Freitag, 26. April 2024

Ist die Demokratie in Gefahr?

Dauernd ist die Demokratie durch irgendetwas gefährdet. Meistens durch irgendeine Entwicklung, von der angegeben wird, sie sei neu, und die irgendjemand mit Sorge sieht. Früher war das anders. Früher waren die Menschen einfach bessere Demokraten.
Sie waren am Geneinwohl und nicht bloß am Eigeninteresse interessiert, sie waren weniger abgelenkt, sie lasen noch gedruckte Zeitungen, sie waren kritisch, aber tolerant, sie waren gebildet und weltoffen, sie redeten noch von Angesicht zu Angesicht miteinander und äußerten sich nicht bloß in den platten Formen des Internets und seiner sozialen Medien, sie waren allesamt friedlich und lösten Konflikte stets ohne Schreierei und Gewalt und vor allem waren sie keine Nazis, nie und nimmer.
Heute sind die Leute unvorsichtig oder verführbar oder undankbar oder bösartig. Jedenfalls ist in Gefahr, weil irgendwer irgendwas sagt und tut oder nicht tut.
Früher stand es besser um die Demokratie, weil es keine Stammtische gab, keine Politikerbeschimpfungen, keine unhaltbaren Gerüchte, keine Massendemos, keine Terroristen, keine Boulevardhetze, keine Wehrsportgruppen, keine Ostspione, keine Kriege. Usw.
Heute ist es leider anders, weil heute heute ist und nicht gestern und sich die Dinge ändern und auch die Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen. Das gefährdet die Demokratie. Jedenfalls die Demokratie, wie man sie bisher kannte. Oder gekannt zu haben meint.
Früher regierten in der BRD entweder CDU oder SPD mit Hilfe eines Koalitionspartners oder CDU und SPD miteinander. Heute regieren entweder CDU oder SPD mit Hilfe von Koalitionspartnern oder CDU und SPD miteinander. Im Grunde regiert immer eine Einheitspartei von in Wort und Tat kaum unterscheidbaren und darum austauschbaren Statthaltern des Kapitals.
Es hat sich nichts geändert außer dem äußeren Schein. Gestern war Demokratie ein schlechter Witz und Wahlen ein teurer Spaß, heute ist es ebenso. Ob nun drei Parteien im Parlament vertreten sind oder dreißig, die Macht liegt bei anderen. Die müssen niemanden kaufen (und tun es doch), denn das System gehört ihnen sowieso. Und die Bevölkerung nimmt das hin, interessiert sich gar nicht sonderlich dafür, sondern lässt sich bespaßen und regt sich über Belangloses auf.
Auch der Populismus ist nichts Neues. Er ist in der Massendemokratie angelegt. Weil man den Leuten immer eingeredet hat, ihre Stimme zähle, und sie irgendwann feststellen, dass das nicht der Fall ist, darum wollen sie, dass irgendwer in ihrem Namen dagegen ist und das so, wie sie selbst gern wären: Rücksichtslos, unverantwortlich, rechthaberisch und brutal. Populismus ist Überbietung der Demokratie mit deren eigenen Mitteln.
Was wirklich gefährdet ist, sind Vernunft, Rücksichtnahme, zivilisierte Umgangsformen. Usw. Aber die hängen nicht von der Demokratie ab und tragen zu ihr nur insofern bei, als sie sie bei Bedarf verharmlosen und verklären. Es geht auch ohne sie.
Die Demokratie gefährdet sich also allenfalls selbst. Anders gesagt, sie verändert sich, wie sich so vieles verändert und dabei riskiert, nicht das Gleiche und nicht dasselbe zu bleiben. Die Demokratie wird nicht notwendig dadurch geschwächt, dass sie nach anderen Regeln funktioniert als denen, die nie galten. Die Stärke der Demokratie war es immer, Vordergrund zu sein für Machenschaften im Hintergrund. (Darüber zu sprechen, ist Verschwörungstheorie und gefährdet die Demokratie!). Also das, was durch Wahlen und Parlamentsarbeit nicht in Frage gestellt werden kann: Die Wirtschaftsordnung. Das Reicherwerden der Reichen. Das Inschachhalten aller anderen. Demokratie ist eine feine Sache, wenn man sie mit offener Diktatur vergleicht. Wenn man sie an ihren Ansprüchen misst, ist sie eine Gefahr für alle und jeden.

Freitag, 12. April 2024

Generationengeschwätz

Es ist recht leicht zu erklären, dass die Leute Unsinn reden, wenn sie von Generationen reden, obwohl sie eigentlich Jahrgänge (und meinetwegen Jahrgangsgruppen) meinen. Ich gebe ein leicht zu überblickendes Beispiel:
A wurde im Jahr 1900 geboren und bekam 1920 das Kind B und 1930 das Kind C; B bekam 1940 das Kind D und C bekam 1960 das Kind E; ebenfalls 1960 wurde F geboren, das Kind von D.
B und C sind Geschwister. D und C sind Cousins oder Cousinen. C ist darum Onkel oder Tante von F, obwohl beide im selben Jahr geboren wurden.
Generation bezeichnet die Stellung in der Generationenfolge: Großeltern, Großonkel und Großtanten sind eine Generation, Eltern, Onkel und Tanten eine andere, Geschwister, Cousins und Cousinen die nächste, dann kommen Kinder und Neffen und Nichten, dann die Generation der Enkel, der Großneffen und Großnichten. Die Stellung zur vorigen, eigenen und folgenden Generation ist unabhängig vom Alter. Die Geschwister meiner Eltern (und deren Cousins und Cousinen) sind beispielsweise auch dann meine Onkel und Tanten,  wenn sie nach mir geboren wurden.
Das Gerede von „Boomern“, „Millennials“, „Z“ und wasweißich als Generationen ist also unsinnig. Die Stellung in der Abfolge der Generationen besagt nämlich nichts über die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Erfahrungen oder Gewohnheiten.
Im Übrigen tut das ja nicht einmal die Zugehörigkeit zum selben Jahrgang oder zur selben Gruppe von Jahrgängen (in einer Weltgegend). Es stimmt einfach nicht, dass alle, die ein ähnliches Alter haben, allesamt unter denselben Bedingungen aufwuchsen, dieselben Ereignisse auf gleiche Weise erlebten, dieselbe Musik hörten, die gleiche Kleidung trugen, denselben Ideen-Moden folgten usw. usf.
Das Generationgeschwätz, also die rhetorischen Kollektivbildungen mit ihren „Wir“ und „Ihr“, mögen zwar die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Abgrenzung und einfach überschaubaren Verhältnissen befriedigen, sozial- und individualgeschichtlich sind sie allerdings fragwürdig und größtenteils wertlos.

Sonntag, 7. April 2024

Ein halbes Jahr Wahnsinn

Man darf offensichtlich seit bereits sechs Monaten nichts zu Palästina und Israel sagen, ohne die „Gräueltaten“ vom 7. Oktober 2023 zu verurteilen vom „Islamischen Widerstand“ (Hamas) als abscheulichen Terroristen zu sprechen. 
 
Ich verurteile nicht. Das heißt nicht, dass ich billige. Ich versuche zu verstehen und lasse mich nicht zu einem rituellen Kotau zwingen. Verstehen zu wollen, und erst recht Verstädnis zu zeigen, gilt aber bei vielen bereits als „Antisemitismus“ und Aufforderung zu einem neuen „Holocaust“.

Ich bin ein friedliebender Mensch. Von mir aus muss niemand gewaltsam sterben, kein Palästinenser, kein Israeli, kein Moslem, kein Jude. Ich wäre für ein friedliches Zusammenleben aller. Dass die Realität eine andere ist, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich muss damit leben, dass andere sterben, weil sie von wieder anderen getötet werden. Ich weiß selbstverständlich auch nicht, wie man den „Nahostkonflikt“ lösen kann. Ich weiß nur, dass es keine Konfliktlösung gibt, wenn Recht und Unrecht nicht benannt werden. Die Begriffe zu verdrehen und Ursachen und Wirkungen zu verschleiern, trägt zu einer künftigen Lösung gewiss nichts bei.

Dass unter dem Deckmantel von „Solidarität“ Verbrechen gebilligt oder nicht angesprochen werden, finde ich unerträglich.

Ich bin nicht solidarisch mit Israel. Ich bin mit keinem Staat der Welt solidarisch.

Solidarisch bin ich allenfalls mit Menschen. Und es ist meine Gewohnheit und meine Überzeugung, in Konflikten, wenn überhaupt, immer die Partei der Schwächeren, der Bedrängten und Verfolgten zu ergreifen. Das sind in diesem Fall die Palästinenser.

Der Staat Israel ist im „Nahostkonflikt“ nicht das Opfer, sondern der Täter. Dass heißt nicht, dass die Gegenseite alles richtig macht und nicht auch mitunter Schuld auf sich geladen hat. Aber man muss doch die ganze Geschichte (und nicht nur den Mythos) erzählen und vor allem Ursachen und Wirkungen unterscheiden

Israel ist es ein Staat, den es nie hätte geben dürfen. Das zionistische Programm „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ war von Anfang an eine Lüge. Denn Palästina war ja in Wahrheit alles andere als unbewohnt. Trotzdem dort siedeln und sogar einen Staat errichten zu wollen, war also von vornherein ein Programm der Verdrängung, Vertreibung, Ausrottung.

Das Projekt eines „Judenstaates“ war von Anfang an „völkisch“ (also rassistisch), nationalistisch, imperialistisch, kolonialistisch. Der Plan war, einen eigenen Staat nur für sich zu haben, was in einer bereits unter Staaten und deren abhängigen Gebieten verteilten Welt nur auf Kosten eines anderen Staates (in diesem Fall: des Osmanischen Reiches; Überlegungen sich ein britisches Kolonialgebiet wie Uganda oder ein französisches wie Madagaskar zu verschaffen, wurden ja bald verworfen) und vor allem auf Kosten der dort einheimischen Bevölkerung (in diesem Fall: arabische Muslime und Christen) gehen musste.

Schon früh hat es im Zionismus kluge Männer und Frauen gegeben, die davor warnten, dass ein künftiges jüdische Gemeinwesen, dass nicht den Ausgleich und die Zusammenarbeit mit der arabischen Bevölkerung zur Grundlage habe, unweigerlich zu Hass und Mord und Totschlag führen werde. Aber „Kulturzionisten“ wie Martin Buber oder Judah Leon Magnes (um nur zwei der berühmtesten zu nennen) wurden beiseite geschoben, ignoriert und zum Teil angefeindet. Sie haben aber offensichtlich Recht behalten.

Antizionismus ist kein „Antisemitismus“. Sonst wären ja zum Beispiel auch alle tief religiösen Juden, die den säkularen Staat Israel ablehnen, weil nur der Messias das Königtum wieder aufrichten darf, Judenhasser.

Ich erlaube mir schon deshalb, den Staat Israel abzulehnen, weil ich Anarchist bin und jeden Staat ablehne. Darum bin ich auch weder Anhänger einer Zweistaatenlösung noch einer (binationalen) Einstaatenlösung, sondern bin für die Nullstaatenlösung.

Sind die Kämpfer der Hamas Terroristen? Zweifellos. Aber Terrorismus ist nicht das, wofür ihn Politiker und ihre willfährigen Politkommentatoren und die Medienmeute halten. Es handelt sich schlicht um nicht-staatliche Gewaltanwendung mit politischen Zielen. Jeder, der mit irgemdeinem Staat auf Kriegsfuß lebt, wird von diesem als „Terrorist“ diskreditiert werden.

Und man bedenke eines: Der Staat Israel ist auf Terrorismus gegründet. Mit Gewalt wollten zionistische Kämpfer die britische Mandatsmacht dazu zwingen, ihnen das palästinensische Territorium zu überlassen. Es gab unzählige Bombenattaentate und mörderische Überfälle. Sogar ein hochrangiger Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, wurde ermordet. Er hatte vermitteln wollen und das heute noch bestehende Hilfswerk UNRWA gegründet. Zu den Auftraggebern des Mordes gehörte auch der spätere Regierungschef Yitzhak Shamir. Aus einigen der zionistischen Terroristentruppen gingen die israelischen Streitkräfte hervor.

Es ist eine Lüge, dass der Staat Israel als Zufluchtsort von Entkommenen und Überlebenden der millionenfachen Entrechtung, Beraubung, Verfolgung, Verschleppung, Ermordung durch das nationalsozialistische Deutschland gegründet worden sei. Gewiss, vor und nach 1945 sind Bedrohte und Verfolgte auch nach Palästina und dann nach Israel ausgewandert. Aber gegründet wurde der Staat vor allem von Zionisten, die längst im Land war. Und von denen waren einige, so ungeheuerlich es klingt (aber es ist historisch belegt), gar nicht so unzufrieden mit der nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Erstens erhoffte man sich dadurch verstärkte jüdische Zuwanderung. Zweitens ermordeten die Nazis nicht zuletzt die osteuropäischen „Schtetl-Juden“, die von den westeuropäisch geprägten, säkularen Zionisten als „rückständig“ verachtet wurden, zumal sie meist zutiefst religiös geprägt und darum eher antizionistisch eingestellt waren. ― Geschichte ist nie so schwarz und weiß, wie man sie gern hätte. Von den mythischen „sechs Millionen“, auf die sich der Staat Israel dauernd beruft, wäre ein großer Tel von den Zionisten nie ins Land gelassen worden. Das macht sie nicht zu Mittätern an den deutschen Verbrechen, aber zu „Zuschauern“ (in der Terminologie Raul Hilbergs.)


Die wenigsten Juden und Jüdinnen, die das Grauen der nationalsozialistischen Herrschaft überlebt hatten, wollten in das immer noch recht unterentwickelte, heiße und gefährlich britische Mandatsgebiet Palästina. Wenn sie doch dorthin übersiedelten, war es oft eine Notlösung. Manche freilich zogen aus dem Erlebnis der Bedrohung und Verfolgung den Schluss, dass nur ein starker jüdischer Staat ihnen und ihren Nachommen Sicherheit bieten könne. Gerade erst den Nazis entkommen, interessierte sie das Schicksal von Nichtjuden wenig. Die Welt hatte bei der Vernichtung des europäischen Judentums mehr oder minder weggeschaut, warum wollte sie sich für die Entrechtung und Vertreibung von ein paar Arabern interessieren?


Die Gründung Israels geschah nicht in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Vereinten Nationen. Denn deren Pläne sahen bekanntlich zwei Staaten vor (und Jerusalem als „neutrale“ Einheit). Mit deutlich anderen Grenzen, als dann gewaltsam durchgesetzt wurden.


Israel ist der einzige Staat der Welt, der verlangt, dass sein „Existenzrecht“ anerkannt wird. Dieses Geschwätz ist der schamlose Versuch moralischer Erpressung, Denn unterschwellig (und zuweilen auch explizit) wird die „Existenz“ des jüdischen Staates gleichgesetzt mit dem Existieren, will sagen: Leben und Überleben von Juden und Jüdinnen überhaupt. Wer Israels „Existenzrecht“ leugnet oder in Frage stellt, will doch in Wahrheit die Gaskammern wieder in Betrieb nehmen. Darum muss das Existenzrecht Israels immer wieder bekräftigt und jede Leugnung oder Infragestellung aufs äußerste verurteilt werden. Der Wille der Zionisten geschehe.

Es hilft den viele, vielen Juden und Jüdinnen in aller Welt, gar nichts, darauf zu bestehen, dass der Zionismus und sein Staat nicht im Namen aller Juden und Jüdinnen sprechen dürfen. Die Zionisten und prozionistischen Juden und Nichtjuden sind dabon unbeeindruckt.

Die dumme Frau brillierte damals mit der seither gern nachgeplapperten Formel, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Man merkte, wenn man denn wollte (und konnte), dass sie nicht wusste, was das Wort bedeutet. Wenn etwas „aus Staatsräson“ geschieht, dann heißt das, dass politisches Interesse über das Wohl und Wehe der Einzelnen gestellt wird und zwar meist unter Missachtung von Anstand und vielleicht sogar geltendem Recht. Das dürfte sie hoffentlich nicht gemeint haben. Vielleicht hatte sie, die allerdings fremdsprachlich unterversorgt war, Staatsräson mit raison d’être verwechselt. Aber Israels Sicherheit zum Daseinsgrund der BRD zu erklären, geht dann doch etwas weit, oder?


Die Gründung Israels war eine Kriegserklärung nicht nur an die arabische Bevölkerung Palästinas, sondern an alle arabischen und muslimischen Staaten der Umgebung (und weltweit). Dass es immer so dargestellt wird, als hätten diese den jungen, unschuldigen Staat überfallen, ist Geschichtsklitterung. (Das macht aus den arabischen Regimes nicht die Guten.)


Seit seiner Gründung befindet sich Israel im Krieg, auch wenn gerade nicht mit den Nachbarstaaten gekämpft wird. Erst recht seit der Besetzung der palästinensischen Restgebiete und der völkerrechtswidrigen Annexion fremden Staatsgebietes gibt es keinen Frieden, allen Verträgen zum Trotz. Und es kann auch keinen geben, solange noch Flüchtlinge und Unterdrückte leben.


Der Staat Israel ist das hochgerüstetste Gemeinwesen der Welt, inklusive Atombomben. Die eigene Volkswirtschaft könnte das nicht finanzieren. Israel ist völlig abhängig von Militärhilfe durch die USA und andere „Verbündete“. Diese sind somit alle Komplizen der israelischen Verbrechen: Besatzung, Entrechtung, Vertreibung, Folter, Mord. (Und darum logische Ziele terroristische „Vergeltung“; dass es in dieser Hinsicht zu so wenig Aktionen kommt, ist verwunderlich. Man muss dafür dankbar sein.)


Gibt es überhaupt so etwas wie israelische „Zivilisten“? In Israel gilt eine allgemeine Wehrpflicht, für Männer und Frauen. Ausgenommen sind arabische israelische Staatsbürger und waren bisher „Ultraorthoxe“. Somit ist jeder (nicht-orthodoxe) jüdische Israeli also entweder Soldat oder war es oder wird es sein. Es handelt sich um eine durchmilitarisierte Gesellschaft. Umgekehrt sind alle Palästinenser im Gazastreifen Zivilisten. Es gibt ja keinen anerkannten palästinensischen Staat, der Streitkräfte hätte, also gibt es auch keine palästinensischen Militärangehörigen. Die Mitglieder des „Islamischen Widerstandes“ (Hamas) gelten ja für Israel als Terroristen, nicht als Soldaten.


Es wäre sicher grausam, wenn man sagte: Am 7. Oktober haben die Israelis bekommen, was sie verdienten. Aber dieser furchtbare Gedanke liegt nahe. Nach Jahrzehnten der Besatzung, der Demütigung, der Entrechtung, der Vertreibung, der Schikanen, der Folter, der alltäglichen Gewalt, des Mordens usw. usf. schlagen palästinensische Terroristen zurück.


Die klare Benennung der gegen Israel und die israelische Bevölkerung gerichteten Aktivitäten der „Islamischen Widerstandsbewegung“ (Hamas) als Reaktion auf die israelische Politik rechtfertigt diese Aktivitäten nicht. Sie stellt nur historische und politische Fakten fest. Dass aber derlei von interessierter Seite bereits als Billigung und Feindpropaganda hingestellt zu werden pflegt, zeigt, dass gerade diese Seite illegitim handelt. Wer die Wahrheit scheuen muss, ist nicht im Recht.


Grundsätzlich im Recht zu sein, aber sein Recht nicht zu bekommen, rechtfertigt nicht jede daraufhin erfolgende Handlung. Man kann die Unterdrückung der Palästinenser verurteilen, ohne deshalb Tötungen (oder Entführungen) zu billigen.


Die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) ist eben dies: eine Widerstandsbewegung. Das zu sagen, ist weder eine Billigung der Ziele noch der Mittel. Es ist ein wahrheitsgemäße Feststellung.

Die Mitglieder der „Islamischen Widerstandsbewegung“ (Hamas) sind keine „Antisemiten“. Sie handeln nicht aus irrationalem Judenhass oder weil sie einfach böse sind. Sie kämpfen gegen Unterdrücker. Und wenn ihre Unterdrücker Eskimos und Buddhisten wären, dann kämpften sie eben gegen Eskimos und Unterdrücker. Aus palästinensischer Perspektive ist der Umstand, dass die, die sie entrechtet haben und loswerden wollen, Juden sind, gleichsam zufällig. (Naturgemäß hingegen nicht aus der Sicht der zionistischen Herrenmenschen, die sich nehmen, was sie wollen, und töten, wen sie wollen, naturgemäß nicht.)


Die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) ist weder gewalttätiger noch grausamer als viele andere Befreiungsbewegungen, die es gibt und gab. Das Etikett „Terroristen“ ist belanglos. Für den südafrikanischen Apartheidstaat war auch Nelson Mandela ein Terrorist.


Nochmals: Wer es ungehörig und unerträglich findet, wenn in Bezug auf Palästinenser von Widerstand und Befreiung gesprochen wird, verfolgt seine eigenen politischen Ziele und ist an nüchterner Wahrheit nicht interessiert.


Die israelische Propaganda versucht nicht nur, terroristischen Reaktionen auf israelische Unterdrückungspolitik als grundlos und willkürlich darzustellen, sie will die Gegner des real existierenden Zionismus auch dämonisieren und entmenschlichen. In den westlichen Medien gelingt das leider nur zu gut.


Vieles, was über die Gewalttaten vom 7. Oktober berichtet wurde, hat sich als unwahr erwiesen. Vieles weitere dürfte das noch, wenn es denn genauer untersucht würde. Die abgeschlachteten Säuglinge etwa waren wohl ein Gräuelmärchen. Vermutlich ebenso die Behauptungen von Vergewaltigungen. Jedenfalls darf der israelischen und israelhörigen Berichterstattung nicht getraut werden, zu oft schon wurde von dieser Seite nachweislich gelogen.


Kaum verbreitet wurde die Nachricht, dass Opfer der Anschläge erzählten, dass sie von den Terroristen, während sie vorübergehend in deren Gewalt waren, gut behandelt wurden ― und dass israelische Sicherheitskräfte beim Versuch der „Befreiung“ von Festgehaltenen dermaßen rücksichtslos auf alles gefeuert hätten, dass dabei auch Geiseln starben.


Ob die entführten Israelis leben oder sterben, scheint die israelische Regierung nicht zu interessieren. Oder sollen bei den massiven Bombardements des Gazastreifens wie durch ein Wunder nur „Terroristen“ (und ganz, ganz wenige Zivilisten), aber keine Geiseln umkommen?

Als besonders abscheulich wurde dargestellt, dass die Terroristen ein friedliches Musikfestival überfallen und Besucher dieser Veranstaltung getötet hätten. Ohne die Taten im mindesten zu rechtfertigen, darf man doch auf die Perversität verweisen, eine gigantische Technoparty gleich neben dem zu veranstalten, was manche das größte Freiluftgefängnis der Welt genannt haben: dem Gazastreifen.

Sechs Monate ist der palästinensische Überfall auf von Israel beanspruchtes Gebiet jetzt schon her. Es ist nicht recht verständlich, dass die außerordentliche israelische Reaktion, die zu massenhaftem Tod und massiver Zerstörung im Gazastreifen geführt hat, immer noch andauert und immer noch nicht das proklamierte Ziel der „Vernichtung der Hamas“ erreicht haben soll. Es scheint also um ein anderes Ziel zu gehen. Durch Bombardierung, Erschießungen, Hunger und medizinische Unterversorgung sollen so viele Palästinenser wie möglich sterben. Der Rest soll nach Möglichkeit vertrieben werden.


Völkermord ist nur konsequent innerhalb der zionistischen Zielvorgabe, einen von Nichtjuden freien Staat zu schaffen.


Beim israelischen Vorgehen geht es nicht um „Selbstverteidigung“. Um sich zu verteidigen, muss man keine Unbewaffneten, keine Kinder töten.


Man darf die ungeheuren Verbrechen, die Israel in den letzten sechs Monaten im Gazastreifen (und anderswo) begangen hat, niemals vergessen. Ob man sie dem jüdischen Volk je vergeben kann, müssen spätere Generationen beurteilen. ― Ja, ich sage „jüdisches Volk“, denn obwohl es erfreulich viele Juden und Jüdinnen gibt, die einzeln oder in Vereinigungen gegen das Unrecht, das auch in ihrem Namen begangen wird, protestieren, hört man nichts von den jüdischen Gemeinden in aller Welt. Während bei jedem als islamistisch geltenden Anschlag immer wieder völlig unbeteiligte Muslime aufgefordert werden, sich schleunigst zu „distanzieren“, während der Islam unter den Generalverdacht gestellt wird, eine gewalttätige Religion zu sein, ist es unmöglich an einen Zusammenhang von jüdischer Religion und mörderischer Gewalt auch nur zu denken (obwohl die Bibel da etwas anderes erzählt). Die jüdischen Gemeinden machen sich durch ihre Unterstützung oder ihr Schweigen zu Komplizen von Terror, Kriegsverbrechen und Völkermord. Daran wird man sie erinnern müssen.


Komplizen sind auch alle Nichtjuden und Nichtjüdinnen, die schweigen oder zustimmen. Manche gehen sogar so weit, gegen jeden zu hetzen, der versucht die Wahrheit zu sagen, wenn ihnen diese Wahrheit nicht passt. Sie erzählen oft ihre eigene Geschichte vom „Nahostkonflikt“, in dem die Palästinenser seit Jahrzehnten völlig grundlos gegen die völlig unschuldigen Israelis kämpfen und die ihnen angebotenen Lösungen immer wieder ausschlagen. Sie leugnen strikt Apartheid und Unterdrückung. für sie ist Israel eine musterhafte mit tollen Stränden und einem aufregenden Nachtleben. Die Realität in Gaza und dem Flickwerk des der „Autonomiebehörde“ teilunterstellten „Bantustan“ interessiert sie nicht. Mit ihrer bedenkenlosen Solidarität mit Israel versuchen sie vermutlich, die Beteiligung ihrer Groß- und Urgroßeltern an der Schoah symbolisch ein bisschen auszugleichen.


In der BRD wird „Israelkritik“ zu „Israelfeindschaft“ umdefiniert und diese zu Antisemitismus und dem Wunsch nach millionfachem Mord umgedeutet. Wer vom Leid der Palästinenser spricht, gilt fast schon als Nazi.


Das Gerede „israelbezogenen Antisemitismus“ ist ein zionistischer Propagandatrick. Nochmals: Man kann Israel und den Zionismus von Grund auf ablehnen, ohne deshalb auch nur im geringsten judenfeindlich zu sein. Es mag „Antizionismus“ geben, der judenfeindlich motiviert ist, aber daraus folgt nicht, dass man zionistisch oder prozionistisch agieren muss, um nur ja nicht judenfeindlich zu sein.


Die Angst vor „Antisemitismus“ (also Judenhass) ist in der BRD so groß, dass sie längst ins Hysterische gekippt ist. „Antisemitismus“ gilt als etwas, wovon man befallen sein kann, ohne dass es einem bewusst ist. Wie ein Virus, mit dem man sich infiziert hat, ohne es zu merken. Und dieser Virus wird anscheinend durch (auch immateriellen) Kontakt übertragen. Überall kann er lauern. Er wird aus vorauseilender Panik auch dort gefunden, wo er nicht ist (vgl. z. B. Dokumenta-Skandal), also weit häufiger unterstellt als sachlich erwiesen. Dazu werden Definitionen absurd weit gefasst. Bald ist es so weit, dass gilt: „Du sagst, du bist kein Antisemit? Warum sagst du das? Das ist verdächtig. Also bis du einer!“ ― Unterdessen bleibt im Wahn von Antisemitismus-Schnüffelei und Gedenkgerede echte Judenfeindschaft unangetastet.


In der BRD gilt es bereits als verfassungsfeindlich, wen man öffentlich „From the river to the see“ äußert, man braucht „Palestine will be free“ gar nicht mehr hinzuzusetzen. Auch die Forderung „Free Palestine“ gilt als Anschlag auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung und hat Demonstrationsverbote und Strafanzeigen zur Folge. Freheit ja, aber doch nicht für die.


Die BRD isoliert sich auch im akademischen Diskurs immer mehr. Die hysterische Feindschaft gegen renommierte Denkerinnen wie Judith Butler (und neuerdings Nancy Fraser) ist ebenso dumm wie lächerlich. Sie schadet der intellektuellen Auseinandersetzung. Man kann und darf verschiedener Meinung sein, aber die Ächtung jeder Kritik an israelischen und zionistischen Positionen ist ein Akt der Vernichtung von Diskussionsmöglichkeiten und dient nur dem Schüren von Konflikten, nicht deren Lösungen. 
 
Man darf nicht aufrechnen. Jeder einzelne Tote ist für sich genommen betrauernswert. Zahlen und Zahlenverhältnisse existieren aber. Bei den Anschlägen vom 7. Oktober kamen 859 israelische Zivilisten (und 322 Soldaten und 58 Polizisten) ums Leben. Durch den israelischen Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens starben seither Zehntausende. Ob 40.000 oder 50.000 oder mehr, ist schwer zu sagen. (Den israelischen Angaben glauben die westliche Medien aufs Wort, palästinensische gelten als „nicht überprüfbar“.) Die Fernsehbilder von den Zerstörungen der Gebäude und vom unsäglichen Leid der Menschen sprechen allerdings für sich. 
 
Der Wille, möglichst viele zu töten, macht auch vor humanitären Helfern nicht Halt. Die Mitarbeiter von „World Central Kitchen“ wurden gezielt gejagt und getötet. Der israelische Premier konnte sein Lachen kaum unterdrücken, als er den „Fehler“ in eine Fernsehkamera hinein „bedauerte“. ― Den Menschen in Gaza auch nur ein wenig beim Überleben zu helfen, ist ganz gegen das, was Israel will. In dieser Logik können Helfer ruhig sterben.

Nur Ausrottung und Vertreibung sind innerhalb der zionistischen Logik eine Lösung. Denn selbst wenn es gelänge, alle jetzigen Mitglieder der „Islamischen Widerstandsbewegung“ (Hamas) zu töten ― solange es Palästinenserinnen und Palästinenser gibt und der Staat Israel existiert, der sie entwürdigt, entrechtet, beraubt, foltert und tötet, solange werden immer neue „Terroristen“ heranwachsen, Kämpfer und Kämpferinnen gegen das Unrecht.


Man darf es nicht sagen, aber biblisch gesprochen stehen einander David und Goliath gegenüber. Die Palästinenser und die unmoralischste Soldateska der Welt. Es steht zu befürchten, dass die Geschichte diesmal anders ausgeht als in der Bibel.

Dienstag, 2. April 2024

Die armen Tesla-Schnösel

Beiläufig und mit wenig Interesse lese ich, dass es Leute gibt, die in den letzten Jahren für erstaunlich viel Geld Elektroautos der Marke „Tesla“ gekauft hatten, sie derzeit wieder loswerden wollen und missvergnügt feststellen müssen, dass sie ihnen kaum jemanden abkaufen möchte, und wenn, dann nur zu einem unangenehm niedrigen Preis. Das liege an Elon Musk und seinem schlechten Ruf, der auch auf die Waren von „Tesla“ zurückschlage.
Ach, was für ein Schicksal! Die armen Reichen sind ehrlich überrascht. Das hätten sie nicht gedacht. Sie hatten sich ja ohnehin nicht ein chic überteuertes E--Fahrzeug zugelegt, weil sie ― was ja auch absurd gewesen wäre ― Elektromobilität für nachhaltig und umweltfreundlich gehalten hätten, sondern weil sie Angeber waren, die für ihren Wohlstand und ihr fortschrittliches Modebewusstsein bewundert und beneidet werden wollten. Und nun das. Sie werden bestraft, obwohl sie nichts richtig gemacht haben. Buhuhu, Immer trifft es die Falschen.

Samstag, 23. März 2024

Moskau brennt (ein bisschen)

„Schreckliche Bilder“? Nein, finde ich nicht. Ich finde es schön, wenn Moskau ein bisschen brennt. Von mir aus könnte es als ganzes brennen. Und die 115 Toten, die vermeldet werden, sind eine gute Nachricht. Ein toter Russe kann keine Ukrainer mehr umbringen.
Ist das grausam, unmenschlich, böse? Keineswegs. C’est la guerre. Die Moskowiter haben dem Westen den Krieg erklärt. In der Ukraine (und Syrien und …) führen sie ihn schon. Grausam und unmenschlich. Nicht nur Putin, der moskowitische Staat und seine Bevölkerung, die ihn trägt und funktionieren lässt, sind böse.
Aber gibt es nicht auch Unschuldige und sogar Oppositionelle? Ja, sofern sie nicht tot oder weggesperrt oder emigiert sind. Aber ich vermute, sie gegen nicht in lustige Musicals, während ihr Feind die Ukraine mit Luftangriffen terrorisiert. Es ist gut, dass die Moskowiter mal spüren, wie es ist, wenn man seines Lebens nicht sicher sein kann.
Mir ist völlig egal, wer den Anschalg ausgeführt hat, der Is ider das Fähnchen Fieselschweif. Das Mörderregime wird dafür haftbar machen, wer immer ihm passt. Entscheidend ist der Effekt. Tote Russen sind, man muss es leider sagen, gute Russen. Terrorismus ist eine Reaktion auf Terror. Unzureichend, aber angemessen.
Sie haben Bosheit gesät, sie werden Bosheit ernten. Möge es China und all den anderen Diktaturen genauso ergehen.
 
Nachtrag. Nun sollen es schon mehr als 130 Tote sein.  Von mir aus auch gerne mehr. Das Land und sein Volk sind aus eigenem Antrieb im Krieg, da wird eben gestorben. Ich hätte auch kein Problem damit, wenn, wie es Putin gerne hätte, die Ukraine dahintersteckte (was freilich nicht der Fall ist). Damit gibt er ja nur zu, dass mitten in seiner Hauptstadt, allem Terror, aller Unterdrückung, aller Überwachung zum Trotz sein militärischer Gegner zuschlagen kann. Wenn es irgendwelche Terroristen waren (und sie waren es wohl), auch gut. Die Feinde unseres Feindes sind nicht unsere Freunde, aber wenn sie ihm schaden, dann ist das etwas Gutes.
Die Anteilnahme der westlichen Medien ist mir unverständlich. Von Russland ermordete Ukrainer sind augenscheinlich weniger interessamt als Russen, zu denen Tod und Schrecken, die sonst sie in die Welt bringen, zurückkehren. Rührende Bilder von Blumen und Teddybären. Als ob da ein Unfall passsiert wäre und nicht ein Gegenschlag in einem Krieg. (Welchem auch immer, Russland führt viele.) Und was sagt der Kreml dazu, ja was sagt er denn, sagt er bald was, warum sagt er denn nichts? Ach, jetzt sagt er was! Mir doch egal. Es sind sowieso Lügen. Warum wird solcher Unsinn überhaupt berichtet, mit Sondersendungen und von Expertinnen und Experten abgesondertem Deutungssekret.
Mögen die Toten in Frieden ruhen. Aber dass sie tot sind, ist nur bei den Einzelnen vielleicht betrauernswert, nicht aber politisch. Da haben sie es sich selbst zuzuschreiben.

Donnerstag, 21. März 2024

Glücklich und zufrieden?

Die Finnen und Finninnen sind die glücklichsten Menschen der Welt, lese ich. Und von den Österreichern und Österreicherinnen, lese ich, sind mehr als zwei Drittel mit ihrem Leben zufrieden. Da stellt sich mir doch die Frage: Und du, bist du glücklich?
‘tschuldigung, aber wie soll das gehen? In der Welt, in der ich lebe, verrecken Menschen an Hunger und hausen im Elend, werden in Kriegen zerfetzt, werden weggesperrt und gefoltert, werden systematisch ausgebeutet, vergiftet, verblödet. Die Weltordnung ist eine Weltunordnung und Menschen tun Menschen Böses an. In der Gesellschaft, in der ich lebe, sind ein Drittel der Leute bereit, ihre Stimme von Nazis kaum zu unterscheidenden Rechtspopulisten zu geben, und die anderen sind auch nicht besser, niemand scheint ersthaft daran interessiert, die sozialen, ökonomischen, ökologischen Probleme im eigenen Land geschweige in der Welt anzugehen. Und da soll ich glücklich und zufrieden sein?
Nun ja, wird man sagen, aber dein Glück hängt doch nicht vom Wohl und Wehe anderer ab. Doch, tut es. Dass Wissen um das ungeheure und so unnötige Leiden viel zu vieler meiner Mitmenschen, während andere in Saus und Braus leben, macht mich traurig und wütend. Ich bin entsetzt über die Missstände und den Mangel an Bereitschaft, etwas dagegen zu tun.
Manchmal möchte ich den Leuten ins Gesicht schlagen und sie in den Arsch treten. Seid ihr verrückt, möchte ich sie anschreien, euch das gefallen zu lassen! Wie könnt ihr es hinnehmen, von solchem Gesindel regiert zu werden? Mag sein, dass es euch gut geht oder zumindest erträglich, aber kapiert ihr denn nicht, dass ihr durch eure konsumistisch-hedinistischen Grundhaltung, eure Erwerbsgesinnung, euer Wir-wir-wir-Denken und all eure Anstrenungen der Unterhaltung, Ablenkung, Zerstreuung, Betäubung zu Komplizen und Komplizinnen einer menschenverachtenden Maschinerie des Unrechts, der Unmoral, der Unanständigkeit seid?
Wie kann man glücklich sein, wenn auch nur ein Menschenbruder oder eine Menschenschwester es nicht sein kann? Wie kann man zufrieden sein, wenn man nichts dagegen tut? Sich wehrt? Wenigstens dagegen ist?
Il faut cultiver notre jardin? Scheiß drauf. Wir müssen aus diesr Welt die beste aller möglichen machen. Das sind wir einander schuldig. Alles andere ist verbrecherisch. Für Glück ist dann immer noch Zeit genug. Vorher nicht.

Freitag, 1. März 2024

Meiner Omi zum 120. Geburtstag

Heute, am 1. März 2024, jährt sich zum einhundertundzwanzigsten Mal der Geburtstag meiner Großmutter. der Mutter meiner Mutter. Meine Omi war in meinen ersten fünf Lebensjahren meine wichtigste Bezugsperson. Sie wohnte bei uns und kümmerte sich um mich. Sie ging mit mir spazieren (wobei ich zunächst im Wägelchen lag oder saß) und sie war es auch, die mir vorlas und mir Kinderlieder beibrachte. Und andere Lieder. Denn neben „Alle meine Entchen“, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ usw. begegnete ich durch sie auch Kunstliedern wie „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Brüderlein fein“, „Am Brunnen vor dem Tore“ usw. Und auch Schlagern. Ganz besonders ist mir „Mein Schatz ist ein Matrose“ in schönster Erinnerung.
Ich war fünf, als Omi starb. Schlaganfall mit 67. Beugte sich am Tisch sitzend hinunter, um eine zu Boden gefallene Patience-Karte aufzuheben ― und zack! Ich war dabei. Seither (53 Jahre) kann ich mich zu nichts Hinuntergefallenem beugen, ohne an meine Großmutter und ihren plötzlichen Schlaganfall zu denken …
Weil ich so klein war, als meine Omi starb, sind fast alle anderen Anekdoten, die ich mit ihr verbinde, Erzählungen anderer. Etwa, dass ich beim gemeinsamen Spaziergang, auch schon aus dem Kinderwagen heraus, meine kleinen Hände gern durch Zäune steckte, weil ich unbedingt ein dahinter befindliches „Hundi“ streichen wollte, was bei meiner Großmutter selbstverständlich Entsetzen auslöste, weil sie wusste, dass nicht jeder Hund so lieb war, wie ich ihn hatte. Es ist mir zum Glück nie etwas passiert. Und ein Hundefreund bin ich geblieben.
Bezeichnend für mich ist auch die Geschichte, dass meine Omi beim Vorlesen von Märchen, Sagen, Kinderbüchern gern ein bisschen was übersprang, sei es, weil sie die Geschichten schon hundertmal hatte vorlesen müssen, sei es, weil sie müde war, woraufhin ich, dem die Texte ja nur allzu bekannt waren, immer gesagt haben soll: „Das stimmt nicht, da fehlt etwas!“
Mein Großmutter, eine ausgebildete Erzieherin (und später Hausfrau und Mutter, auch ihrer beiden Stiefsöhne), war das, was man eine einfache Frau nennt. Sie war zurückhaltend, ruhig, bescheiden, still, unauffällig, herzensgut und arm. Als sie starb, hinterließ sie nicht viel, schon gar nichts Wertvolles. Ich „erbte“ zwei Sachen, die sie immer in ihrem Nachtkästchen aufbewahrt hatte: eine Dose mit lauter einzelnen Knöpfen in unzähligen Formen und Farben und ein dickes, kleines, mit einer Messingschließe versehenes Buch mit starrem Einband, darauf ein Kruzifix, wohl eher aus aus Zellophan denn aus Bein, gar Elfenbein. Mit beidem, der Knopfsammlung und dem Gebetbuch, hatte ich ab und zu spielen dürfen. Gelesen hatte ich in dem Büchlein allerdings nie, ich lernte ja erst Lesen, als Omi schon tot war.
Lange Jahre bewahrte ich das Gebetbuch auf, vergaß es wohl fast, und erst als Jugendlicher, wohl mehr als zehn Jahre nach Omis Tod, fiel es mir wieder in die Hände und ich schlug es auf. Zu meinem großen Erstaunen war es auf Tschechisch verfasst!
„Deine Großmutter konnte noch Tschechisch, ihre Eltern waren ja Tschechen“, sagte meine Mutter ungerührt, als ich ihr von meiner Entdeckung berichtete. Ich war verblüfft. Ich hatte gewusst, dass die Mutter meiner Mutter in Wien geboren war. Nun erfuhr ich, dass ihre Eltern aus Mähren stammten, bei der Eisenbahn gearbeitet hatten („Eisenbahnerböhmen“ nannte und nennt man diese tschechischen Arbeitsmigranten in Wien; es gab zum Beispiel auch „Ziegelböhmen“, die in den Ziegeleien am Wienerberg schufteten). Meine Mutter konnte sich auch noch an den Vornamen ihres Großvaters und den Mädchennamen ihrer Großmutter erinnern. Ich staunte.
Die Nachricht, dass meine geliebte Omi Tschechisch gekonnt hatte, überraschte mich aber nicht nur, sie erschütterte mich. Wie gesagt, von ihr war ich in die Welt der gestalteten Sprache eingeführt worden, Märchen, Sagen, Kindergeschichten, Lieder und Gedichte hatte ich von ihr und durch sie gelernt. Aber kein einziges tschechisches Wort war ihr dabei je über die Lippen gekommen, kein Abzählreim, keine Liedzeile, nichts. Wie konnte das sein?
Ich weiß nicht, warum es so war, aber ich kann es mir denken. Tschechisch galt einst in Wien (und ganz Deutsch-Österreich) als unerwünscht, nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg oder in der Nazi-Zeit. In der Reichshaupt- und Residenzstadt gab es eine große tschechische Minderheit, aus Böhmen, Mähren und Schlesien zugewanderte Handwerker, Arbeiter und Dienstboten (darunter die berühmte „böhmischen Köchinnen“, die die „Wiener Küche“ geschaffen haben). Im Laufe der Jahre kam es für einige zum sozialen Aufstieg, sogar ein Tschechisches Gymnasium gab es in Wien, und so wie die Deutsch-Böhmen betrachteten auch die die Deutsch-Wiener ihre tschechischen Mitbürger immer mehr als Konkurrenz und entwickelten eine bizarre Feindseligkeit. Unter dem heute fast nur noch für seinen strategischen Antisemitismus bekannten Bürgermeister Lueger mussten Tschechen und Tschechinnen, wenn sie das Wiener Bürgerrecht erwerben wollten, einen Eid ablegen, dass sie hinfort ihre Muttersprache nicht mehr gebrauchen, sondern nur noch Deutsch reden würden!
Es gab also gute Gründe, warum meine Großmutter, die den Untergang der Monarchie, die aufgewühlte Zwischenkriegszeit und die Nazizeit (in der sie in Thüringen in einem Kinderheim arbeitete, ihre kleine Tochter, meine Mutter, bei einer fürsorglichen Bauernfamilie zurücklassend, wo sie wie ein eigenes Kind aufwuchs) überstanden hatte, ihre Muttersprache „vergaß“, also lieber dauerhaft für sich behielt und nicht mehr verwendete. Mag ja sein, dass zwischen 1966 bis 1971, als sie mich aufzog, solche Vorsicht nicht mehr unbedingt nötig war, aber sie, die mir so viel an Liebe, Zuwendung und durch Vorlesen, Vorsingen, Vorsprechen eben auch sprachlicher Kompetenz schenkte, kam wohl gar nicht auf die Idee, mich auch mit ein paar Wörtern in der Sprache meiner Vorfahren zu beschenken. Das ist verständlich, aber traurig.
Ich mache meiner Großmutter nicht den geringsten Vorwurf. Im Gegenteil, ich sehe sie als Opfer (und in der Folge auch meine Mutter und mich). Ein Opfer der in Österreich üblichen Vergangenheitsunterdrückung durch Verleugnung und Vergessen. Ostösterreich war immer schon, seit Römerzeit und Mittelalter und erst recht seit den Zeiten der Vielvölkermonarchie, ein Einwanderungsland und ist es bis heute. Das macht auch viel vom Charme insbesondere Wiens aus, wo sich immer noch Menschen sehr verschiedener Herkünfte, Traditionen und Kulturen niederlassen. Aber offiziell wird davon nahezu nichts repräsentiert. Überall vorhanden, sind die Zugewanderten doch unauffällig. Man bleibt unter sich, passt sich an, gibt sich, übertrieben gesagt, auf. Die zweite, dritte Generation verliert unter Umständen schon die Muttersprache, das kulturelle Wissen, die Bräuche, vielleicht sogar die Religion der Herkunft. Alle reden nur noch „Deitsch“. Zumindest Wienerisch (was sie vom Gegrunze und Geröchel der Westösterreicher unterscheidet). So ist das eben.
Aber mir ist das nicht gleichgültig. Ich hätte gern als Fünfjähriger wenigsten auf Tschechisch bis fünf zählen können (wie ich es übrigens seit dreißig Jahren zufällig auf Finnisch kann). Oder ein tschechisch Lied im Ohr gehabt haben. Oder …
Es hat nicht sein sollen. Österreich ist eine gewaltige Herkunftsvernichtungsmaschine, geschichtsbesessen, aber auch geschichtenvergessen. Einer der vielen Gründe, warum ich mich hier, wo ich geboren bin und von Geburt an die Staatsbürgerschaft besitze, ganz im Ernst als Migrant fühle. Also nicht nur wegen meiner ukrainischen, slawonischen, „krowodischen“, banatdeutschen usw. usf. Vorfahren, sondern auch wegen der böhmischen, mährischen, schlesischen (wie ich inzwischen weiß: auch von der Seite des Vaters meiner Mutter).
Vor einiger Zeit tauchten alte Dokumente wieder auf, die die Erinnerung meiner Mutter an den Mädchennamen ihrer Großmutter bestätigten und die auch den Mädchennamen von deren Mutter nannten: Pinkas. Hoppla, ein eindeutig hebräischer Nachname! War die Mutter der Mutter der Mutter meiner Mutter jüdischer Abstammung? (Wodurch dann lustigerweise auch ich, halachisch gesehen, sozusagen Jude wäre …) Leider konnte ich dieses Stammbaumrätsel bisher nicht lösen. Auch ein Fall von Erinnerungsabbruch, Dokumentmangel nach zwei großen Krieg und anderen Verwüstungen. Es liegt ja aber auch nichts daran.
Obwohl ich also, abstammungsmäßig gesprochen, ein mindestens halber Tscheche bin (mit womöglich einem Einsprengsel vom Stamme Levi), kann ich bis heute nicht Tschechisch und war auch nur selten in der Tschechischen Republik. Vielleicht ist es zu spät für mich, mich mit meiner Herkunft zu identifizieren, aber um das angenehme Gefühl der Fremdheit zu haben, reicht es. Und zum Jammern über Verlorenes und Unmöglichgemachtes sowieso ― was wiederum sehr österreichisch ist.
Odpočívej v pokoji, babičko!

Samstag, 24. Februar 2024

Zum 24. und 27. Februar

In westlichen Ländern haben viele die Befürchtung, darunter auch viele Politiker und Gestalter der öffentlichen (und privaten) Meinungen, die Befürchtung, die militärische Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den russischen Angriff könne, wenn sie zu weit gehe oder von der Ukraine zu weireichend verwendet werde, den Westen in den Krieg hineinziehen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben solche Befürchtungen nicht. Sie sind schon seit zehn und erst recht seit zwei Jahren in den Krieg hineingezogen, täglich sterben in der Ukraine Menschen oder werden verwundet, Gebäude und Infrastruktur werden beschädigt oder zerstört. Luftalarm ist „Normalität“ in der Ukraine, ebenso die Angst um Familienmitglieder oder Freunde und Bekannte, zumal die an der Front.
Der Krieg, den der Westen nicht führen will, wird von den Ukrainerinnen und Ukrainern geführt, ob sie wollen oder nicht. Die Alternative wäre Kapitulation. Aber wie es ist, in Russlands Hände zu fallen, könnten die Toten von Butscha und anderswo erzählen.
Man sagt den Ukrainern und Ukrainerinnen, sie sollen dankbar sein, für all die Hilfe, die sie vom Westen bekommen haben. Oh ja, sie sind dankbar, sehr sogar. Sie wären gern noch viel dankbarer für mehr und bessere Hilfe. Damit sie den Krieg, den der Westen, was ihn betrifft, vermeiden will, der aber stattfindet und tatsächlich ein Krieg gegen den Westen ist, besser führen und Menschen das Überleben sichern können.
Russland wird von einem unberechenbaren Irren regiert. Ja, mag sein, dass der diese oder jene Waffenlieferung als Kriegserklärung betrachten will. Soll man also vorsichtig sein, damit Russland geschont wird und nur Ukrainer sterben in einem mörderischen Abnutzungskrieg, aber niemand im Westen?
Ja, mag sein, das der Kremlzwerg es als „Angriff“ bezeichnen würde, wenn die Ukraine, was völkerrechtlich zulässig wäre und moralisch sowieso, im Zuge ihrer Verteidigung auch russländisches Territorium beschösse. Schon jetzt spuckt der Irre ja Gift und Galle, wenn eines seiner Kriegsschiffe oder seine schöne Brücke explodiert, erklärt sofort das Opfer Ukraine zum Aggressor und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen (oder lässt drohen).
Na und? Die irrationalen Zuckungen des Diktators können doch nicht das Kriterium für westliche Strategie sein. De Gefahr, dass Putin auf den roten Knopf drückt, besteht jederzeit. Je früher man ihm zeigt, dass man sich von ihm nichts gefallen lässt, desto besser. Aber man hat ja im Westen auch acht Jahre gebraucht, von der Besetzung der Krim und des Donbass bis zum Beginn der „Spezialoperation“ vor zwei Jahren, um die „Ukraine-Krise“ endlich als russischen Angriffskrieg zu verstehen …
Was sind all die Sonntagsreden von der Solidarität mit der Ukraine wert, wenn immer noch nicht alles getan wird, um den gewaltsamen Tod von Ukrainerinnen und Ukrainern in diesem Krieg zu vermeiden? Durch möglichst geeignete Waffen und Ausrüstungen und möglichst viel davon.
Was die Ukraine bisher geleistet hat, grenzt an ein Wunder. Was der Westen, nicht zu Stande bringt, ist beschämend. Das mächtigste Militärbündnis der Welt, die NATO, und dazu noch alle wohlmeinenden Regierungen auf fünf Kontinenten waren nicht in der Lage, das Leben auch nur eines einzigen Menschen zu retten: Nawalny wurde allen Reden und „Sanktionen“ zum Trotz ermordet, wie so viele vor ihm und vermutlich noch viele nach ihm. Nun ist das offizielle Bedauern groß und es wird viel „gedacht“ und „gemahnt“. Was bringt’s?
Putin und die Seinen sind mit Worten nicht zu stoppen. Ihrer Gewalt muss Gewalt entgegengesetzt werden. Es sei denn, man akzeptiert die Herrschaft des Bösen. Dann sollte aber bitte auch das Geschwätz von den „westlichen Werten“ aufhören.
Der Westen ist schon im Krieg, so sehr er es auch leugnet und so sehr er es auch lieber anders hätte. Die Ukrainer hätten es auch lieber anders, die lebten auch lieber im Frieden. Man kann sich nur leider die Realität nicht aussuchen, in der man lebt und stirbt, aber man kann sie womöglich gestalten. Zu gestalten versuchen. Wenn man die Mittel dazu hat oder sich verschaffen kann. Untätigkeit aus Angst spielt jedenfalls dem Gegner in die Hände. Denn zu Tode gefürchtet ist letztlich auch gestorben.

Dienstag, 20. Februar 2024

Glosse CXXXI

Nach Auskunft des Deutsche Gesellschaft für Mykologie e. V. (...) Nach Auskunft der Grammatik ist die Gesellschaft weiblich. Nach Auskunft des Vereinsrecht ist der Namenszusatz eingetragener Verein, abgekürzt „e. V., nur ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft ins Vereinsregister eingetragen ist. Und macht aus ihr kein FTM.

Montag, 19. Februar 2024

Glosse CXXX

Aus Solidarität wollen sich ein Teil der Mitarbeiter anderer Fluggesellschaften dem Streik anschließen. Aber anscheinend will das nicht alle.

Samstag, 17. Februar 2024

Wir denken nicht, uns gibt es nicht

„Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen?“ Ich verstehe die Frage nicht. Was hat das Geburtsjahr eines Philosophen mit seinem Einfluss zu tun? Muss einer denn in etwa in unserem Alter sein, um uns und unsere Lage verstehen zu können? Weil wir so besonders sind?
Wer sind überhaupt wir? Und was soll „unser Denken sein“? Haben „wir“ alle ein denken, denken wir alle auf dieselbe Weise, kommt bei uns beim Denken immer dasselbe heraus?
Ich weiß schon, dass die Neigung, das Derzeitige über alles Frühere zu stellen, bestimmend ist. Dass die Angewohnheit, Menschen in Generationen und Epochen einzuteilen und gegen einander abzuschließen, heutzutage vorherrscht. Und dass diffuse Kollektive regelmäßig durch die unübersichtliche Vorstellungswelt nicht erst meiner Zeitgenossen geistern.
Aber einem halbwegs klar denkenden, halbwegs gebildeten Menschen kann doch nicht verborgen geblieben sein, dass zu keiner Zeit alle Menschen (nicht einmal die einer Gesellschaft) alle dasselbe auf dieselbe Weise dachten und dass Philosophie ein unabschließbarer Prozess ist, in dem es Moden und Konjunkturen geben mag, indem aber ein Autor oder, richtiger, seine Texte, wenn sie je etwas zu sagen hatten, immer und so auch „heute“ noch etwas zu sagen haben, dass aber das Urteil darüber, ob dem so ist und worin das Gesagte besteht und was es wem bedeutet, immer nur Teil besagten Prozesses sein kann, also ein im Wesentlichen unabschließbares Unternehmen, bei dem das Frühere sich schwerlich als endgültig erledigt und das Aktuelle sich schon morgen als überholt erweisen kann.
Nur wo eigentlich gar nicht mehr gedacht, sondern Philosophie nur noch simuliert wird, wo Philosophaster kommerziell orientierte Spektakel anbieten, gibt es so etwas wie ein „Wir denken“ und ein „Uns beeinflusst“. Gewiss, man kann Archäologie der Gegenwart betreiben, um herauszufinden, warum die, die heute denken, so denken, wie sie denken, und aufzeigen, dass sie auch anders denken könnten, weil ja auch früher schon anders gedacht wurde. Aber dabei darf man analytische Konstruktionen nicht zu überzeitlichen Popanzen aufblasen und sollte stets gewärtig sein, dass heute schon morgen gestern sein wird.
Wenn einer zu seiner Zeit so und so gedacht hat, weil das zu den Bedingungen seiner Zeit passte, dann ist dieses Denken, sofern die Bedingungen gleich oder ähnlich geblieben sind, im selben Maße immer noch zeitgenössisch. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Wer 1724 geboren wurde, mag eine mit dem Kapitalismus seiner Zeit kompatible Philosophie vorgelegt haben. Da der Kapitalismus immer noch besteht, sich im Wandel gleich bleibend und sein Prinzip ― Profit über alles ― stets bewahrend und durchsetzend, wird besagte Philosophie, zumal wenn das damals bloß Zeitbedingte ins heute bloß Zeitbedingte übersetzt wird, noch mehr oder minder passend sein. Wenn einer aber 1724 geboren worden war und sich zum entschiedenen Gegner von profitwirtschaftlicher Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung ausgebildet hatte, wird er schon damals erfolglos und unbekannt gewesen sein und seine Schriften, so noch zugänglich, werden auch heute nur die beeinflussen können, die seine Gegnerschaft teilen wollen.
Wir denken nicht. Uns gibt es gar nicht. Die Leute werden zu allen Zeiten von dem beeinflusst, was sie für ihre Zeit halten, wie auch von dem, was weit über ihre Zeit hinausgeht. Darüber kann man mal nachdenken. Aber darüber nachzudenken, ob „ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen“ kann, ist völlig sinnlos.

Samstag, 10. Februar 2024

Rechts und gegen rechts

Es geht nicht um zwei verschiedene Vorstellungen von Politik, sondern um zwei Bedürftigkeiten. Die einen fühlen sich angesprochen vom Angebot, verachten und hassen zu dürfen. Sie wollen, dass sich etwas ändert, weil es ihnen so, wie es ist, nicht gefällt. Die anderen fühlen sich in ihrer Lage ganz wohl, aber zuweilen gestört von negativen Affekten und allzu brutalen Veränderungswünschen. Sie wollen, dass alles weitergeht wie bisher, nur irgendwie besser.
Die einen sind gegen das Etablierte, weil sie nicht dazugehören (selbst wenn sie davon profitieren), aber ihre bevorzugte Problemlösung besteht in Problemverleugnung und dem Einsatz von Problemsurrogaten, vor allem einem: Klimawandel? Migranten! Kinderarmut? Soziale Ungerechtigkeit? Migranten! Welthunger? Migranten! Pisa-Studie? Migranten!
Die einen sind für das Etablierte, weil sie sich einreden, es sorge irgendwie für sie (was nicht ganz falsch ist), und sie bestimmten ohnehin selbst darüber, wer sie regiert. Warum dann die seit Jahrzehnten anstehenden Probleme nicht gelöst werden, bleibt unerfindlich. Warum hat all die nicht-rechte Wählerei nicht zu Klimaschutz, sozialer Gerechtigkeit, guter Bildung für alle usw. geführt?
Für Demokratie sind die Rechtspopulisten und ihre Sympathisanten auch. Immerhin wollen sie ja gewählt werden und ihre Wähler wählen sie, sonst wäre ja von einer „Bedrohung der Demokratie“ gar keine Rede. So wie die einen dagegen sind, dass „rechts“ gewählt wird, sind die anderen dagegen, dass nicht „rechts“ gewählt wird. Jede Seite wirft der anderen vor, falsch zu wählen. Aber gewählt werden soll. Unbedingt
Dass aber Wahlen keine Lösung sind, belegen die Anti-rechts-Demos selbst: Sie wären ja überflüssig, wenn man darauf vertraute, dass  demokratische Wahlakte alles entschieden. Gegen das Wählen der anderen und gegen deren Meinungen, Überzeugungen, Stimmungen und Hassgefühle zu demonstrieren, obwohl amn selbst nach eigenem Bekunden in der Mehrheit ist, zeigt ja, dass man den Institutionen der Demokratie nicht vertraut. Dazu hat man auch keinen Grund.
Die andere Seite hingegen setzt darauf, dass sich durch Wählen etwas ändern lässt: Sie stimmen gegen das Bisherige für ein Anderes, das sie womöglich nicht vorhersehen können, das aber immerhin verspricht, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Wollen die einem am Gewohnten und Vertrauten festhalten, mit dem sie gfanz gut gefahren zu sein meinen, wollen die anderen den Bruch. Auch mit dem Stil und den Manieren und gegebenfalls sogar mit dem, was andere bisher für Recht und Ordnung erklärt haben. Auf dass dann eine neue Ordnung und ein anderes Recht herrschten. Das eigentliche Recht, das bisher unterdrückt wird. Sie wollen, könnte man sagen, ein neues Establishment. 
Beide Seiten sind geprägt von Selbstgerechtigkeit. Wir wissen es besser. Wir machen nichts falsch. Wir sind das Volk.

Voulez-vous ne pas coucher avec moi?

Allenthalben wird berichtet, dass einer Studie zu Folge die Franzosen heutzutage weniger Sex haben als früher. Hätten 2009 noch 58 Prozent angegeben, mindestens einmal in der Woche Geschlechtsverkehr zu verüben, seien es 2023 nur noch 43 Prozent gewesen. Der Anteil derer, die in den letzten zwölf Monaten keinen Sex hatten, stieg von neun auf 24 Prozent, in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen sogar von fünf auf 28.
Nun freut es anscheinend jeden, wenn er hört, dass andere wenig Sex haben (selbst wenn es mehr ist als man selber hat). Bei den Franzosen zumal, die immer als sexbesessen galten.
Aber es macht gewiss auch Spaß, über Ursachen zu spekulieren. Bestimmt sind die Medien schuld mit ihrem Überangebot an Erotik und Pornographie. Oder die Leute hätten zwar weniger, aber besseren Sex. Oder …
Wie auch immer. Es ist bemerkenswert, dass über ein halbes Jahrhundert nach der sexuellen Revolution die Sexualität ebenso normalisiert wie marginalisiert ist. Man kann und muss über alles reden ― in angemessener Form, am angemessenen Ort (also nicht vor Kindern!) ―, aber wer viel darüber redet …
Im Globalen Norden, wo die Repressionshypothese nie wahr war, hat die „Befreiung“ zu einer Dämpfung geführt. Immer noch geht es immer um Sex. Aber je erlaubter der Konsum ist, desto weniger erregend ist er, je präziser die Befriedigung vorauskalkuliert und wunschgerecht herbeigeführt werden kann, desto belangloser ist sie auch.
Sex ist langweilig, sagte Foucault. Und hatte wie immer Recht.

Unterwegs (14)

Ein junger Bettler sitzt dösend auf der Straße. Vor sich fünf Pappbecher, in die man Geld werfen soll. Sie sind mit kleinen Schildern versehen: „Essen“, „Bier“, „Kiffen“, „Reisen“, „Disneyland“.

Ich kann mich immer noch darüber wundern, wie fanatisch die Leute, wo sie gehen und stehen (und erst recht sitzen), auf ihre Mobiltelephone starren. ― Erinnerung an Venedig. Fahrt im Vaporetto. Canale grande, die vielleicht schönste Strecke der Welt. Was aber tat die amerikanischen Familie (Vater, Mutter, Tochter)? Sie schaute gar nicht hin, sondern glotzte auf ihre cell phones. Sie sind also um die halb Welt gereist, wohl für viel Geld, um vor Ort dasselbe zu machen wie zu Hause: zu schauen, was anderswo los ist. Real ist ihnen nicht die wunderschöne Umgebung, sondern die medial kanalisierte Simulation. Ihr Pech, könnte ich denken. Aber ich denke: Mein Pech, dass solche Leute durch ihre Unterwerfung die Welt beherrschen.

Donnerstag, 8. Februar 2024

Aufgeschnappt (bei Alfred Grosser)

Jeder hat das Recht und die Pflicht Menschenrechtsverletzungen zu benennen. Die israelische Regierung verletzt Menschenrechte. Als ich in einer Rede 1975 die Berufsverbote kritisierte, hat mich niemand als deutschlandfeindlich bezeichnet. Als ich Frankreichs Algerienpolitik kritisierte, hat mich niemand als Frankreichfeind bezeichnet. Nun heißt es, weil ich die israelische Regierung kritisiere, ich sei israelfeindlich. Das geht nicht.

In Nahost kämpft eine Macht gegen eine Ohnmacht. Die israelische Regierung spricht von Terrorismus. Es ist aber ein Terrorismus, der in keinem Verhältnis steht zu der Vernichtung die Israel in Gaza betreibt.

(…) (N)atürlich trägt Israel die Schuld. (Daran, dass der „Konflik“ fortbesteht. Anm. d. Zitators) Es liegt an Israel, dass besetzt wird, dass an der Mauer die Menschen nicht rüber kommen, dass sie an den Grenzen gedemütigt werden.

Israel hat viel mehr Waffen als alle arabischen Länder zusammen. Hinzu kommt die Atombombe. Israel wird beschützt von der ganzen Welt, von den USA, von Frankreich, von der ganzen Welt. Gott sei Dank, natürlich, aber dann soll nicht ständig gesagt werden, Israel handele gegen die Palästinenser im Namen der Bedrohung Israels. Das ist doch ein totaler Widerspruch. Und dass es von Feinden umzingelt ist, stimmt einfach nicht.

Es kann keine Zweistaatenlösung geben. Sehen sie sich die Karte an. Es ist kein Platz mehr für einen palästinensischen Staat.

(Auf die Frage, ob „die lebendige Erinnerung an den Holocaust“ eine wirkungsvollste Prophylaxe gegen den Antisemitismus“ sei:) Das glaube ich nicht. Die Israelis haben ja mit dem Beginn des Eichmannprozesses überhaupt erst angefangen, sich als Überlebende des Holocaust zu betrachten.

Heute ist in Deutschland und Frankreich der Antiislamismus stärker als Antisemitismus.

(…) Israel (hat) Schuld an der Verstärkung des Antisemitismus. Und weil der Zentralrat sich immer auf die Seite Israels stellt und sich mit dem Staat identifiziert, fällt die Kritik an der israelischen Politik auch auf den Zentralrat zurück und damit auch auf die von ihm vertretenen deutschen Juden.

Jedes Erwähnen anderen Leids wird interpretiert als Bagatellisierung des Holocaust. Dagegen wehre ich mich.

Ganze Völker sind im Osten ausgerottet worden. Niemand interessiert sich dafür, weil die dortigen Opfer keine Macht des Wortes haben.

(…) (D)er gewollte Hungertod hat Millionen Ukrainer das Leben gekostet, Mao sind dreissig oder fünfzig Millionen Landsleute zum Opfer gefallen. Nur hatten die Überlebenden kaum Möglichkeit, in unseren Ländern Gehör zu finden. Anderthalb Millionen Armenier sind gestorben, das ist auch keine Bagatelle. Einmaligkeit ja. Aber das soll keine Bagatellisierung der anderen Verbrechen sein.

Man soll immer vergleichen. Man kann eine Einmaligkeit nicht behaupten, ohne verglichen zu haben. Ich mache enorme Unterschiede, aber ich sage auch heute, dass in deutschen und französischen Schulbüchern Mao und Stalin zu wenig berücksichtigt werden. Das hat aber nichts damit zu tun, den Holocaust bagatellisieren zu wollen.
 
Für mich ist die Frage auch: Wie kann ich junge Deutsche dazu bringen an Auschwitz zu denken? Das beste Mittel ist zu sagen, nie wieder Antisemitismus, aber auch immer für Gerechtigkeit und Würde der Menschen überall eintreten. Nicht nur den Juden, sondern allen Menschen. 
 
(Anmerkung: Das zitierte Interview stammt aus dem Jahr 2010.)

Quelle: https://www.cicero.de/aussenpolitik/ein-feind-israels-bin-ich-nicht/41434 

Montag, 5. Februar 2024

Sätze zum Vergleich

„Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ (Olaf Scholz)
 
„Der Staat muss funktionieren, wenn es darum geht, Menschen, die nicht bei uns bleiben können, zurückzuführen.“ (Lars Klingbeil)
 
„Ausländer raus. Deutschland den Deutschen.“ (volkstümlich)

Mittwoch, 31. Januar 2024

Selbstgerechtes Gedenken

Wenn’s ums Gedenken geht, sind die Deutschen ganz bei sich. Jedenfalls die Deutschen von echtem Schrot und Korn. Nichts ergreift sie mehr, als an die Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern, das mühsam erkaufte Gelingen der Vergangenheitsbewältigung herauszustreichen und mit einem kräftigen „Nie wieder“ vor einem Erstarken jener dunklen Mächte zu warnen, die das Unbewältige verkörpern und sich daher böswillig den Freuden der Erinnerungspolitik entzogen zu haben scheinen. 
Darin sind sich die, die als Nachfahren der Täter sprechen, mit denen, die im Namen der Opfer sprechen, gern einig: Wir sind wichtiger als alle anderen. Unsere Schuld und unser Leid schweißt uns auf ewig zusammen gegen den Rest der Welt. Nichts, was andere (oder wir selbst) anderen antun, nichts was andere erleiden, kommt auch nur in die Nähe dessen, was uns so einzigartig und auf abartige Weise großartig macht. Zumal man da gar nichts vergleichen kann, weil das womöglich rational wäre, aber was die Deutschen einst taten und ihre Opfer einst erlitten, war völlig irrational. Das schier Unaussprechlich, von dem freilich dauernd die Rede sein muss, fällt naturgemäß aus der Geschichte heraus, deren Wendepunkt es war und immer sein wird.
Einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen von damals und denen von heute herzustellen, verbietet sich. Der deutsche Judäozid (flankiert von den Verbrechen gegen Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene usw.) ist unvergleichlich, ein absoluter Bruch mit der Geschichte und zugleich deren Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt, das schlimmste Verbrechen aller Zeiten, einerseits völlig unerklärlich, andererseits das Verständnis der Vergangenheit bestimmend. Die Deutschen (oder doch nur die Nazis?) waren die größten Verbrecher aller Zeiten, sozusagen ewige Weltmeister des Bösen, da kann keiner mithalten, und jeder Versuch, statt mythischer Entrückung des Geschehens Vergleiche zum Aktuellen herzustellen, ist als Relativierung unzweifelhaft Teufelswerk.
Zufrieden und beglückt lehnt sich die deutsche Seele zurück. Zugegeben, denkt sie, es gibt zum Glück immer was zum Nörgeln (Bahnstreik! Heizkosten! Pisa-Studie! Fußballtrainer! usw. usf.), aber wenn wir was richtig gut können, dann gedenken. Unser Gedenken ist unentrinnbar. Wir gedenken gegen das Vergessen und für ein ewiges Andenken. An uns selbst und unsere armen Opfer als Funktion unserer Missetaten. Wir haben uns selbst überwunden und damit für alle Zeiten so zu den eigentlich Guten gemacht. Unser Versagen und wie wir es so herrlich angenommen und in unsere Geschichte eingeschrieben haben, wird auf diese Weise für immer unser Ruhmesblatt sein. Dass wir so gut im Gedenken sind, macht uns aus. Denkmäler, Stolpersteine, Feierstunden, Benennung von Straßen und Schulen, Museen und Dokumentationszentren, Wiederaufbau von Synagogen etc. pp., das alles zeigt uns, wer wir sind und wie gut wir doch wieder geworden sind.
Da würden Vergleiche mit der Gegenwart nur stören. Wer käme auch auf die Idee, im Land der historisch bewältigen Massenmordes in- und ausländische Armut, Unbildung, Umweltzerstörung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen? Wer würde es wagen, die wesentliche Mitwirkung an der Weltwirtschaftsordnung als Verhöhnung jeglicher Ethik zu kritisieren? Wer dürfte es unternehmen, die Abwimmelung von Flüchtlingen („Ach wie schade, aber sie haben hier keine Bleibeperspektive, husch, husch zurück!“) und die Erzeugung von Fluchtursachen sowie die Finanzierung und Ausstattung von Kriegen als direkten Widerspruch zum selbstgerechten Gedenken anzusprechen? Niemand. Jedenfalls nicht, wenn gerade so schön erinnert, beschworen und gemahnt wird. ― Und jetzt ein Streichquartett mit staatstragender Musik. Bitte Ruhe, wir gedenken hier.

Dienstag, 30. Januar 2024

Demokratie: Gut und schön, aber wozu?

Ein eigenartiges Modell von Demokratie, dass da Tausende von Demonstranten und Demonstrantinnen praktizieren, wenn sie gegen die (möglicher) Wahlentscheidungen auf die Straße gehen. Eigentlich sollte es genügen, dass man, wenn man bestimmte Parteien ablehnt, sie einfach nicht wählt. Dazu hat man ja alle paar Jahre Gelegenheit. Die Demos „gegen rechts“ aber wollen mehr, sie wollen denen, die „rechts“ wählen wollen, mitteilen, dass sie eine dumme und gefährliche Wahl treffen, wenn sie AfD wählen. (Explizit rechtsextreme und neonazistische Parteien sind ohnehin verboten und damit nicht wählbar.) Und das angesichts des Umstands, dass dieses „Falschwählen“ ein Fünftel oder Viertel der Wahlberechtigten betrifft.
Nun zweifle ich nicht daran, dass es dumm und destruktiv ist, AfD zu wählen. Ich zweifle aber auch nicht daran, dass es nur um wenige Grade weniger dumm und destruktiv ist, SPD, Grüne, FDP, CDU/CSU, Linke oder BSW zu wählen. Keine dieser Parteien macht eine vernünftige Politik (oder würde eine machen), die sich wirklich den Herausforderungen der Zeit stellt und echte Lösungen für die anstehenden Probleme (soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Bildung usw.) kennt und umzusetzen bereit ist. In unterschiedlichen Abstufungen sind sie alle für ein Weiterwursteln im Kapitalismus mit widerwärtigen Folgen für Milliarden Menschen.
Ja, die AfD ist ekelhaft. Ja, der demokratische Rechtsstaat ist weniger aufdringlich als eine willkürlich und gewaltsam agierende Diktatur.
Aber vielleicht könnten mir ein paar von den vielen, die da „für Demokratie“ demonstrieren sagen, was ihre heißgeliebte Demokratie denn bisher gebracht hat, außer einer für manche im Globalen Norden recht komfortablen Absicherung der Weltwirtschaftsordnung, die zu Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung führen muss. Und ob sie wirklich glauben, durch ihre Wählerei am System der Profitmaximierung etwas ändern zu können. Die real existierende Demokratie führt nachweislich dazu, dass die Reichen reicher werden, die Mittelschichten zwischen Aufstiegswunsch und Abstiegsangst nur mit sich selbst beschäftigt sind und die Armen in ihrer Passivität und Disponibilität verwaltet werden.
Demokratie wäre eine gute Sache, wenn sie anders funktionierte. So wie sie aber tatsächlich funktioniert, ist sie für einige sehr bequem (und einige wenige sogar profitabel), aber sie bringt weder allgemein Wohlstand, allgemeine Sicherheit und allgemeine Chancen auf ein sinnerfülltes Leben hervor. Im Gegenteil.
Nein, die AfD, die Identitären und anderes rechtes Gesindel sind gewiss keine Alternative. Aber wer gegen sie und für „Demokratie“ lautstark und massenhaft demonstriert, soll doch bitte sagen, was eine „nicht-rechte“ Demokratie denn besser machen kann, will, soll oder wird. Wer so wählt, wie bisher immer gewählt wurde, wählt ein Weiterso ohne eine andere Perspektive als ein Zusteuern auf Niedergang und Untergang. Klingt das zu dramatisch? Schwerlich dramatischer, als eine Bedrohung „der Demokratie“ durch „rechts“ auszurufen.
„Wir sind mehr“ ― ja, also wo ist das Problem? Dann passt doch alles. Dann sagt doch, wo’s lang geht. (Übrigens: Wend wenn die anderen mehr sind, sind die dann im Recht oder gilt dann das Mehrheitsprinzip nicht mehr, weil die Falschen zu viele sind?) Wenn also ohnehin die guten Demokratinnen und Demokraten in der Mehrheit sind, warum kommt dann nicht mehr heraus als Scholz und Merz, Lindner und Baerbock und wie sie alle heißen, eine einzige Ansammlung von Inkompetenz, Visionslosigkeit und Unterwürfigkeit gegenüber den Interessen der Konzerne?
Kurzum, ich bin auch für Demokratie, aber was die Leute so zusammenwählen ist ein Graus. Und nicht erst, wenn sie Rechtspopulisten wählen.

Donnerstag, 25. Januar 2024

Ein (nicht ganz erfundenes) Gespräch über Buße

A: Indem einer Buße tut (Verzicht, Wallfahrt usw.), tut er sich selbst weh, um so sein Vergehen vor einer höheren Instanz auszugleichen. Aber es gibt die Schuld gar nicht. Sie ist eine Erfindung der christlichen Religion.
B: Sie sind anscheinend in bedauerlicher Unkenntnis darüber, was Buße ist. Das heute offensichtlich schwer verständliche deutsche Wort steht für das griechische Metanoia, was wörtlich Umdenken, Umkehr bedeutet, also Abkehr vom Schlechten (Sünde, Gottesferne) hin zum Guten (gute Taten, Gottesnähe). Zur Buße gehören Schuldeinsicht, Reue, Sühne. Die deutsche „Geldbuße“ führt auf eine falsche Fährte. Wer im religiösen Sinn Buße tut, bestraft sich nicht, er befreit sich. Vielleicht nimmt er Mühe, Anstrengung, Verzicht usw. auf sich, um den „alten Menschen“ loszuwerden und frei zu werden für Freude und inneren Frieden.
A: Wenn ich einen Fehler mache und das bedauere, so belastet mich dieses Missgeschick eine gewisse Zeit, womöglich gräme ich mich und habe ein schlechtes Gewissen, aber ich nehme nicht das Kreuz und schleppe es auf Knien um eine Gnadenkapelle. Darum geht es in der christlichen Religion von Anfang an: mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt die Buße für den Ungehorsam gegen Gott. Die Erbsünde ist in der Welt.
B: Übersetzen wir es doch einmal ins Alltägliche: Wenn Sie (mit voller Absicht) „einen Fehler gemacht haben“, der zu Lasten eines Ihnen sehr nahestehenden Menschen, so tut Ihnen das doch (hinterher) gewiss sehr leid und Sie werden sich nicht nur grämen (und womöglich schämen), sondern auch durch ein anderes Verhalten Ihr Fehlverhalten auszugleichen versuchen. Vielleicht sogar etwas Ihnen Unangenehmes auf sich nehmen, um der Person zu zeigen, wie wichtig sie Ihnen ist (und dass es Ihnen nicht nur um Sie selbst geht). „Schatz, meine Worte haben dich verletzt. Das tut mir leid und ich bitte dich um Entschuldigung. Damit du siehst, wie lieb ich dich habe, unternehmen wir gemeinsam das und das (woran mir sonst eigentlich nichts liegt).“ Ist das nicht ein ganz normales Verhalten? Warum sollte das im Umgang mit Gott anders sein?
Was nun Wallfahrten betrifft, so werden sie mitunter auch zur Buße unternommen. Aber Gnadenkapellen sind in der Regel keine Bußorte, sondern solche der Bitte um außerordentliche Gnadenerweise: Heilung von Krankheit z. B.
Und was das Herumschleppen des Kreuzes angeht: Die Aufforderung Jesu, wer ihm nachfolgen wolle, solle sein Kreuz auf sich nehmen, scheint mir vernünftig: Das irdische Leben ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert. Es ist voller Leid. Sich davon nicht irritieren zu lassen und allen Widrigkeiten zum Trotz am Wahren, Guten und Schönen festzuhalten und, wenn man mal versagt, auf die Erlösung und Sündenvergebung zu vertrauen zu dürfen, scheint mir kein so übles Konzept.
Nicht die Vertreibung aus dem Paradies, sondern der Sündenfall war übrigens die Ursünde/Erbsünde. Und der Opfertod Christi hat davon vor 2000 Jahren losgekauft. Sagt man.
A: Ihr herablassendes Pädagogisieren sollte Sie reuen, mein Herr! Ihre religiös definierten Feststellungen helfen Menschen, die sich in innerer Bedrängnis befinden, vermutlich wenig. Warum sollten sie das Büßerhemd anziehen und ihre qualvolle Reue öffentlich zeigen? Damit möchte ich diesen Wortwechsel schließen.
B: Immer wieder traurig, dass Menschen den Versuch, Ihnen aus ihrer (oft selbstverschuldeten) Unwissenheit und Unbildung herauszuhelfen, als „Pädagogisieren“ oder Schulmeistern wahrgenommen wird. Jeden Unsinn darf man posten, aber wenn einer Gründe anführt, warum etwas Unsinn ist, ist er der Buhmann. Die Leute wollen alles, nur keine Kritik. Lauter kleine Trumps …
Die Leugnung von Schuld und die Verweigerung von Reue sind als kollektives Phänomen etwas fundamental Modernes. Jahrtausendelang waren Menschen immer wieder einsichtig, was ihre Schuld angeht, und bemüht, ihre Sünden zu büßen. Erst der moderne Mensch ist von seiner Schuldlosigkeit überzeugt und von seiner Verantwortungslosigkeit gegenüber Gott. Was etwas irre scheint, angesichts der modernen Verwüstungen der Erde und dem die Vergangenheit überbietenden Morden. 
Seit Anbeginn der Zeiten haben Menschen in innerer (und äußerer) Bedrängnis Trost und Hilfe in Zuwendung zu höheren Mächten gesucht. Und gefunden. Die eigene Endlichkeit und Schwäche nicht mit Selbstherrlichkeit zu überspielen („es gibt gar keine ‘Schuld’“), sondern auf etwas oder jemanden Mächte zu vertrauen, die stärker sind und es besser wissen, als man selbst, war Grundlage gelingender Lebensführung und gedeihlichen Zusammenlebens. Und wenn man versagt, wusste man, an wen man sich mit der Bitte um Vergebung und einem Angebot der Sühne wenden konnte.
Der moderne Mensch, dank dem Mord und Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstörung, Betrug und Verblödung ungeahnte Ausmaße erreicht haben, hat es aber ja nicht mehr nötig, um Entschuldigung zu bitten, er „entschuldigt sich“ allenfalls selbst. Und macht weiter. 
Man kann Religionen gewiss kritisieren. Aber dazu muss man erst wissen und verstehen, worum es geht. Bloßes Ressentiment und das Abspulen von Vorurteilen und Missverständnissen, führt nur tiefer in die Dummheit.
Ach nein, liebe Dame, es reut mich nicht, Ihnen aus Ihrer Unmündigkeit durch ein kleines Angebot an Wissen herauszuhelfen versucht zu haben. Auch wenn ich einmal mehr gescheitert bin. Damit beende ich meinerseits den Wortwechsel, der leider kein Gedankenaustausch war.
C: Das ist alles sehr interessant. Ich lerne sehr gern dazu. Aber mir scheint, hier treffen einfach zwei unterschiedliche Sichtweisen (auf Buße/Umkehr) aufeinander.
B: So sympathisch die tolerant-liberale Sichtweise, es träfen einfach unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, auch ist, sie hat ihre natürliche Grenze doch in der Sache. Leugner des menschengemachten Klimawandels und „Klimaretter“ haben auch unterschiedliche Sichtweisen, aber ihre Feststellungen, Deutungen und Wertungen haben ja eben auch unterschiedliche Konsequenzen: Weiterso wie bisher oder massive Änderungen der Lebens- und Wirtschaftsweisen. Können Menschen am Klima ohnehin nichts ändern, sind alle Einschränkungen und Umbauten überflüssige Gängelung. Können Menschen aber durch ihr gemeinsames Handeln den Klimawandel beeinflussen und sich und andere vor den verheerenden Folgen bewahren, wäre es unverantwortlich, das nicht zu tun. Nicht, dass Sichtweisen unterschiedlich sind, sondern dass manche falsch und manche richtig sind, ist dann das Entscheidende.
Wie mir jetzt erst auffällt, hat das von mir hier gewählte Beispiel „Klimawandel“ ebenfalls mit Sündeingeständnis („wir haben der Umwelt geschadet“) und Buße/Umkehr („wir müssen anders leben“) zu tun …

Sonntag, 21. Januar 2024

Selbstgerecht „gegen rechts“

Ach wie niedlich, jetzt demonstrieren wieder einmal Tausende „gegen rechts“! Das ist so unreflektiert oder heuchlerisch, dass, wenn harmlos-selbstgerechte Symbolpolitik eine olympische Disziplin wäre, die deutschen Moralathletinnen und Athletinnen ganz bestimmt Gold holen würden.
Unreflektiert und heuchlerisch sind die Veranstaltungen, weil man, wenn man „gegen rechts“ ist, ja eigentlich nur nicht „rechts“ wählen muss, das sollte im Parlamentarismus genügen. Andere wählen halt anders. (Derlei kann vorkommen in Demokratien.) Was also, wenn nicht bloß die Demonstration der eigenen Selbstgerechtigkeit, des eigenen Besserseins, des eigenen Besserwählens haben die Demos zum Zweck? Oder glaubt irgendwer von den Demonstrierenden im Ernst, wenn er oder sie auf der Straße unter Beteiligung des regierenden Gesindels „gegen rechts“ Transparente schleppt und Parolen plärrt, ändert das auch nur eine einzige Wahlentscheidung? „Ach, das wusste ich ja gar nicht, dass alle die Nazis hassen, gut, dass ich das Schild im Fernsehen gesehen habe, nein, dann wähle ich natürlich nicht AfD.“
Die Leute wählen doch nicht aus Überlegung und Einsicht, sondern im Affekt, in kurz- mittel- und langfristiger Gestimmtheit. Sie wählen nach Milieu und soziokultureller Zugehörigkeit. Träfen sie Wahlentscheidungen aus rationalen Gründen, gingen sie nicht zur Wahl, sondern lehnten die ganze Wählerei ab, die ohnehin nur verdecken soll, in wessen Interesse tatsächlich regiert wird. (Spoileralarm: Es ist nicht „die Bevölkerung“, es ist, pssst, nicht weitersagen, „das Kapital“.) Wer unter den real existierenden Bedingungen wählen geht, und zwar egal, was, unterstützt damit ein System, dass dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist oder allenfalls schlimmer wird. Die Staaten und Politiker hangeln sich von Krise zu Krise, und am Ende steht immer nur eines fest: Die Reichen sind wieder reicher geworden. Dagegen könnte man ja mal demonstrieren, aber das gibt nicht so ein wohliges Gefühl wie eine Demo „gegen rechts“.
Anlass für die jetzigen Vorführungen eigener moralischer Überlegenheit war ja wohl das allseits bekannte „Geheimtreffen“ rechter Politiker, bei dem der Nazi Sellner über künftige Massenabschiebungen phantasierte. Das war am 25. November 2023.
Am 20. Oktober schon hatte der „Spiegel“ ein Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz veröffentlicht, in dem der deutsche Regierungschef verkündete: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“
Scholz hat jetzt bekanntlich „gegen rechts“ mitdemonstriert.
Ich weiß schon, ein Sozi ist kein Nazi. Zwischen ihnen steht der Rechtsstaat. Aber der ist flexibel handhabbar. Das Prinzip hingegen ist durchaus dasselbe: Wer nicht hierher und „zu uns“ gehört, muss weg. Die einen setzen auf eine umständlich-ungerechte Fremdenrechtsbürokratie, die anderen wollen ohne viel Federlesens alles Undeutsche loswerden. Letztlich geht es immer darum, mit Gewalt, die wegzuschaffen, die unerwünscht sind.
Wer von denen, die gern hier blieben, obwohl sie keine deutschen Staatsbürger sind, ein „Bleiberecht“ oder eine „Bleibeperspektive“ oder eine „Duldung“ hat, ergibt sich ja nicht aus der Beobachtung von Naturtatsachen. Es ist vielmehr Resultat der Auslegung von staatlichen Gesetzen. Gesetze aber können so oder auch anders sein. Restriktiv oder großherzig, weltoffen, integrativ, menschenfreundlich.
Wer deshalb „gegen rechts“ demonstriert, weil er oder sie gegen rassistische Deportationen ist, müsste also auch gegen die Abschiebungen demonstrieren, die im Einklang mit dem bestehenden „Recht“ nur Menschen betreffen, die die (aus gesetzlicher Sicht) falsche Herkunft und Zugehörigkeit haben. Alles andere ist pure Heuchelei.
Dass das gängige Modell von Bleibendürfen und Deportiertwerdenmüssen rassistisch ist, zeigt beispielsweise die Beliebtheit der (vielfach umgesetzten) Forderung „Kriminelle Ausländer abschieben“ über alle Parteigrenzen hinweg. Was soll das sein, wenn nicht Rassismus? Inländische Kriminelle werden ja auch nicht abgeschoben. Ist eine Straftat sträflicher, wenn sie von jemandem begangen wurde, dessen Staatsbürgerschaft und also vermutlich Herkunft „falsch“ ist? Unsinn.
Ja, Sellners Gewaltphantasien sind groteske Höllenvisionen und völlig widerlich, aber schon das „Deportieren light“, das bereits stattfindet und das auch die Parteien „links“ von der AfD intensivieren wollen, erzeugt unnötig Leid. Und ist schon gar keine Lösung für die Probleme der Weltwirtschaftsordnung, in der der Wohlstand der einen mit dem Elend der anderen erkauft ist.
Wer mit Scholz etc. auf die Straße geht, demonstriert vielleicht „gegen rechts“, aber nicht gegen das, was „rechts“ so grauslich macht. Denn das ist nicht die Verpackung, sondern der Inhalt. Und der findet sich, in abgeschwächte, aber keineswegs harmloser auch in der herrschenden Politik.
Wäre es nicht sinnvoller, statt gegen ein diffuses „Rechts“ eher gegen das konkrete „Recht“ und das von ihm verursachte Unrecht zu demonstrieren? Wäre es nicht sinnvoller, statt unverbindlich auf der Straße zu marschieren, mit selbstgerechten Sprüchen zu wedeln und so bloß die eigene Großartigkeit zu bekunden, endlich den Wahlberechtigten ein Angebot zu machen, doch noch etwas anderes wählen zu können als die Befürworter von Kapitalismus, Nationalstaat und rassistisch grundierter Identität? Etwas anderes als Rot, Schwarz, Gelb Grün und das populistische Kroppzeug à la Wagenknecht und Maaßen?
Aber wen interessiert das schon?

Montag, 15. Januar 2024

Na bitte, es geht doch

Der staatlich gestützte Klassenkampf funktioniert ganz wunderbatr: Die Reichen werden reicher, die Mittelschichten werden in Schach gehalten, verblödet und verlockt und die Armen werden ärmer.
Oder wie Oxfam im Bericht zur sozialen Ungleichheit sagt: Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 verdoppelt, fast fünf Milliarden Menschen sind ärmer geworden.

Donnerstag, 11. Januar 2024

„Remigration“

Die Empörung ist groß ― und meiner Meinung nach ziemlich heuchlerisch. Was ist geschehen? Ein paar Quasi-Nazis haben ein paar Quasi-Nazis getroffen und in gemütlicher Runde darüber phantasiert, wie sie alle Undeutschen im Lande loswerden möchten. Das ist dumm und widerlich, durchaus, und man kann und soll sich darüber empören. Aber reichlich heuchlerisch ist es, menschenfeindliche Überlegungen zur Bevölkerungs-zusammensetzung nur unerträglich zu finden, wenn sie von Identitären, AfD, Wertunion usw. kommen, nicht aber von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen, obwohl deren Konzepte und Praktiken sich nur graduell, nicht prinzipiell von rechten Reinheitsgebote unterscheiden.
„Kriminelle Ausländer ausweisen“ ist ein Motto, dem große Teile der Bevölkerung und Politik zustimmen. Auch „Wer sich nicht integrieren will, fliegt“, „Wir können nicht alle aufnehmen, es sind zu viele“ und „Menschen ohne Bleibeperspektive sollen gar nicht erst ins Land kommen“ sind beliebt und mehrheitsfähig.
Dass bei manchen Politikern und Politikerinnen der Zusatz „Wenn das im Rahmen der Gesetze und Abkommen möglich ist“ eine Rolle spielt, ist zwar unter Umständen in praktischer Hinsicht, aber keineswegs grundsätzlich eine echte Einschränkung fremdenfeindlicher Politik, denn Gesetze kann man ändern und hat es ja auch immer wieder getan. Selbst der Asyl-Artikel im ach so geheiligten Grundgesetz wurde ausgehöhlt.
Nein, der Wunsch, dass die „Deutschen“ unter sich bleiben und möglichst wenig „Ausländer“ ins Land kommen mögen, ist grundlegend. Nur die, die man braucht, sollen kommen und nur die bleiben dürfen, die man ohne humanitären Gesichtsverlust nicht loswerden kann. Währenddessen wird auch fleißig deportiert. Und man deportierte gern noch mehr, (Freilich, man spricht sonst durchgängig von „Abschiebung“, aber das ist ja nur ein anderes Wort; auffälligerweise wird in der Berichterstattung über Martin Sellners „Masterplan“ und seine Zuhörer hingegen sehr wohl der Ausdruck „Deportation“ verwendet ― auch das macht die Empörung heuchlerisch: deportieren pfui, abschieben hui?)
Was legal ist, bestimmt der Staat. Darum ist an der rechtsextremen Phantasie, gegebenenfalls auch „nicht-assimilierte“ Ausländer, die irgendwie die inländische Staatsbürgerschaft ergattert haben, im Grunde nur die Radikalität, nicht das Prinzip erstaunlich. Der Staat legt fest, wer sein Bürger ist und wer nicht, Einbürgerung und Ausbürgerung sind Rechtsakte.
Dass die Verfassung nun einmal verbiete, die einmal verliehene Staatsbürgerschaft wieder wieder wegzunehmen, stimmt so nicht. Zwar sagt Artikel 16 des Grundgesetzes im ersten Satz: „Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.“ Im zweiten aber „Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.“ Es gibt also sehr wohl die Möglichkeit des faktischen „Entzugs“ durch einen gesetzlich herbeigeführten „Verlust“. ― An Artikel 16a wurde herumgepfuscht, um das Asylrecht auszuhöhlen, warum nicht auch an 16?
Ausländer bleibt eben Ausländer, egal, was sein „Aufenthaltstitel“ ist oder welchem Staat er angehört. Auf die Abstammung kommt es an. Die rassistische Rede von „Biodeutschen“ (als ob Deutschsein eine biologische Tatsache wäre) beweist das. Und die geltenden Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft ebenfalls.
Während Neugeborene von Geburt an Deutsche sind, wenn ihre Eltern deutsch sind, muss jemand, der Eltern mit undeutscher Herkunft hat, egal, ob er oder sie hier geboren oder zugewandert ist, sich erst um die Staatsangehörigkeit bemühen: erst nach langer Frist und unter rigiden Bestimmungen. Neugeborene, die noch nicht lange (oder überhaupt) im Lande sind, die noch nichts für die Gesellschaft getan, nichts an Steuern und Sozialabgaben geleistet haben, die nur Kosten erzeugen und kein einziges Wort Deutsch können, sind sofort Deutsche, wenn sie die richtige Abstammung haben. Wer die nicht hat, muss erst Wohlverhalten beweisen („Integration“) und sich testen lassen. Dann vielleicht … Dass all das dem verfassungsmäßigen Verbot einer Diskriminierung wegen Herkunft widerspricht, will man nicht wahrhaben.
Die Rechten, die sich bei dem berüchtigten „Geheimtreffen“, das so geheim ja wohl nicht war, an Deportationsphantasien aufgeilten, lassen sich von juristischem Kleinkram ohnehin nicht beirren, sie denken grundsätzlich: biopolitisch, geopolitisch, ethonpolitisch. Der Staat ist ein Machtinstrument, das man für seine Zwecke zu gebrauchen gedenkt: Wenn ungenügende Integration („Assimilation“ sagt Sellner) ein Ausschlusskriterium aus dem Volksgemeinschaft, äh, der staatsbürgerlichen Gemeinschaft ist, kommt es nur darauf an, wer das Genügen oder Ungenügen definiert. Auch die historischen Nazis waren ja nicht nur Massenmörder, sondern wären auch gern „Eindeutscher“ gewesen. (Blöd nur, dass das Tausendjährige Reich nur zwölf Jahre währte, das „Ausmendeln“ unerwünschten Erbguts aber Generationen braucht.)
Denn wer ist schon so richtig blond und blauäugig? Hitler war’s nicht, Sellner ist es auch nicht (und nicht einmal deutscher Staatsbürger). Das Ethnische muss also politisch definiert werden. Staatsangehörigkeit ist Formsache. Wenn man erst an der Macht ist, werden die Leute schon sehen, was möglich ist. Ist erst einmal die Idee etabliert, Volkszugehörigkeit sei mehr als Staatsbürgerschaft ― und das ist angesichts des Alltagsrassismus nicht so undenkbar ―, braucht man die „ethnische“ Segmentierung der Bevölkerung nur noch in legale Förmchen zu gießen. Und bis man das kann, heizt man damit schon mal weiter die Stimmung an, derzufolge „viel zu viele Fremde“ im Land sind und dieses verändern. Zumal, wenn sie „unsere Werte“ nicht teilen. Die im Wesentlich darin bestehen, dass manche Menschen und ihre Gebräuche wertvoller sind als andere …
Rassismus braucht gar nicht in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, dort war er immer schon. Und am rechten Rand nimmt das dann grandiose Formen an. Angesichts all der „ethnischen Säuberungen“, die auf der Welt stattfinden, entspricht es ja nur dem Selbstbild deutscher Gründlichkeit, solch menschenfeindliche Unrecht großzügig zu organisieren. Warum also nicht die Unerwünschten in ein zu diesem Zweck zu pachtendes Stück Nordafrika ausschaffen? Dort könnten sie dann sogar. unter Aufsicht, versteht sich, ihren eigenen Staat haben (und darum ihrer deutschen Staatsangehörigkeit verfassungskonform verlustig gehen).
Eine solche menschenrechtsfreie Sonderzone ähnelt übrigens weniger dem „Madagaskarplan“ der Nazis ― möglichst viele Juden sollten auf die afrikanische Insel verbracht werden; eine ursprünglich zionistische Phantasie ―, sondern den Forderung nach „Zonen außerhalb Europas“, in denen über Asylanträge rasch entschieden werden solle, ohne dass die Antragstellerinnen und Antragsteller EU-Territorium betreten dürften. Italien hat mit Albanien bekanntlich bereits einen Vertrag über ein solches Anti-Asyl-Zönchen geschlossen, auch wenn das noch lästige rechtliche Hindernisse birgt. Und was genau soll der Unterschied von Rückführung (wie in „Rückführungsabkommen“) und „Remigration“ sein? Es geht so oder so um „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“. Das Sprech ist verschieden, die Unmoral dieselbe.
Ja, es stimmt, was da an identitärem Schmutz und Schund auf großes Interesse bei AfD, Werteunion, CSU usw. stößt, ist widerlich. Und muss politisch als blanker Rassismus bekämpft werden. Aber es unterscheidet sich, wie gesagt, nur graduell, nicht prinzipiell von der absolut mehrheitsfähigen Linie: So wenig Fremde und Fremdes wie möglich. Wer sich aber erst empört, wenn medienwirksame „Geheimtreffen“ stattfinden, und nicht schon über alltäglichen Rassismus und ein rassistisches „Fremdenrecht“, über asylpolitische Restriktionen und grausame Deportationen, über das Abstammunsprinzip im Staatbürgerschaftsrecht und all die weiteren Ungehörigkeiten, der ist einfach zu spät dran.