Fest der Liebe? Fest der Familie? Fest der Kinder? Fest der Geschenke? Nein, Fest der Geburt Jesu Christi.
Samstag, 21. Dezember 2024
Notiz zur Zeit (239)
Freitag, 20. Dezember 2024
Ein merkwürdiger Fall
Habe ich das richtig verstanden? Eine Frau wird zehn Jahre lang von ihrem Mann betäubt und vergewaltigt und anderen Männern zur Vergewaltigung überlassen. Davon hat sie aber nie etwas mitbekommen, sagt sie, nur ihr unerklärliche Folgen: körperliche und seelische Probleme. Das mag so gewesen sein, ich kann das nicht beurteilen, aber vorstellen kann ich es mir auch nicht. Sie wurde mit einem Beruhigungsmittel betäubt, heißt es. Und es fiel ihr nie auf, dass sie manchmal ungewöhnlich müde oder ganz einfach weggetreten war? Eine Betäubung ist zudem etwas anderes als eine Bewusstlosigkeit. Die hätte ihr doch noch viel mehr auffallen müssen. Über zweihundert Vergewaltigungen Penetration durch über achtzig Männer und davon keine Spuren am Körper oder im Bett oder im Haus? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
Anderes will ich mir nicht vorstellen, obwohl es vermutlich erschreckenderweise realistisch ist. Dass heterosexuelle Männer, darunter auch junge, eine alte (sechzig bis siebzigjährige) und, ich erlaube mir, das so zu sehen, sehr hässliche Frau gefickt haben sollen. Wie pervers muss man sein, um das zu wollen und zu können. Heterosexualität ist immer unappetitlich, aber das ist wirklich unvorstellbar widerlich.
Zur Ungewöhnlichkeit und, mit Verlaub, sehr eingeschränkten Glaubwürdigkeit des Falles passt die übergroße Aufmerksamkeit und einhellige Empörung. Die Frau als Opfer, die öffentlich sagt, dass sie ein Opfer ist ― was für eine Heldin! Zehn Jahre lang offensichtlich ohne Kenntnis vom eigenen Körper, nichts spürend, nichts hörend, nichts sehend. Über fünfzig Jahre mit einem Mann zusammen, verheiratet, geschieden, wieder verheiratet (und zuletzt wieder geschieden), einem Mann, den sie offensichtlich gar nicht kannte, dessen perverse Gelüste anscheinend nie zum Thema wurden und der sie offensichtlich sehr verachtete und zugleich begehrte.
Übrigens: Hatten die beiden außer den Vergewaltigungen auch noch „normalen“ Sex? (Oder was für Heteros halt als normal gilt …) Wenn schon alles ohne Scham aufgedeckt werden soll, darf auch eine solche Frage gestellt werden. Denn wenn nicht, wieso sagt ihr das nichts? Wenn doch, wieso erinnerte sie das an nichts?
Wer glauben möchte, dass der Fall sich so zugetragen hat, wie das Opfer, die Medien und das Gericht es für wahr erklärt haben, mag das tun. Sollte dann aber vielleicht bedenken, dass, wenn derlei wirklich war, es womöglich viele derartige Fälle gibt, dass also hinter den Fassaden normaler Heterosexualität oft die übelsten Abartigkeiten hausen dürften. Das sagt etwas über eine Gesellschaft und ihre Moral. Darum ist der Abscheu ja auch so groß: „Wir“ sind gut, die Verurteilten sind die Ungeheuer. Ist das glaubwürdig?
Drei Erinnerungen an Hermes Phettberg
Ein paar Jahre später schrieb er an die Zeitung, in der ich damals viel publizierte, einen Leserbrief. In einem Teil, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, lobte er mich sehr. In dem Teil, der dann veröffentlicht wurde, nannte er mich herzlos.
Wieder ein paar Jahre moderierte ich eine Veranstaltung des Günther-Anders-Forums. Noch bevor es anfing, ging ein Raunen durch die Hänge des Liesinger Rathauses: Phettberg kommt und er hat abgenommen. (Damals hatte er wohl schon seine Tefausendung oder hatte sie gehabt.) Tatsächlich kam dann Hermes Phettberg in den Saal, trat an den Tisch, an dem ich schon saß, stellte sich vor und fragte, ob ich Stefan Broniowski sei. Als ich bejahte, sagte er: „Ich lese alle Ihre Artikel. Ich stimme Ihnen nie zu.“ Ich weiß nicht mehr, was ich erwiderte, vielleicht: „So geht es vielen.“ Jedenfalls setzte Phettberg dann hinzu, dass er noch vor Veranstaltungsende gehen müsse, niemand solle sich etwas dabei denken, er sei nur schon verabredet.
Was für ein Selbstbewusstsein!, dachte ich mir. Und welche Fürsorglichkeit; Niemand solle sich kränken, wenn Herr Phettberg früher gehen müsse. Ob er erwartete, ich werde das in meine Moderation einflechten? Ich tat es nicht, und Hermes Phettberg blieb bis zum Schluss. Die Diskussion nach den Vorträgen, an der er sich beteiligte, war hitzig und lang gewesen.
Mehr fällt mir zu Hermes Phettberg nicht ein. Ich habe nie seine Tefausendung geschaut und seine Zeitungsartikel nie gelesen. Für mich war er einfach dieser große, fette, unappetitliche Kerl, der sehr viel intelligenter und gebildeter sein mochte, als man auf Grund seiner Selbstinszenierung hätte glauben mögen. Dass so jemand populär werden konnte, zumindest vorübergehend, fand ich bemerkenswert. Vielleicht machte es mir auch Mut. Josef Fenz, der sich Hermes Phettberg nannte, kam mir immer sehr unglücklich vor und war es wohl auch. Armut und Krankheit dürften seine letzten Jahre verdunkelt haben. Er ruhe in Frieden.
Sonntag, 15. Dezember 2024
Trauriges Thema: Einsame Weihnachten
Sich auf Jesus freuen und sich fragen, ob man bereit ist fürs Jüngste Gericht, das kann man auch ganz allein. Vielleicht sogar allein am besten. Nicht abgelenkt von Konsumterror, hohlen Familienritualen und Gedöns. Was nicht dagegen spricht, an liturgischen Feiern teilzunehmen. Und wenn man nicht mobil ist: Es gibt Radio und Tefau und Internet.
Wer einsam ist und das nicht sein will, hat allen Grund, sein Leben zu ändern. Und das ist eigentliche Thema von Weihnachten. Losgekauft worden sein von der Sünde und sich verantworten zu müssen.
Gewiss, manche Ursachen ungewollter Einsamkeit, verantworten die Betroffenen nicht selbst. Und manchmal gibt es auch keine Lösungen. Das muss man dann eben genauso annehmen wie Krankheit und Tod.
Andererseits ist ungewollte Einsamkeit, seien wir unerschrocken ehrlich, oft selbstgemacht. Wer beizeiten für andere da war, und zwar immer wieder mal auch für neue (die also, ums deutlich zu sagen, nicht schon alle weggestorben oder weggezogen sein können), hat gute Chancen, mit vielen in Kontakt zu sein.
Der Kontakt nach oben jedenfalls ist immer möglich. Und darauf kommt es an. Mehr als auf alles andere.Nicht nur an Weihnachten
Freitag, 13. Dezember 2024
Glosse CXXXIV
„Sicherheitsgarantien“?
Das führt zur zweiten Frage: Was sind „Sicherheitsgarantien“ wert? Angenommen, es käme zu Verhandlungen und einem Abkommen über einen Waffenstillstand, wodurch Teile von Land und Leuten der Ukraine „vorläufig“ Russland überlassen würden. Und irgendwann später entschlösse sich Russland, doch wieder die Ukraine anzugreifen und dort zu morden, zu zerstören und vielleicht ein bisschen mehr des Nachbarlandes zu besetzen. Würden „Sicherheitsgarantien“ dann nur bedeuten, dass es wieder viele schöne Reden, unzureichende Unterstützung und viel Angst vor Russland und dessen angedrohten Dritten Weltkrieg gibt? Oder würde der Krieg gegen den Westen, den Russland bereits führt (und in dem die Ukraine „nur“ die Stellvertreterin ist), endlich auch vom Westen geführt?
Die Rede von „Sicherheitsgarantien“ entbehrt der Substanz, wenn sie keine glaubwürdige Androhung von militärischer Gewalt umfasst.
Zur Erinnerung: Im „Budapester Memorandum“ von 1994 wurde durch die USA, Großbritannien und Russland die Souveränität und territoriale Unverletzlichkeit der Ukraine, die gerade auf ihre Atomwaffen verzichtet hatte, garantiert. Was war diese Garantie wert, als Russland 2014 die Krim und Teile des Donbass eroberte und diese Gegenden gegen jedes Recht später „annektierte“?
Die Ukraine braucht keine vollmundigen, aber wirkungsloesen „Garantien“, sie braucht Waffen und Munition. Gegen Russland hilft nur Gewalt und ― wenn diese einmal nicht mehr unmittelbar nötig sein sollte ― die Androhung von Gewalt im Falle von Fehlverhalten. Alles andere ist Blabla und gefährdet Recht, Anstand und Menschenleben.
Sonntag, 8. Dezember 2024
Notiz zur Zeit (238)
Ob ich euch, liebe Syrerinnen und Syrer gratulieren darf, weiß ich nicht. Aber immerhin seid ihr, wie es aussieht, den Schlächter Assad erst einmal los. Das ist eine gute Nachricht. Was jetzt kommt, weiß nur der liebe Gott.
Eine Mehrheit der Deutschen, lese ich, habe Angst, dass durch die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine in den Krieg gegen Russland „hineingezogen“ würde. Einmal abgesehen, dass die BRD längst von Putin attackiert wird (nicht zuletzt kybernetisch), muss ich ganz ehrlich sagen: Wenn es hülfe, ukrainische Menschenleben zu retten, könnte ich mich damit abfinden, dass der Preis dafür wäre, dass eine Mehrheit der feigen, selbstgefälligen, moralisch wohlstandsverwahrlosten Deutschen draufginge. Die deutsche Ostpolitik hat den Ukrainerinnen und Ukrainern diesen Krieg eingebrockt (weil sie dazu beitrug, dass Putin nicht beizeiten gestoppt wurde), dann können ihn die Deutschen auch auslöffeln.
Randthema Abtreibung?
Der Bekannte antwortete, Abtreibung sei ja kein Massenphänomen und niemand tue sich leicht damit; da sähen die Abtreibungsgegner einfach etwas, was es so gar nicht gebe.
Daraufhin besorgte ich mir rasch aus dem Internet aktuelle Zahlen. Offizieller Statistik zu Folge wurden im Jahre 2022 in der BRD (wo der Bekannte lebt) rund 739.000 Kinder geboren und rund 104.000 „abgetrieben“, also ungeboren getötet. (2023: 693.000 und 106.000.) Zusammen 843.000 Kinder (2023: 799.000), wovon die Getöteten demnach 12,34 Prozent ausmachen (2023: 13,27 Prozent), also ungefähr ein Achtel. (2023: deutlich mehr!) Wenn das kein Massenphänomen ist, weiß ich nicht, was eines wäre. Jedes fünfte Kind? Jedes zweite?
(Zur Gesamtzahl der Kinder, die hätten geboren werden können, gehören selbstverständlich noch die durch natürlichen Abort oder Unfälle und dergleichen gestorbenen. Deren Zahl habe ich ihr nicht nachgeforscht. Die Dimension der Abtreibungen würde dadurch wohl nicht verändert.)
Mehr als jede achte Schwangerschaft wird „abgebrochen“, was so harmlos-unschuldig klingt wie der Abpfiff eines Fußballspiels, in Wahrheit aber ein medizinischer Aufwand und ein blutiges Geschäft ist. Trotzdem ist dieses Massaker in der Gesellschaft nur insofern ein Thema, als jede Einschränkung des unbeschränkten Zugangs zu Verfahren der Kindstötung als „konservatives“ Unrecht angeprangert, wo doch die Verfügung von Frauen über ihren Körper deren ureigenstes Recht sei (was das Thema verfehlt, denn es geht ja um den Körper des Kindes); neuerdings wird „Abtreibung“ gar zum „Menschenrecht“ proklamiert. Neben dem Recht auf Leben und Unversehrtheit macht sich das Recht auf Tötenlassen unschuldiger Ungeborener allerdings etwas seltsam aus.
„Abtreibungsgegner“ gelten als Spinner, womöglich religiöse Fanatiker, die ein Randthema aufbauschen. Selbst gebildete Menschen wie der erwähnte Bekannte ignorieren die Dimensionen und reden sich zu ihrer eigenen Beruhigung ein, es gehe eh nur um ganz wenige Fälle. Die Zahl der Abtreibungen weltweit wird für die letzten Jahre auf 56 bis 73 Millionen jährlich geschätzt. Ist das wenig?
* Dieser Text wurde damals nicht zeitnah veröffentlicht, ich habe darum noch aktuellere Zahlen als die damaligen ergänzt.
Ihr Kinderlein, kommt nicht
Abtreibung ist Mord und deshalb kann es, egal, was Gesetze besagen, niemals ein „Recht“ auf Abtreibung geben. Daran ist kein vernünftiger Zweifel möglich. Menschen dürfen Menschen nicht töten, das steht fest; Ausnahmen mag es zur Fremd- und Selbstverteidigung oder, je nachts Rechtsordnung, zur Strafe geben. Im Grundsatz aber ist, um es religiös zu formulieren, jedes menschliche Leben heilig und unantastbar.
Dass in dieser wahnsinnigen und verderbten Weltordnung, an der so viele freiwillig und alle mindestens unfreiwillig mitwirken, Menschen im Elend leben, ausgebeutet werden, an Hunger und vermeidbaren Krankheiten oder in Kriegen sterben, ist schrecklich genug, es rechtfertigt nicht, Kinder im Mutterleib zu zerstückeln. Wenn Frauen zu arm sind, soll man ihre Armut beseitigen, nicht ihre Kinder.
In den wohlstandsverwahrlosten Ländern werden ungeborene Kinder ohnehin eher deshalb getötet, weil ein Kind gerade nicht zum Lebensentwurf oder zum Lebensstil passt. So werden beispielsweise 80 bis 90 der Kinder, bei denen pränatal das Down-Syndrom diagnostiziert wurde, nicht zur Welt gebracht, sondern abgemurkst. Bei ähnlichen Diagnosen verhält es sich ähnlich. Und das befürwortet jemand? Das ist eine Entscheidung, die eine Frau für ihr Kind treffen darf?
Denn es geht nicht, wie die Pro-Abtreibungs-Ideologie behauptet, um die freie Verfügung von Frauen über ihr Eigentum, hier: ihren Körper. Selbst wenn es nur darum ginge, wäre es fraglich, ob man mit sich wirklich alles machen darf, wonach einem der Sinn steht. Doch tatsächlich geht es ja um einen anderen Menschen, um das Kind, dass sich im Körper der Frau befindet. Selbst wenn man also ein Verfügungsrecht über den eigenen Körper zugestände, was ist mit dem Recht des anderen Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit? Steht dieses Recht nicht höher als die Unbilden einer „ungewollten“ Schwangerschaft? Sein Kind töten zu lassen ist etwas grundsätzlich anderes, als sich die Zehennägel zu schneiden oder die Haare zu färben. Hier ist eben nicht nur der eigene Körper betroffen, sondern auch und vor allem der Körper eines anderen Menschen, der ein für allemal vom Leben zum Tode befördert werden soll. Oder eben nicht soll. ― Was nebenbei die „Ungewolltheit“ der Schwängerung betrifft: Wer nicht schwanger werden will, soll halt nicht ficken. Wer zu blöd zum „Verhüten“ ist, soll das nicht am Kind auslassen. (Und was die sehr seltenen Fälle von Schwangerschaften nach Vergewaltigungen betrifft: Warum soll ein unschuldiges Kind für ein Verbrechen seines Vaters bestraft werden dürfen? Noch dazu mit der Todesstrafe?)
Man muss schon sehr fanatisiert oder moralisch heruntergekommen sein, um „für Abtreibungen“ einzutreten sein und dieses Unrecht gar zum „Recht“ umetikettieren zu wollen. Man muss vor allem ohne Achtung und Liebe gegenüber dem Mitmenschen, in diesem Fall dem eigenen Kind sein. Die Befürworterinnen (beiderlei Geschlechts) behelfen sich meist damit, dass sie ihr Gewissen mit der Behauptung kalt stellen, was da heranwachse, sei ja noch gar kein Mensch.
Ja, was denn sonst? Die Ausdrücke „schwanger sein“ und „ein Kind bekommen“ sind synonym. Sobald eine Frau schwanger ist (und wenn sie nicht schwanger wäre, könnte sie nicht „abtreiben“), ist ein Kind unterwegs. Von der befruchteten Eizelle über die Einnistung derselben und dann die Monate der Schwangerschaft bis zur Geburt ist ein weiter Weg, auf dem manches schief gehen kann. (Auch ein natürlicher Abortus ist leider möglich.) Aber das rechtfertigt kein willkürliches Eingreifen, schon gar keine Tötung jenes lebendigen „Zellverbandes“, von dem absolut niemand genau und mit Gewissheit sagen kann, ab wann er, wenn nicht von Beginn an, denn nun ein „richtiger“ Mensch ist. Vernünftig, weil sachlich angemessen und ethisch verantwortungsbewusst, ist darum nur, schon die befruchtete Eizelle als Kind, als zwar noch unausgebildeten, aber doch um nichts weniger zu achtenden, ja zu liebenden Mitmenschen anzunehmen.
Zur Erinnerung: Lebenswertes von nicht lebenswertem Leben zu unterscheiden und letzteres folgerichtig zu vernichten, war eine Vorliebe der Nazis. Die waren zwar, was Arierinnen betraf, sehr fürs Kinderkriegen und darum gegen Verhütung und Abtreibungen, aber „Erbkranke“und die Kinder der „fremdrassigen“ massakrierten sie durchaus, geboren oder ungeboren, und gern deren Mütter und Väter noch dazu. Das ist die Traditionslinie von Eugenik, Euthanasie und eben auch Abtötung der Leibesfrucht, in die sich stellt, wer „noch kein Mensch, nur ein paar Zellen“ sagt, wenn von ungeborenen Kindern die Rede ist.
Keine Frage, es gibt reaktionäre Kräfte, die die Gegnerschaft zur Abtreibung für ihre scheußlichen Zwecke missbrauchen. Ebenso wie sie Religion missbrauchen. Ihnen geht es nicht um Menschenwürde und Menschenrechte, ihnen geht es um Familienideologie, Lebensstil, Segregation, Niederhalten der Armen und die Ausübung von Macht. (Wie sich in den USA zeigt, sind Politiker, die öffentlich für Abtreibungsverbote eintreten, oft Ehebrecher, die ihre Buhlinnen gegebenenfalls zur Abtreibung nötigen. Doch selbst wenn einer mal in dieser und ähnlicher Hinsicht keinen Dreck am Stecken hat, kann er trotzdem ein bösartiger Reaktionär sein.) Dass man aus den falschen Gründen gegen Abtreibung sein kann, ändert freilich nichts daran, dass es auch gute Gründe gibt.
„Hätt’ Maria abgetrieben …“ Hat sie aber nicht. Vielmehr empfing sie vom Heilgen Geist und brachte unseren Herrn und Erlöser zur Welt. Zugegeben, die Geschichte des Christentums ist voller Irrtümer und schwerer Sünden. Bis heute. Doch von den teuflischen Machenschaften der Menschen bleibt, wenn man es ernst nimmt, das Evangelium unberührt. Gott ist der Gott des Lebens, der auf der Seite der Schwachen und Benachteiligten steht ― und nicht der der Mächtigen und Benachteiligenden. Wer aber wäre schwächer, schutzloser, schutzbedürftiger als ein ungeborenes Kind?
Christ sein muss heißen, für die Würde, das Wohlergehen, das unbeschädigte Leben des Mitmenschen einzutreten. Ausbeutung, Zerstörung, Verblödung, kurzum: die herrschende Weltunordnung ist unvereinbar mit dem Evangelium. „Was ihr für den geringsten meiner Brüder getan habt …“ Wer also ein Kind töten lässt, geboren oder ungeboren, stellt sich gegen Gott. Und hat darum zu Recht nichts zu erwarten als die Hölle, die er (oder sie) anderen schon auf Erden bereitet hat.
Freitag, 6. Dezember 2024
Rede der beiden Blinden, denen die Augen geöffnet worden waren
Mittwoch, 4. Dezember 2024
Notiz zur Zeit (237)
Erfolg wünsche ich von Herzen auch den Georgierinnen und Georgiern. Ihr gehört zu Europa. Lasst Euch das nicht nehmen! Keine Konzessionen an Putin und seine Marionetten! Ihr habt schon ein paar Mal schlechte Regierungen abgeschüttelt. Daumen hoch!
Dienstag, 3. Dezember 2024
An M.
Dein einundsechzigster Geburtstag wäre also heute. Wenn du nicht schon vor 36 Jahren gestorben wärst. An den Folgen eines von dir verursachten Autounfalls.
Am ersten Abend unserer ersten Begegnung, als wir nach einem universitätspolitischen Treffen von Philosophiestudierenden noch in kleiner Runde in einer Pizzeria saßen, fragtest du herum, wie die anderen denn ihr Studium finanzierten, ob die Eltern zahlten, ob jemand ein Stipendium habe oder wie jeder sein Geld verdiene. Und du erzähltest stolz, du habest jetzt deine Zulassung als Taxifahrer, dein Einkommen sei gesichert.
Anderthalb Jahre später bist du beim Taxifahren umgekommen. Ich habe dich nie als Autofahrer erlebt (nur einaml als Motorradfahrer gesehen), aber man erzählte mir später, du seist immer schnell und unvorsichtig gefahren. So hast du wohl auch den Unfall verursacht, der dich tötete, nach ein paar langen, für deine Angehörigen, Freunde und Bekannten sehr quälenden Tagen im Koma.
Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich daran denke. Wir waren befreundet, vielleicht nicht sehr eng, aber wir besuchten gemeinsam Lehrveranstaltungen, politische Treffen, zwei Tutoriumsseminarien im Wald bei Scheibbs, leiteten gemeinsam eine Tutoriumsgruppe für Erstsemestrige, ich war bei dir in deiner WG und einige Male mit dir (und auch anderen) in der gemütlichen Einzimmerwohnung deiner Freundin, wir sprachen in Kaffeehäusern über Gott und die Welt, trieben ein bisschen Politik, lachten viel und kochten auch einmal gemeinsam Spaghetti mit Sugo bei mir zu Hause.
Vor allem aber war ich in dich verliebt. Du warst einfach zu charmant, gutaussehend, intelligent, humorvoll und quirlig. Einmal verglich ich dich mit einem schwarzen Eichhörnchen; schwarz wegen deiner Lockenpracht und deiner (wie vom gemeinsamen Duschen wusste) schwarzen Körperbehaarung. Elastisch und immer auf dem Sprung, vielseitig interessiert und dir Zug um Zug philosophische Grundlagen verschaffend ― wie hätte ich mich nicht in dich verlieben sollen? Irgendwann musste ich mir eingestehen: Ich liebe ihn.
Selbstverständlich erzählte ich dir nichts davon. Ich war damals nicht so weit, und vor allem hätte es nichts „gebracht“, du hattest ja eine Freundin (die ich gern mochte) und erzähltest immer wieder belustigt von den Anmachen, denen du als Taxifahrer ausgesetzt warst. Wobei es anscheinend nur Männer waren, die dir unanständige Angebote machten, obwohl du meines Wissens auch bei Frauen gut ankamst.
Dein Tod traf mich hart. Mich und viele andere. Es war unfassbar. Aus dem Leben gerissen, wie man so sagt. Und man sagte noch viel mehr. Ich ertrug es kaum. Als einige von denen, die mit dir studiert hatten, darunter auch ich, nach deinem Begräbnis noch im Kaffeehaus zusammensaßen, war viel davon die Rede, dass du in unseren Erinnerungen weiterleben würdest, dass es dich noch gebe, solange jemand an dich denke.
Scheiße, dachte ich mir da (sagte aber nichts), das ist mir verdammt noch mal zu wenig. Wie kann es sein, dass er tot ist und ich lebe? Wie soll ich das aushalten? Er sollte leben, was mit mir ist, ist demgegenüber gleichgültig. Er muss leben. Mir genügt nicht dieses lauwarme oder im Grunde kühl-selbstgefällige „in unserer Erinnerung“ Weiterleben, ich will, dass er wirklich und wahrhaftig weiterlebt, als er selbst, als Person, als Individuum, als der, den ich liebe und immer lieben werde, nicht als bloße Idee, als nachlassende Erinnerung, als undeutlich werdender Gedanke.
Und in der Folge begriff ich: Ich kann nicht anders, als an Gott zu glauben. Wenn du tot bist und doch leben sollst, dann muss es Gott geben, damit der Tod nicht das letzte Wort hat und das beruhigende Gerede auch nicht, der billige Trost derer, die einen Verlust dadurch auszuhalten versuchen, dass sie ihn behübschen.
Dein Tod war ein Einschnitt in mein Leben. Ich verlor einen Freund. Kein Gerede kann ihn mir wiedergeben oder mich über den Verlust hinwegtrösten. Nur einer kann mir versprechen, dass du lebst und in Ewigkeit leben wirst. Gott. Nur wenn Gott tatsächlich da ist und jeden Menschen liebt, gibt es einen Grund, nicht irr zu werden oder sich selbst auszulöschen.
Man mag das eine Schwäche nennen: an Gott glauben zu müssen, weil sonst alles sinnlos ist, weil dann der geliebte Freund nicht mehr existiert und das Leben unerträglich wäre. Wenn es denn eine Schwäche ist, dann ist es meine Schwäche für dich. Ich bin aber lieber schwach als treulos, lieber schwach und lächerlich, als dich preiszugeben.
Du selbst hast, glaube ich, nicht an Gott geglaubt. Zumindest hattest du so deine Zweifel, nehme ich an, so jedenfalls deute ich manches deiner Worte. Und mit deiner protestantischen Herkunft hattest du offensichtlich nichts im Sinn. Andererseits … Wir saßen auch Seite an Seite in einem katholisch-theologischen Hörsaal (und hörten einer philosophischen Vorlesung über Freud zu). Über Glauben und Gott haben wir aber nie geredet. Es kam nicht dazu. Wie auch immer. Vielleicht warst du Atheist oder Agnostiker oder ein Suchender oder einfach desinteressiert. Keine Ahnung. Das ist eine Sache zwischen euch beiden. Und inzwischen werdet ihr das geklärt haben.
Sechsundddreißig Jahre bist du tot. Anderthalb mal so lange, wie du gelebt hast. Ich fasse es nicht. Manches Mal bin ich an dein Grab gegangen, habe eine rote Rose auf die Steinplatte gelegt, war über mich selbst gerührt, über meine Treue, meine Rührung, meine nassen Augen. Das ist so unser Ritual, du kannst dich nicht dagegen wehren und siehst es mir hoffentlich nach. Viel kann in dem Grab nicht mehr von dir, deiner sterblichen Hülle, wie man so sagt, übrig sein. Ich habe immer wieder mal versucht, mir Verwesung und Verfall vorzustellen, um das Entsetzliche auszuhalten, aber ich denke an dich unweigerlich als an den hübschen jungen Mann voller Lebenslust, voller Phantasie, voller Zukunft. Das macht alles viel schlimmer. Wäre da nicht der Gedanke, dass du, auf eine Weise, die ich nicht verstehen muss, um an sie glauben zu können, lebst. ― Ich hoffe, dieser Text hätte dir gefallen. Und ich vertraue darauf, dass er dir gefällt.
Zwischendurch ein bisschen Rumänien
Ich weiß nicht, wie die Stichwahl am 8. Dezember ausgehen wird. Vielleicht gewinnt Georgescu, vielleicht nicht. Bei den zwischen den Präsidentschaftswahlgängen abgehaltenen Parlamentswahlen haben die Rechtextremen jedenfalls nicht einmal ein Drittel der gültigen Stimmen erreicht. Das ist unerfeulich viel. Aber doch für Panik viel zu wenig.
Mir ist schon klar, dass Journalisten lieber über spektakuläre Ereignisse (oder das, was sie so darstellen) fabulieren, als einfach regelmäßig über Rumänien und das Wohl und Wehe seiner Bevölkerung zu berichten. Das kitzelt die Aufmerksamkeit. Hintergründe, Zusammenhänge, Normalität sind langweilig und kommen darum in den deutschsprachigen Medien kaum vor. Nicht nur Rumänien betreffend, sondern eigentlich alle Weltgegenden, in denen nicht jetzt gerade etwas Verwertbares geschieht. Und außerdem ist man ja zu sehr damit beschäftigt, den (übrigens auch hemmungslos prorussischen) Rechtsextremen im eigenen Land viel Aufmerksamkeit zu schenken …
Sonntag, 1. Dezember 2024
Advent? Welcher Advent?
Notiz zur Zeit (236)
Samstag, 30. November 2024
Notiz zur Zeit (235)
Montag, 25. November 2024
Nach irgendeiner Wahl
Ich weiß nicht, was man dagegen tun kann. Ich jedenfalls kann nichts tun. Ich schreibe. Mit dem, was und wie ich schreibe, erreiche ich die, die man von Menschenwürde, Rechtsgleichheit und der Überwindung von Grausamkeit und Ignoranz überzeugen müsste, ganz sicher nicht. Und selbst wenn, sie ließen sich nicht überzeugen. Von mir nicht und von niemandem sonst. Es geht ihnen und ihren Führern nämlich nicht um Argumente, es geht um Affekte. Um Ressentiments und Hass, um überbordende Selbstgefälligkeit und den brennenden Wunsch, Schaden anzurichten.
Gegen Rechtspopulismus hülfe wohl nur bessere Politik. Aber wer soll die betreiben? Die anderen Parteien, die nicht weniger, nur ein bisschen anders dieselbe Systemkonformität garantieren? Ohne Bruch mit dem Kapitalismus gehen all die Reförmchen ins Leere, wenn sie überhaupt zu Stande kommen. Wenn man die Leute nicht auffordert, ihre Lebensweisen zu ändern, damit ein freies, gerechtes, Wohlstand für jeden und Umweltfreundlichkeit für alle organisierendes Miteinander möglich ist, wenn man diesen Bruch und Wandel nicht vernünftig, kooperativ und antiautoritär forciert, werden die Ausbeutung der Menschen und der natürlichen Ressourcen, die Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen und die rauschhafte Zerstreuung und Verdummung samt kulturellem Verfall unweigerlich fortschreiten und noch viel katastrophischere Ausmaße annehmen, als es jetzt schon der Fall ist.
Manche hoffen auf Technologien. Ich nicht. Erstens gibt es keine technischen Lösungen für moralische Probleme. Und zweitens kann ein Mehr von dem, was die herrschenden Probleme verursacht hat oder sie doch immerhin verbreitet, sicher nichts Gutes bringen.
Was also tun? Abwarten, bis alles zu Grunde geht? Oder darauf, dass alle, einschließlich des Verfassers, so abgestumpft sind, dass sie nichts mehr mitbekommen? Oder halt weitermachen wie bisher. Die anderen wursteln sich ja auch bloß mal eben so durch. Das kann ich auch, nur ganz anders, auf meine Weise und mit meinen Überzeugungen und Zielen. Also weiterhin Zeugnis ablegen vom Offensichtlichen. Weiter anstänkern gegen Dummheit und Niedertracht. Verzweifeln und es sich anmerken lassen, aber nicht aufgeben. Und auf ein Wunder hoffen, dass aber unbedingt apokalyptisch zu sein hätte.
Donnerstag, 21. November 2024
Das Geheimnis der öffentlichen Hand in der kulturellen Produktion
Und nun geschieht, von Nationalstaat zu Nationalstaat sehr verschieden, etwas noch viel Merkwürdigeres: Die öffentliche Hand sagt ja, klar, wird gemacht. Und vergibt Förderungen, Stipendien, Preise. Zwar nicht flächendeckend und in Hülle und Fülle. Aber doch so, dass sehr viel mehr Kulturschaffende ein Auskommen finden als durch individualwirtschaftliche Betätigung allein. Für viele werden Ausbildung, Produktion und öffentliche Verbreitung erst dadurch überhaupt möglich.
Erweitert man den Kulturbegriff über die Künste hinaus, dann gilt in etwa dasselbe auch für viele Wissenschaften, namentlich die nicht technisch verwertbaren. Ohne staatlich finanzierte Universitäten und Akademien, ohne Förderprogramme und Stipendien, ohne Zuschüsse und Preise könnten viele Akademikerinnen und Akademiker eine akademische Karriere vergessen.
Nun stellt sich die Frage: Warum macht der Staat das? Warum leistet sich eine Gesellschaft Künste und Wissenschaften? Ohne dass bei ihnen ökonomisch was rausspringt (von der berüchtigten „Umwegretabilität abgesehen)? Alles Übrige, mitunter sogar der Sozialstaat, wird immer wieder nur unter dem Gesichtspunkt des Profits gesehen, dessen Maximierung bekanntlich das höchste und alles bestimmende Prinzip ist. Wieso gibt’s dann Geld für brotlose Branchen, die nichts abwerfen als ein bisschen Sinnesreiz und soziale Distinktion?
Man mag sich das mit einer diffusen Ideologieproduktion erklären. Wenn die öffentliche Hand den Daumen auf der Kulturproduktion hat, kann diese nicht ins Kraut schießen. Zwar sind sind in aller Regel Kulturschaffende ohnehin nicht die Revolutionäre und Anarchisten, für die manche sich halten wollen, sondern biedere Mitläufer eines Betriebs, der in Lizenz Muster ohne störenden Wert herstellt. Abhängigkeit von Staatsknete mag das begünstigen. Nicht dass aus öffentlichen Mitteln genährte Künste und Wissenschaften notwendig staatsfromm, unfrei und unkritisch sein müssten. (Was sie freilich mancherorts sind.) Aber staatstragend und systemkonform sind sie allemal. Die Hand, die man beißt, wird einen nur ungern füttern oder gar nicht.
Aber erklärt denn das das Phänomen des institutionellen staatlichen Mäzenatentums schon hinreichend? Oder soll man noch ins Kalkül ziehen, dass eine rein privat finanzierte kulturelle Produktion eine Tendenz zur staatsfernen Gesellschaftskritik haben könnte? Dass auf sich allein gestellte Kulturschaffende womöglich kooperative Arbeitsformen entwürfen und verwirklichten, die unangenehmerweise bewiesen, dass nicht alles Produktive als Konkurrenz und Unterordnung organisiert sein muss? Dass „Kultur“ außerhalb eine geschützten Rahmens womöglich mehr Leute erreichte und sie anders beeinflusste?
Auch das überzeugt noch nicht restlos. So gefährlich ist Kultur nicht für den Staat und die Wirtschaft, der er dient. Geht es also um Ablenkung und Zerstreuung, darum allzu bedenklich wuchernde Nachdenklichkeit über die herrschenden Verhältnisse zu verhindern? Das leisten doch Sport, Populärkultur und Unterhaltungselektronik viel effizienter. Allenfalls mag es ein genehmer Effekt sein, dass eine breit geförderte kulturelle Produktion die einzelne Hervorbringung entwertet, weil sie in der Masse verschwindet, so sie nicht als populäre Ware ohnehin schon in den Dienst der Verwertung gestellt ist.
Es bleibt rätselhaft. Warum gibt der Staat das Geld seiner Untertanen für etwas aus, für das sich die meisten Leute (die trotzdem dafür zahlen) nicht interessieren, das ihnen geschmacklich und intellektuell fern und zuweilen sogar zuwider ist? Wer hat etwas davon?
Montag, 18. November 2024
Amerika? USA?
Bei der Anwendung der Korrektur ergibt sich freilich eine kleine Schwierigkeit. Das heißt, eigentlich eine große, die das Vorhaben zunichte macht,
Denn in dem Ausdruck „Vereinigte Staaten von Amerika“ ist ja „Amerika“ enthalten (obwohl der Staat gar nicht alle Staaten des Kontinents umfasst und manche, wie etwa Mexiko, selbst föderal organisiert, also „Estados unidos“ sind). Ersetzt man im Ausdruck „Vereinigte Staaten von Amerika“ das unkorrekte „Amerika“ aber nun durch die korrekten „„Vereinigte Staaten von Amerika“, so erhält man die „„Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von Amerika“, was nach neuer Korrektur verlangt. Man gelangt zum infiniten Progress: „Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von den Vereinigte Staaten von“ usw. usf. (Es änderte offensichtlich nichts, wenn man ins Englische auswiche: USUSUSUSUSUSUS of ...“ etc.)
Auch wenn es nicht korrekt ist, werde ich also weiterhin auch Amerika sagen und schreiben, wenn ich die USA meine. Das entspricht nicht nur einem häufigen Sprachgebrauch von Bewohnern der USA („Amerikanern“), sondern auch von anderen Amerikanern: Wer in Mexiko von den „Estados Unidos“ spricht, meint meist nicht sein Heimatland Mexiko, sondern dessen nördlichen Nachbarn. Und erspart mir die unkorrekte Redeweise, an logischen Schwierigkeiten irre zu werden ...
Sonntag, 17. November 2024
Aus einem noch ungeschriebenen Roman
„Ich habe die sportlichen Jungs nie beneidet“, sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Begehrt vielleicht, aber nicht beneidet. Körperliche Bewegung um der körperliche Bewegung willen war mir immer unverständlich und, wenn man mich dazu zwingen wollte, zuwider.“
„Sie sind ganz auf einander und auf die Hindernisse fokussiert, die sie mit spielerischer Leichtigkeit zu überwinden suchen. Sie brauchen keine Zuschauer. Was für eine Wohltat inmitten all des Selbstdarstellungswahns im Internet und anderswo.“
„Nun, Sie immerhin sehen ihnen zu. Und jeder im Park kann das. Wer weiß auch, ob sie nicht nur üben, um einander später, wenn sie’s können, zu filmen.“
Theodor hörte mir gar nicht zu. „Es ist, als würden Certeaus Gedanken über die listige Aneignung des urbanen Raums in überaus kraftvolle und anmutige Bewegungsabläufe übersetzt!“, schwärmte er.
Ich schwieg. Aneignung des Raums? Oder vielmehr vorfabriziertes Modell einer Freizeitbeschäftigung ― denn die zwei hatten Parcours ja nicht erfunden ―, um Zeit totzuschlagen und dabei die hässliche und vernunftwidrige Verbautheit der Stadt zu leugnen und so zu tun, als wäre alles ein Spaß. Anpassung an entfremdete Körpernormen und Vergeudung von Kraft und Leidenschaft. Sport erschien mir seit langem als unschöne Verkörperung der kapitalistischen Maximierungsmaxime: höher, schneller weiter, Leistung nicht um eines sinnvollen Zweckes willen, sondern bloß um der eigenen Zurüstung, des Ausstechens von Konkurrenz und eben der Unterwerfung unter ein Prinzip willen.
Theodor war ganz verliebt: „Schaun Sie nur, bei jedem Salto fällt ihnen die Mütze vom Kopf und wird hinterher in aller Seelenruhe wieder aufgesetzt. Sie muss eben sein.“
Für mich hatte das Zwanghafte daran nichts Sympathisches. Aber ich sage nichts. Die Jungs waren wirklich schnuckelig, und ich gönnte es Theodor, sich an ihnen zu erfreuen, auch wenn ich seine Deutungen ihres Tuns nicht teilte.
Samstag, 16. November 2024
Notiz zur Zeit (234)
Die niederländische Regierung hat sich darüber fast zerstritten, ob anti-marokkanischer Rassismus in ihren Reihen erlaubt sei oder nicht. Man hat beschlossen, alles zu leugnen. Anlass waren die brutalen Attacken israelischer „Fußballfans“ gegen Amsterdamer Einheimische, die von Medien, auch internationalen, zu der Fiktion verdreht worden waren, die Israelis seien von Antisemiten „gejagt“ worden. Die übliche Täter-Opfer-Umkehr. Statt also die eigene Bevölkerung vor zionistischer Bedrohung von Leib und Leben zu schützen, opfert die Regierung sie eine Propagandalüge (was dumm war, denn die Amsterdamer konnten ja erzählen, was wirklich passiert war; aber das können die überlebenden Bewohner Gazas auch und keiner hört auf sie); und dann sondert sie noch einen Teil der Bevölkerung als „nordafrikanischer Herkunft“ aus und beschuldigt sie, die rassistisch diskriminierten, des gewalttätigen Rassismus. Regierendes Gesindel.
Wer sich jetzt, nach dem „Bruch der Ampel“, darüber empört, dass die Protagonisten des Versagens unbeirrt und unbelehrbar wieder zu Wahl antreten wollen, hat selbst nicht verstanden, was das Problem war und darum weiterhin ist: Inkompetenz, Unfähigkeit zur Selbstkritik, Konzeptlosigkeit, Durchwurstelmentalität. Die können nicht anders. Aber deswegen muss man sie (oder ihr schwarzes Gegenstück) ja nicht wählen
Donnerstag, 14. November 2024
Notiz zur Zeit (233)
Warum will jemand, der halbwegs bei Verstand ist, Merz und seine CDU wählen? Der Mann ist ein neoliberaler Ausbeuter und Ausbeuterkumpan, er setzt voll auf willkürlichen Sozialabbbau und das systematische Reichermachen von Reichen. Wieso das Leute gut finden, die davon garantiert nicht profitieren werden, verstehe, wer will. Mit Merz wird es auch keine der notwendigen Maßnahmen zum Abschwächen des Klimawandels und seiner katastrophalen Folgen kommen. Derlei würde ja Unternehmensprofite schmälern. ― Also auch bei den Unionswählern: Suizidale Gelüste? Zumindest sozialer Masochismus?
Wieso zum Teufel liegt die FDP in Umfragen schon wieder bei fünf Prozent? Gerade waren es erfreulicherweise nur noch drei. Goutieren die Leute tatsächlich das destruktive Verhalten von Lindner & Co. und können deren Programm „Haut die Armen, hätschelt die Reichen, scheißt aufs Klima!“ etwas abgewinnen?
Talkshows sind Gratisreklame für irrelevante Polit-Zombies. Ohne diese hemmungslos volksverblödenden Quasselsendungen hätte es keinen Aufstieg der AfD gegeben, kaum einer kennte die Wagenknecht ― und habe ich nicht sogar die Rohrkrepierer Scholz und Lindner schon wieder irgendwo wichtigtuerisch herumsitzen sehen müssen? So schnell kann man gar nicht wegschalten, dass einem diese Kanaillen nicht den Bildschirm verpesten. Und das meint nicht nur die Gäste, auch die hirntoten „Talkmasterinnen“ (beiderlei Geschlechts). „Journalismus“ als Steigbügelhalterei. Das Schlimme ist, dass das Publikum derlei Dreck anscheinend unterhaltsam findet und die realitätsfernen Diskurs-Simulationen womöglich zur Grundlage von Wahlentscheidungen macht. Dann lieber Glücksrad.
Montag, 11. November 2024
US-Faschist will Russlands Herrscher die Ukraine schenken, die ihm nicht gehört
Was heißt da „Gegenzug“? Beides sind innige Wünsche Putins. „Überlasst mir euer Territorium (und eure Bürger), dafür bestimme ich dann eure Außen- und Sicherheitspolitik.“ Das ist kein Friedensplan, das ist völkerrechtswidrige Anerkennung von Annexion, Kapitulation vor einem Aggressor und Unterwerfung unter eine mörderische Diktatur.
Die Ukraine ist ein souveräner Staat. Als solcher kann sie jeder Organisation beitreten, die sie aufnehmen will. Alles andere ist eine Abwertung des ukrainischen Staates zu einem Protektorat Russlands.
Und es geht auch nicht um Gebiete, die da abgetreten werden sollen, sondern um Millionen Menschen. Was schon jetzt in den von Russland besetzten Gebieten geschieht, all die Repressalien, Folterungen, Verschleppungen und Morde, kann doch kein anständiger und vernünftiger Mensch gutheißen oder gar durch internationales Recht garantieren wollen. Keiner darf zulassen, dass noch mehr Menschen in Putins Fänge geraten.
Sonntag, 10. November 2024
Unterwegs (19)
Vom Land sind diese Leute unzweifelhaft wegen ihres verrotteten Dialekts und ihrer derben Umgangsformen. Und Proletarier oder Kleinstbürger, weil sie dem Inhalt ihrer Reden nach alle in derselben Fabrik arbeiten.
Zum Glück dauerte die Fahrt für mich nur zwölf Minuten. Aber das genügte, um den Ekel gegen den Bodensatz der Gesellschaft der Einheimischen einmal mehr mächtig werden zu lassen.
Unterwegs (18)
Angesichts der grellbunt aufgemachte und dickleibigen „Romane“ (und ganz ähnlich angelegten „Sachbücher“), mit denen heutige Buchhandlungen vollgestopft sind, scheine ich vergessen zu haben, dass es wohl immer noch ein Publikum für Groschenromane gibt … (Aber gibt es diese dünnen Literaturersatzhefte überhaupt noch?)
Als ich dann zum Bezahlen drankomme, mache ich eine launige Bemerkung zur Verkäuferin über die Sorgen der Nichtleserinnen, und dass man sich als Vielleser bald wie ein Außerirdischer vorkomme. Darauf sie. „Mein Deutschlehrer hat mir auch die Lust am Lesen genommen.“
Unterwegs (17)
Endlich weiß ich, was „toxische Männlichkeit“ ist: Wenn einer Kochtipps gibt!
Auf die Idee, dass die besagten Frauen schlecht in der Küche sind und besagter Mann ihnen etwas Gutes tun will (während der besagte andere Mann entweder keine Hilfe braucht oder ein hoffnungsloser Fall ist), ist die Erzählerin anscheinend noch nie gekommen. In ihrer Vorstellung können Frauen vermutlich sowieso alles und brauchen keine Ratschläge von Männern. Sollte man das nicht „toxische Weiblichkeit“ nennen? Die Vergiftung der Welt durch wichtigtuerische Frauen, die glauben, alles und jeden beurteilen zu können, weil sie modische Begriffe nachplappern.
Donnerstag, 7. November 2024
Nicht Angst, sondern Hass
Wer Angst hat, dem kann man Mut machen. Wie soll man Rassisten, Nationalisten, Verächtern alles Schwachen, den Gewalt- und Autoritätsfixierten, den dumpfen, kulturlosen Hinterwäldlern (auch der Städte) Mut machen?
Die tatsächlichen Bedrohungen leugnen sie: Putin, China, Klimawandel, Umweltzerstörung, Tech-Milliardäre und ihre menschenfeindlichen Größenwahnsinnigkeiten. Stattdessen fürchten sie allenfalls, Rücksicht nehmen zu müssen und Gleichberechtigung versuchen zu sollen, fremde Wünsche und Gedanken zu verstehen, neue Lösungen für alte Probleme kennenzulernen, kurzum, das Gewohnte auch mal in Frage stellen und womöglich den gewohnten Lebensstil ändern zu sollen.
Wer so wählt, hat keine Angst, sondern will Angst machen. Will schreien: „Ich bin das Volk und bringe alle um, die anders sind, als ich zu sein glaube!“ Und will bedingungslos Clowns folgen, die mindestens so verkommen und hirnlos sind wie man selbst.
Solche Leute müssen mit allen Mitteln bekämpft werden, Aufklärung und „ernst nehmen“ sind da völlig sinnlos. Die Anliegen derer, die hassen, diskriminieren, unterdrücken, ausschließen wollen, sind nicht berechtigt. Da gibt es nichts zu argumentieren. Da gibt es nur Bürgerkrieg. Der findet bereits statt. Und die falsche Seite hat eine gewaltige Schlacht gewonnen.
Demokratie als Problem
Ich sage nicht, „der Mensch an sich“ sei böse und dumm. Ich sage, unter den herrschenden Verhältnissen, die bestimmt sind von Ausbeutung, Umwelt- und Kulturzerstörung, Unterdrückung und Verdummung, muss sich zwangsläufig die Tendenz zum Unvernünftigen, Realitätsverweigernden, Autoritätshörigen und in jeglicher Hinsicht Unfreien durchsetzen.
Nicht also, dass bei den freien Wahlen in den USA lächerliche und widerliche Kandidaten in mächtige Ämter gewählt wurden, ist dass entscheidende Problem, sondern dass die Leute, die diesen grotesken Gestalten in großer Zahl ihre Stimme gaben, das Lächerliche und Abstoßende überhaupt nicht wahrnehmen oder nicht wahrhaben wollen. Ebenso wie sie ignorieren oder leugnen, dass die Politik, für die diese Schießbudenfiguren stehen, ihren ureigensten Interessen zuwiderläuft, sie ärmer machen wird, dümmer und wie gesagt unfreier. Vom Schaden für andere und die ganze Welt gar nicht zu reden.
Wenn Demokratie nicht verhindern kann, dass Faschisten an die Macht kommen, läuft etwas schief. Dann sollte man noch einmal über politische Methoden und Institutionen nachdenken. Und auf keine Fall so tun, als wäre ohnedies alles in Ordnung, weil die Demokratie formell ja funktioniert. (Noch.)
Mittwoch, 6. November 2024
Scholz hört auf und bleibt
Es ginge auch anders: Rücktritt (oder Vertrauensfrage) jetzt, Neuwahlen noch in diesem Jahr, neue Regierung bis Februar. Das wäre sauber und anständig. Und respekrvoll gegenüber dem Wahlvolk, das doch angeblich durch seine Vertreterinnen und Vertreter über die Regierung bestimmt.
Stattdessen regieren also mit SPD und Grünen auch weiterhin Parteien, die Umfragen zu Folge nur von 26 Prozent der Wählerinnen und Wählern gewählt würden (was ungefähr einem Fünftel der Wahlberechtigten und noch viel weniger der erwachsenen Gesamtbevölkerung entspricht).
So geht parlamentarische Demokratie? Pfui.
Dienstag, 5. November 2024
Balken & Splitter (107)
Notiz zur Zeit (232)
Sonntag, 3. November 2024
Demokratie als Alptraum
Obwohl ich bekanntermaßen von Wahlen nichts halte und mir Wahlresultate meist ziemlich gleichgültig sind, bin doch, mit Verlaub, nicht dumm, sondern mir bewusst, dass der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA erhebliche Auswirkungen haben wird (irgendwie sogar auf mich), auch wenn sich selbstverständlich im Grundsatz nichts ändern, sondern der Kapitalismus bleiben wird ― und mit dieser ungerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auch deren unvermeidliche Wirkungen Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung.
Auch wenn also diese Wahlen nichts ändern, dessen Änderung erforderlich wäre, um ein besseres Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen, sind die Unterschiede zwischen dem, wofür Harris und Trump jeweils stehen, doch entscheidend.
Trump ist nicht nur lächerlich, hässlich, dumm und niederträchtig, er steht auch für Illiberalismus, Autoritarismus, Repression und Gewalt. Harris für Toleranz, Integration, Reformismus, Pluralismus. Beide verkörpern unterschiedliche Formen des Hedonismus und Konsumismus, aber den Unterschied möchte ich, wie man so schön sagt, Klavier spielen können ― und wäre ein international gefeierter Virtuose.
Und doch ist es insofern egal, wie die Wahl ausgeht, denn ob nun Trumps Wähler 50, 40 oder 25 ausmachen, eine Gesellschaft, in der überhaupt „mündige Bürger“ in relevanter Zahl etwas so Dummes und Bösartiges und Abstoßendes zu wählen bereit sind (und es zu nicht geringem Teil sogar fanatisch als Erlösergestalt feiern), muss durch und durch verrottet sein.
Dieser Widerspruch zwischen offensichtlich unerträglicher Erscheinung (zur Mahnung: auch Hitler, Mussolini et cetera waren alberne Clowns) und der völligen Leugnung des Offensichtlichen, die zudem mit dem Akzeptieren widerlicher Botschaften und Pläne einhergeht, ist nicht leicht aufzulösen. Der Irre schwärmt von Ausbeutung, und seine Anhänger, selbst Ausgebeutete, jubeln. Er präsentiert sich als Rassist, und seine gar nicht so unbunt zusammengewürfelten Fans stoßen sich nicht daran. Er ist nachweislich ein Lügner, verurteilter Verbrecher und ein Ehebrecher, und seine Jünger verehren ihn als Heilsbringer und Erneuerer der Moral. Wie soll einem da nicht in den Sinn kommen: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber.“
Wie geht das zu, dass Menschen ihre politischen Entscheidungen entgegen ihren Interessen treffen, dass sie jemandem ihre Stimme geben, der zwar das Blaue vom Himmel verspricht, dabei aber immer wieder verrät, dass er die Lebensbedingungen aller verschlechtern, die Umweltzerstörung vorantreiben und demokratische Mitbestimmung einschränken will?
Selbst wenn Harris also die Wahl gewinnt, bleiben die, die sie nicht gewählt, haben und vor allem die, die den bösen Clown gewählt haben und immer weder solche Leute wählen werden, doch zahlreich und mächtig. Moralisch enthemmt stellen sie im Namen der Moral ihre Affekte über jede Rationalität. Solche Leute braucht der Populismus. Sie sind nicht nur dumm, sie stellen sich dumm, sie empfinden höchste Lust dabei, dumm und bösartig zu sein. Sie lieben es, gegen andere zu sein, deren Rechte und Wünsche eigentlich nicht geringer zu achten wären als ihre eigenen, aber sie agieren eben auch gegen ihre eigenen Rechte und Interessen. Es begeistert sie, in einem Fest der zerstörerischen „Selbstlosigket“ alle Vernunft über Bord zu werfen und das Schiff gegen den Eisberg steuern zu lassen.
Der Populismus ist der Alptraum der Demokratie. Sie kann ihn nicht verhindern, denn er ist im Prinzip mit ihr identisch, jedenfalls mit der modernen Massendemokratie: Unqualifizierter Pöbel trifft aus dem Bauch heraus dumme Entscheidungen, die alle benachteiligen ― alle außer den Superreichen, die gar nicht zur Wahl stehen und deren wenige Stimmen doch faktisch so viel mehr zählen als die von Millionen.
Populisten missbrauchen demokratische Verfahren, weil diese von vornherein darauf angelegt sind, missbraucht werden zu können. Wer Politik vom Votum der Masse abhängig macht, unterwirft sie denen, die die Massen zähmen oder entfesseln. In moderaten politischen Systemen binden Parteien und andere Institutionen die Leute ein und sorgen unter anderem dafür, dass Leidenschaften gedeckelt und Machtwechsel geordnet und harmlos bleiben. Man wählt, damit sich ab und zu etwas zu ändern scheint, während das Wesentliche gleich bleibt.
Der Populismus hingegen, als ein demokratisch maskierter Extremismus, setzt Kräfte frei, die Differenzen dramatisieren und Gewalt und Rechtsbruch als letzte Mittel zur Verwirklichung des Gewollten durchaus akzeptieren. Man wählt, um nicht mehr wählen zu müssen, um also das, was ohnehin gleich bleiben soll, endgültig unantastbar zu machen. Wobei freilich die Wähler glauben, es gehe um ihren Willen, und die Gewählten wissen, es geht darum, die Interessen der Profitmaximierer durchzusetzen.
Volksherrschaft ohne zivilisatorische Einhegung und Einschränkung ist unweigerlich Terror. Wenn die bestimmen, die mehrheitlich dumm und bösartig sind, kann nichts Gutes dabei herauskommen. Dann wird Demokratie auf ihre eigene größte Schwäche, das Mehrheitsprinzip, reduziert. Doch eigentlich ist Rechtsstaatlichkeit weit wichtiger als all die Abstimmerei, denn nur durch jene und nicht durch diese werden die Rechte der Einzelnen, dieser kleinstmöglichen Minderheiten, geschützt. Der Populismus als monströs hypertrophierte „Demokratie“ hasst jedoch Minderheiten (und darum Abweichungen und Dissidenz). „Wir sind die Mehrheit, wir bestimmen, wo’s lang geht“ ist freilich nur eine Abart des unrechten „Rechts“ des Stärkeren, also der Gewaltherrschaft.
Stark aber bleiben die Extremen ja eben auch, falls diesmal noch die gemäßigte Kandidatin die Wahl gewinnen sollte. Was ich hoffe, auch wenn ich mir von Harris lediglich verspreche, dass sie nicht Trump ist. Sollte der aber wieder gewählt werden, dann gute Nacht! Der Alptraum wird endlos.
Donnerstag, 31. Oktober 2024
Notiz zur Zeit (231)
Unterwegs (16)
Heute Nachmittag in Baden bei Wien. Gleich
als ich den Feinkost-Laden betrat, rief ich: „Bitte zweite Kassa
aufmachen!“ Niemand kann also sagen, ich hätte nicht rechtzeitig
einen Lösungsvorschlag gemacht. Für ein Problem, dass überhaupt erst noch
auftauchen sollte. Als ich dann nämlich eine Viertelstunde später zum Bezahlen anstand (mit einem Artikel) und die Schlange fünfzehn Meter
lang war. Es ging eine lange Weile nur schleppend voran. Schließlich waren dann aber nur noch drei oder
vier Leute vor mir. Da rief jemand vom Ende der Schlange her:
„Bitte zweite Kassa aufmachen!“ Ich rief zurück: „Jetzt ist
das auch nicht mehr nötig, ich bin gleich dran!“ ― Ich finde
mich lustig und beneide die Leute um das Gratis-Kabarett, das ich
ihnen biete. Leider sind die meisten meiner Mitmenschen offenkundig
humorlos oder begriffsstutzig oder beides. So wird das selbstverständlich nichts mit der Weltverbesserung.
Samstag, 19. Oktober 2024
Abgekürztes Gespräch über Ethik
„Und warum?“
„Wir können nicht ...“
„Halt! Da ist er schon, der entscheidender Denkfehler. Wer sind ‘wir’? Wieso gehören die Zuwanderer nicht dazu? Warum spielen deren Bedürfnisse und Wünsche keine Rolle?
Donnerstag, 17. Oktober 2024
Unterwegs (15)
In einer, denke ich mir, in der auch mutmaßliche Straftäter Rechte haben. Vielleicht ist der Beschuldigte reich oder seine Familie ist es. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vertretung vor Gericht etwas kostet und reiche Angeklagte teure Anwälte haben können.
Und wir leben auch in einer Gesellschaft, sage ich mir, in der private Tragödien zur Unterhaltung des Pöbels nicht nur vor Gericht, sondern auch in „den Medien“ verhandelt werden. Bluttat, Drogen, schwuler Sex, was will man mehr, da kann man sich so schön gruseln und empören. Die Volksseele kocht vielleicht nicht über, aber sie wird auf hoher Temperatur gehalten.
Fast muss man froh sein, dass, wie ich später erfahren werde, der „Axtmörder“ Österreicher ist und sein Opfer Bulgare war ― und nicht etwa umgekehrt. Welche Empörungsorgie hätte sich dem Gelegenheitsrassismus sonst geboten! Übrigens muss die Zeitung mehr als eine Woche alt gewesen sein, als man mir heute daraus vorlas. Anscheinend hat nicht nur die Bahn zuweilen Verspätung, sondern auch das ausliegede Erregungspotenzial.