Donnerstag, 8. Februar 2024

Aufgeschnappt (bei Alfred Grosser)

Jeder hat das Recht und die Pflicht Menschenrechtsverletzungen zu benennen. Die israelische Regierung verletzt Menschenrechte. Als ich in einer Rede 1975 die Berufsverbote kritisierte, hat mich niemand als deutschlandfeindlich bezeichnet. Als ich Frankreichs Algerienpolitik kritisierte, hat mich niemand als Frankreichfeind bezeichnet. Nun heißt es, weil ich die israelische Regierung kritisiere, ich sei israelfeindlich. Das geht nicht.

In Nahost kämpft eine Macht gegen eine Ohnmacht. Die israelische Regierung spricht von Terrorismus. Es ist aber ein Terrorismus, der in keinem Verhältnis steht zu der Vernichtung die Israel in Gaza betreibt.

(…) (N)atürlich trägt Israel die Schuld. (Daran, dass der „Konflik“ fortbesteht. Anm. d. Zitators) Es liegt an Israel, dass besetzt wird, dass an der Mauer die Menschen nicht rüber kommen, dass sie an den Grenzen gedemütigt werden.

Israel hat viel mehr Waffen als alle arabischen Länder zusammen. Hinzu kommt die Atombombe. Israel wird beschützt von der ganzen Welt, von den USA, von Frankreich, von der ganzen Welt. Gott sei Dank, natürlich, aber dann soll nicht ständig gesagt werden, Israel handele gegen die Palästinenser im Namen der Bedrohung Israels. Das ist doch ein totaler Widerspruch. Und dass es von Feinden umzingelt ist, stimmt einfach nicht.

Es kann keine Zweistaatenlösung geben. Sehen sie sich die Karte an. Es ist kein Platz mehr für einen palästinensischen Staat.

(Auf die Frage, ob „die lebendige Erinnerung an den Holocaust“ eine wirkungsvollste Prophylaxe gegen den Antisemitismus“ sei:) Das glaube ich nicht. Die Israelis haben ja mit dem Beginn des Eichmannprozesses überhaupt erst angefangen, sich als Überlebende des Holocaust zu betrachten.

Heute ist in Deutschland und Frankreich der Antiislamismus stärker als Antisemitismus.

(…) Israel (hat) Schuld an der Verstärkung des Antisemitismus. Und weil der Zentralrat sich immer auf die Seite Israels stellt und sich mit dem Staat identifiziert, fällt die Kritik an der israelischen Politik auch auf den Zentralrat zurück und damit auch auf die von ihm vertretenen deutschen Juden.

Jedes Erwähnen anderen Leids wird interpretiert als Bagatellisierung des Holocaust. Dagegen wehre ich mich.

Ganze Völker sind im Osten ausgerottet worden. Niemand interessiert sich dafür, weil die dortigen Opfer keine Macht des Wortes haben.

(…) (D)er gewollte Hungertod hat Millionen Ukrainer das Leben gekostet, Mao sind dreissig oder fünfzig Millionen Landsleute zum Opfer gefallen. Nur hatten die Überlebenden kaum Möglichkeit, in unseren Ländern Gehör zu finden. Anderthalb Millionen Armenier sind gestorben, das ist auch keine Bagatelle. Einmaligkeit ja. Aber das soll keine Bagatellisierung der anderen Verbrechen sein.

Man soll immer vergleichen. Man kann eine Einmaligkeit nicht behaupten, ohne verglichen zu haben. Ich mache enorme Unterschiede, aber ich sage auch heute, dass in deutschen und französischen Schulbüchern Mao und Stalin zu wenig berücksichtigt werden. Das hat aber nichts damit zu tun, den Holocaust bagatellisieren zu wollen.
 
Für mich ist die Frage auch: Wie kann ich junge Deutsche dazu bringen an Auschwitz zu denken? Das beste Mittel ist zu sagen, nie wieder Antisemitismus, aber auch immer für Gerechtigkeit und Würde der Menschen überall eintreten. Nicht nur den Juden, sondern allen Menschen. 
 
(Anmerkung: Das zitierte Interview stammt aus dem Jahr 2010.)

Quelle: https://www.cicero.de/aussenpolitik/ein-feind-israels-bin-ich-nicht/41434 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen