Donnerstag, 30. Juni 2022

Ein Aufruf zur Unanständigkeit

Zwanzig Unterzeichner und Unterzeichnerinnen eines öffentlichen Aufrufs fordern für Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine einen Waffenstillstand und dann Friedensverhandlungen. Weil der Krieg für die ukrainische Seite nicht zu gewinnen und der Sprit in Deutschland wegen des Krieges teurer geworden ist. („In Afrika droht eine Hungerkatastrophe, die Millionen von Menschenleben kosten kann.“ Das ist wahr. Aber unerträglicherweise wurde in Afrika und sonstwo schon vor diesem Krieg gehungert und würde es unerträglicherweise auch ohne ihn. Kein Waffenstilstand und keine Kapitulation würde dem erschreckenderweise ein Ende setzen. Das „Argument“ ist heuchlerisch.)
Unter den Unterfertigten sind: Jakob Augstein, Svenja Flaßpöhler, Josef Haslinger, Alexander Kluge, Christoph Menke, Julian Nida-Rümelin, Robert Pfaller, Richard D. Precht, Edgar Selge, Ilija Trojanow, Harald Welzer, Ranga Yogeshwar - allesamt (mit anderthalb Ausnahmen) Leute, die ich seit langem als Dummschwätzer verabscheue. Mit guten Gründen und jetzt einem mehr.
Was wollen diese Leute? Keinen Diktatfrieden, sagen sie. Also sollen nicht alle Wünsche Putins erfüllt werden, nur ein paar. Was für ein netter Gedanke ... Sie wollen eine diplomatische Lösung für ein Ende des Krieges. Klingt freundlich, ist aber kriminell.
Die Rechtslage ist klar: Alle Eroberungen und Annexionen durch die Russländische Föderation sind null und nichtig. Was gibt es da zu verhandeln? Was kann bei solchen Verhandlungen herauskommen? Soll die Ukraine etwa Bevölkerung und Territorium abtreten? Soll Putin für seine Verbrechen also auch noch belohnt werden? Ganz abgesehen davon, was das für die Menschen bedeutet, die die Appellierer einer brutalen Dikatur ausliefern möchten, für Europa und die ganze Welt bedeutet es gewiss nichts Gutes, wenn Angriffskriege sich wieder lohnen dürfen und aufs Völkerrecht geschissen wird.
Ich frage mich, ob diese Herrschaten auch so locker mit Recht und Unrecht, Anstand und Unaständigkeit umgingen, wenn statt der ihnen offenkundig völlig fernen Ukraine ihr eigenes Land angegriffen worden wäre. Würden sie um des lieben Friedens willen Ostdeutschland abtreten? Fänden sie es unerfreulich, aber verzeihlich und auf dem Verhandlungswege irgendwie ausgleichbar, wenn Berlin bombardiert worde wäre und Frankfurt an der Oder ausradiert? Sähen sie noch eine Zukunft für Demokratie und Rechtsstaat in Europa und für ein halbwegs vernünftiges Völkerrecht, wenn eine Besatzungsmacht in Teilen Mitteleuropas manipulierte Referenden abhielte und daraufhin erfolgende Annexionen (und Ausrufungen „unabhängiger“ Volksrepubliken) von internationalen Institutionen anerkannt und in ihrem Bestand garantiert würden?
Von welchen Kompromissen, die auf diplomatische Wege (durch Druck des Westens!) erreicht werden sollten, phantasieren diese Leute also? Ein bisschen Frieden gibt es nicht. Ein bisschen Unrecht auch nicht. Die Alternative lautet: Entweder eine Befreiung der Ukraine vom Aggressor oder nicht. Wie viele Menschenleben, wie viel Zerstörung das kostet, hängt einzig und allein von Russland ab. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind Opfer – aber nicht etwa, wie suggeriert wird, ihrer sie verteidigenden Regierung, sondern des vom Kremlchef begonnen und mit äußerster Brutalität geführten Angriffs. Mag sein, dass das Ziel der Befreiunf der ganzen Ukraine militärisch in absehrbarer Zeit nicht erreicht wird; aber kein Waffenstillstand und schon gar kein „Friede“ kann auf dem Verzicht des Anspruchs auf diese Befreiung geschlossen werden. Das würde niemand in der Ukraine akzeptieren, dessen Stimme zählt (potenzielle Quislinge und Pétains also nicht eingerechnet).
Puntin ist ein Kriegsverbrecher und Initiator und Ermöglicher von Kriegsverbrechen. Mit so jemandem verhandelt man nicht. Wollen die zwanzig Appel-Unterzeichner wirklich einer ukrainischen Delegation zumuten, darüber zu „verhandeln“, ob sie denen, die ihre Mitbürger und womöglich Angehörigen ermordet, vertrieben, verschleppt, obdachlos gemacht haben, einen Teil ihrer Landsleute und Teile des Staatsgebietes ausliefern dürfen? Man muss schon ein deutscher (oder österreichischer) „Intellektueller“ sein, um die Realität so zu verkennen. Von der moralischen Dimension ganz zu schweigen.
Die de facto antiukrainischen und prorussischen „Friedensaktivisten“ des strunzdummen Aufrufs fürchten sich vor einer Eskalation. Ui, der Putin hat mit Atomwaffen gedroht! Da machen sich die „Intellektuellen“ aber mal kräftig in die (metaphorische) Hose.
Eskalation, das heißt: Die NATO kämpft auf der Seite der Ukraine gegen Russland. Begegnet der atomaren Drohung gegebenenfalls mit einer Gegendrohung. Das ist gewiss keine schöne Aussicht, aber wenn es notwendig ist, ist es eben notwendig. Wenn das der Preis ist, der zu zahlen ist, ist er extrem hoch, aber nicht zu hoch. Denn was ist die andere Option? Ein Sieg oder Teilsieg Putins. Das ist für jeden anständigen Menschen, dem an Menschenleben, Menschenwürde, Menschenrechten etwas liegt, absolut inakzeptabel.
Aber diese Appelliererinnen und Appellierer sind keine anständigen Menschen. Sie sind, aus Sorge um sich selbst, auf der Seite des Bösen. Sie legitimieren indirekt Kriegsverbrechen. Sie sagen implizit, Angriffskriege sollen sich wieder lohnen dürfen. Sie scheinen zu meinen, Russland könne ruhig Ukrainerinnen und Ukrainerinnen und deren Land vom Westen geschenkt bekommen. Für sie ist Diktatur anscheinend schon irgendwie okay, wenn der Diktator Atomwaffen und Bodenschätze hat und Getreidexporte blockieren kann. Sie spucken den russländischen Oppositionellen (den wenigen, die noch leben) ins Gesicht. Sie sind mit einem Wort von Grund auf unanständig und verachtenswert. Am liebsten würde ich von dem Gesindel nie wieder etwas hören oder lesen. Aber vermutlich werden diese Kanaillen die Menschheit weiterhin mit ihren Schwachsinnigkeiten beglücken.

Sonntag, 26. Juni 2022

Feine Ironie der Geschichte

64 Jahre nach dem Ausschluss seines Großvaters aus Politbüro und ZK wird ein Schirdewan Chef der deutschen Kommunisten. Das ist ungefähr so, als wäre Röhms Enkel 1998 Vorsitzender der NSDAP geworden.

Donnerstag, 23. Juni 2022

Ist „Antisemitismus“ ansteckend?

„Antisemitismus zu zeigen, fördert ihn“, schreibt irgend so ein Zeitungsschreiberling und erklärt diese seine anspruchsvolle Behauptung gleich im Voraus zur „Tatsache“. Aber wie soll man sich vorstellen, dass das funkioniert? Wie macht das der „Antisemitismus“, dass sein bloßes Zeigen zu seiner Förderung wird? Ganz abgesehen davon, dass strittig ist, was genau denn überhaupt „Antisemitismus“ ist (und ob strittig ist, ob das strittig ist).
Ganz allgemein: Wie soll eine Äußerung oder Darstellung, welcher Art auch immer, das anstellen, dass der bloße Hinweis auf ihr Vorhandensein („Zeigen“) dazu führt, dass sie auf Zustimmung trifft?
Wenn einer sagt: „Der Mond besteht aus Schimmelkäse“, fördert das in irgendeiner Weise diesen Unsinn? Hält irgendjemand den Satz für wahr, bloß weil er geäußert wird? Heißt ihn zu zitieren, mehr und mehr Leute von ihm zu überzeugen? Offensichtlich nicht.
Wenn „Antisemitismus“ zu zeigen, zu mehr „Antisemitismus“ führte, dann müsste, wenn man das nicht will, über „Antisemitismus“ fortan unbedingt geschwiegen werden. Bitte sprecht zum Beispiel in Schulen nicht mehr über Judenhass und wozu er geführt hat, denn „Antisemitismus“ zu zeigen, fördert ihn! Besser, ihr redet auch nicht über das Dritte Reich, das verführt die Kinder und Jugendlichen nur dazu, Neonazis zu werden ... (Vorsicht, Ironie!)
Die Behauptung des Schreiberlings ist also offensichtlich unsinnig und benennt alles andere als eine Tatsache. Aber wie kommt man darauf, solchen Unsinn von sich zu geben? Dahinter könnte die weit verbreitete (aber fast nie explizit gemachte) Vorstellung stehen, „Antisemitismus“ sei ansteckend. Also nicht ein Effekt von Unbildung, Ressentiment, Vorurteilen oder politischem Willen, sondern das Resultat eines quasibiologischen Vorgangs. Du siehst oder hörst irgendwo etwas „Antisemitisches“, und zack!, schon bist du selber „Antisemit“, ob du willst oder nicht. Da kann man nichts machen. Außer isolieren und aufs Absterben warten.
Diese falsche Vorstellung zurückzuweisen, bedeutet selbstverständlich nicht, zu leugnen, dass judenfeindliche Äußerungen oder Darstellungen den Zweck der Beleidigung oder sogar Schädigung von Juden und Jüdinnen verfolgen. Dass sie dumm und oft widerlich sind. Zuweilen sind sie aber auch bloß lächerlich. Doch nicht jeder, der irgendetwas Dummes über „die“ Juden äußert, will deshalb auch alle Juden ermorden. Es gibt schlicht keinen Automatismus, der von Herabwürdigung oder Ausgrenzung zur Vernichtung führt. Was andererseits nicht heißt, dass alles, was nicht gleich jemanden tötet oder töten will, harmlos ist. Es gilt, sehr genau zu bedenken, in welchen Kontexten was welche Wirkungen hat, haben kann, haben könnte oder haben soll.
Keinesfalls aber ist es so, dass eine „antisemitische“ Äußerung oder Darstellung einfach nur deshalb, weil sie sie „gezeigt“ wird, auf Zustimmung trifft. Ganz im Gegenteil. Gerade der aktuelle Rummel um angeblich „antisemitische“ Bildelemente eines bei der documenta fifteen gezeigten Kunstwerkes hat ja gezeigt, dass der bloße Vorwurf des „Antisemitismus“ zu entschiedener Gegenerschaft gegen das Gezeigte und zu dessen Nichtmehrzeigen geführt hat. In diesem Fall (und vielen ähnlichen Fällen) brauchte gar nicht bewiesen zu werden, dass etwas (nach welcher Begriffsbestimmung?) „antisemitisch“ ist, die massenmedial geförderte Versicherung, dem sei so, genügte vollauf.
Bedauerlicherweise hat die indonesische Künstlergruppe „Taring padi“, die mit den deutschen Befindlichkeiten, Empfindlichkeiten und von irgendwelchem Evidenzbedürfnis unberührten Hysterien wohl nicht vertraut ist, diesen Eklat gar nicht beabsichtigt. Hätte sie das, wäre daraus die beweisbare These ableitbar: „Antisemitismus zeigen, löst immer Gegenreaktionen aus.“
Das wäre, für sich genommen und weitergedacht, doch durchaus erfreulich, denn man könnte daraus sogar folgern: Wo „Antisemitismus“ öffentlich vorkommt, wird er bekämpft. Leider sind allerdings die Gründe, warum das geschieht, oft irrational. Wie das Ansteckungsmodell zeigt. So wie ein ausufernder „Antisemitismus“-Begriff jede vernünftige Diskussion erstickt („Wer in Frage stellt, ob dies oder das überhaupt antisemitisch ist, ist ein Antisemit“), verhindert die Vorstellung, Judenhass sei etwas, dem man sich, wenn man damit in Berührung kommt, nicht entziehen kann, jeden vernünftigen Umgang mit Vorurteilen, Ressentiments, Ängsten, Missverständnissen oder gewollten Lügen in Bezug darauf, was irgendjemand für „jüdisch“ hält.
Irgendeiner Form der Aufklärung ist mit der kontrafaktischen These, Antisemitismus zu zeigen, fördere ihn, und mit all den anderen überbordenden, hektisch-aktionistischen, selbstgerechten und realitätsfeindlichen Aussagen rund um den angeblichen „Antisemitismus“-Skandal bei der Kasseler Kunstausstellung jedenfalls nicht gedient.

Mittwoch, 22. Juni 2022

Balken & Splitter (78)

Also wirklich, diese Indonesier! Wollen doch glatt alle Juden umbringen. (Zumindest irgendein Künstlerkollektiv von dort will das, heißt es.) Zum Glück hat man die Gefahr in Deutschland, wo man mit dem Judenumbringen ja ein bisschen Erfahrung hat, gerade noch rechtzeitig erkannt und ein „antisemitisches Werk“ (so nennen es die Massenmedien unisono) aus dem Kasseler Kunst-Verkehr gezogen. Unvorstellbar, was passiert wäre, wenn die Besucher und Besucherinnen der documenta fifteen derlei Garstiges mit eigenen Augen (und dem erforderlichen Fernglas) gesehen hätten, statt nur gesagt zu bekommen, was dort gefälligst zu sehen und wie es gemeint ist. Sie wären gewiss sofort in Scharen durch deutsche Innenstädte marodiert und hätten gerade eben erst gebaute Synagogen niedergebrannt. Oder sie hätten sich gar, grässliche Vorstellung, der friedlichen BDS-Bewegung angeschlossen, die bekanntlich alle Juden in der ganzen Welt dadurch umbringen will, dass sie zum Boykott israelischer Waren, aufruft. Oder aber, und das traut man sich kaum auszusprechen, sie hätten sich womöglich ein eigenständiges Urteil über das komplexe Kunstwerk gebildet und dabei entdeckt, dass von dem angeblichen „Antisemitismus“ gar nichts zu sehen ist, selbst wenn das Bild gezeigt wird; oder gerade dann.

Zu den dümmsten Vorschlägen, um die unter den Folgen des Ukraine-Krieges (wie man den russländischen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung gerne nennt) ächzenden und stöhnenden Bürgerinnen und Bürger zu entlasten, gehört der, die Umsatzsteuer auf Grundnahrungsmittel oder gleich alle Lebensmittel auszusetzen. Weil das so dumm ist, ist es sehr beliebt. Dumm ist es, weil es nichts bringt, außer Steuerausfälle für den Staat. Es bringt nichts, weil selbstverständlich die meisten Lebensmittelhändler (Discounter vielleicht ausgenommen) ihre Preise nicht merkbar senken werden. Sie werden vielmehr weiterhin einen Euro einnehmen, aber davon eben keine 6,5 Cent  mehr an den Fiskus abführen. (In der BRD. In Österreich: 9 Cent.) Schon deshalb, weil ihnen die vorübergehende Umrechnung und die Änderung der Preisauszeichnung teuer zu stehen käme. Und selbst wenn der Wegfall der Steuer an die Kundschaft weitergegeben würde, so wären das je einem Euro, mit kaufmännischer Rundung, gerade mal 6 Cent (8 in Österreich) Ersparnis für den Käufer. Wow! Man müsste also, um auch nur 100 Euro für den Ausgleich gestiegener Tank- und Heizkosten zu erhaltenen, 1.429 Euro für Lebensmittel ausgeben (in Österreich 1.000). Toller Plan.

Dienstag, 21. Juni 2022

Aufgeschnappt (bei Emmanuel Mounier)

„An dem Tag, wo wir uns per Dekret effiziente Impfstoffe verabreichen lassen müssen, werden wir nicht mehr an der Krankheit leiden, sondern am Arzt.“
Diesen erstaunlich hellsichtigen Satz schrieb Emmanuel Mounier bereits im Jahre 1930! (In „Defense de la civilisation“, hier zit. nach Emmanuel Mounier, Der Personalismus, hg. von Sibylle Schulz, Hamburg 2021, S. 19.) Und er setzte hinzu:
„Am Anfang erscheint das unbedeutend: die Zwänge im Namen vernünftiger Prinzipien der Hygiene, der Moral, der Ästhetik, der Zivilisation unterbreitet, sodass man sie akzeptiert; man hat dabei, in den Händen von Spezialisten, ein gewisses Gefühl der Sicherheit, und das rechtfertigt einige Opfer. Aber letzten Endes ‘bringt der Glaube an die Wissenschaft [...] nicht den Frieden; er verlagert nur den Ort und die Ebene ihrer Sorgen’.“ [Die einfachen Anführungszeichen verweisen wohl auf ein von Mounier zitiertes Buch von Georges Duhamel.]

Sonntag, 19. Juni 2022

Nachtrag zu einer Kanaille I (Trojanow)

Ilija Trojanow ist einer dieser zur Zeit wieder einmal unerwartet auftauchenden Militärexperten, die mit profunder geopolitischer Vorbildung vom Schreibtisch aus das Leben und Sterben anderer dirigieren: „Eine Flugverbotszone ist illusorisch“ dekretierte er am 23. März 2022 in der „Tageszeitung“. „Wer in Talkshows und Interviews eine Flugverbotszone fordert, sollte sich einen Tag freinehmen und ein wenig auf den Webseiten recherchieren, die sich ― vor allem auf Englisch ― militärischen Fragen widmen.“ Mit anderen Worten: Lass Experten sprechen. Das hat ja schon bei Corona so gut funktioniert. (Weil jede Regierung zufällig immer gerade die Experten zur Hand hat, die genau die Politik, die ohnehin beabsichtigt wird, als alternativlos erweisen können.)
Was also meint Trojanow, der englischsprachige Schulen besucht hat und darum auf „Webseiten“ (sic; nur das „site“ nicht Seite, sondern Ort bedeutet …) recherchieren kann, die anderen seiner Meinung nach unbekannt sind, dort gelesen zu haben? „Nicht nur wäre es logistisch fast unmöglich, es müssten zudem Stellungen in Russland beziehungsweise Belarus bombardiert werden. Das würde unweigerlich den Krieg ausweiten und in die Hände der russischen Propaganda (NATO als Aggressor) spielen.“
Hanebüchen. Erstens ist es völlig gleichgültig, wie Putins Propaganda lautet, die braucht keinen Anhalt in einer zurechtgedeuteten Realität, die kommt mit bloßen Lügen völlig aus. Zweitens gibt es keinen Grund, zur Durchsetzung einer Flugverbotszone Flugzeuge, die weder in der Zone noch überhaupt fliegen, zu bombardieren. Drittens ist eine „Ausweitung“ des Krieges, anders gesagt: eine direkte Beteiligung der NATO auf Seiten der Ukraine sogar höchst wünschenswert.
Es spricht also alles für eine Flugverbotszone. Sie würde Leben retten, direkt und indirekt. Direkt, indem Luftangriffe auf ukrainische Städte verhindert würden. Indirekt, indem für die ukrainischen Streitkräfte, die den russischen in der Luft unterlegten sind, bessere Operationsmöglichkeiten ihrer Bodentruppen geschaffen würden.
Das interessiert Trojanow nicht. Er sorgt sich um hohe Militärausgaben. Die einfache Rechnung, dass westliche Verteidigungsbudgets, egal, wie hoch oder niedrig sie sein mögen, der Ukraine nichts nützen, wenn sie nicht für deren Unterstützung ausgegeben werden, macht er nicht.
Stattdessen antiukrainische Polemik: „Von manchen wird eifrig ein schneller EU-Beitritt der Ukraine gefordert. Vorsichtige Stimmen werden der bürokratischen Apathie beschuldigt. Dabei sind die Gefahren eines überstürzten Aufnahmeverfahrens hinlänglich bekannt.“
Die Gefahr der Nichtmitgliedschaft in EU und NATO ist noch viel bekannter: Man wird von Russland überfallen. Aber was sorgt Trojanow? „In manchen Ländern Osteuropas haben die Fördersummen aus Brüssel die Macht der neuen Plutokraten gestärkt.“ Stimmt. Aber nicht nur dort. Die „Plutokraten“ (ein guter alter Nazi-Terminus) sitzen ja auch in den westeuropäischen Ländern. Korruption und Oligarchie gibt es auch dort. (Oder hat Trojanow noch nie etwas davon gehört, wie wenig Leuten in der BRD wie viel Vermögen gehört? Milliarden und Abermilliarden, die nicht zuletzt durch entsprechende politische Entscheidungen begünstigt werden; wobei westliche Politiker außer in Ausnahmefällen gar nicht gekauft werden müssen, weil sie von sich aus „die Wirtschaft“, also happy few begünstigen.) Trojanow hält jedenfalls fest, dass die „strukturellen Defizite“ in der Ukraine „weder durch das schreckliche Leid der Menschen noch den Mut der Kämpfenden überwunden“ werden. Hat das jemand behauptet?
Und haben andererseits bisherige Beitritssverhandlungen nicht jedes Mal doch immerhin zu einer Minderung struktureller Defizite (auch hinblicks Demokratie, Rechtsstaat, Korruptionsbekämfung) geführt? Soll man Ungarn, Bulgarien, Rumänien wieder aus der EU ausschließen, weil es dort Autoritarismus, Illiberalismus, Nationalismus, Korruption, Regierungskriminalität usw. gibt?
„Wir müssen die Menschen in der Ukraine entschieden unterstützen, aber das bedeutet nicht, dass wir die Augen verschließen vor demokratischen Mängeln (…)“ Das hat meines Wissens auch niemand verlangt. Weder auf ukrainischer Seite, noch im Westen. „Zudem wäre eine überhastete Aufnahme der Ukraine ein katastrophales Signal für den gesamten Balkan, weiterhin ein Pulverfass.“ Wie schön, dass der Ex-Bulgare Trojanow endgültig zum teutonischen Spießer geworden ist. Das Wort Balkan (eigentlich ein Gebirgszug, gemeint ist Südosteuropa) zieht ja im deutschen und österreichischen Phrasendreschjournalismus immer unweigerlich das Wort Pulverfass nach sich. Nur dass eigentlich gar niemand eine „überhastete“ Aufnahme verlangt hat, nur die grundsätzliche Bereitschaft, die Ukraine nicht für unwürdiger der Zugehörigkeit zu Europa zu betrachten als Länder wie Serbien, Albanien, (Nord-Mazedonien), denen eine EU-Mitgliedschaft immer mal wieder in Aussicht gestellt wird. Beitrittsverhandlungen wäre ein politisches Symbol, ein Ausdruck der Solidarität und eine Ermunterung auch der Zivilgesellschaft, keinesfalls aber ein Blankoscheck. Warum um alles in der Welt sollte das europäische Land Ukraine auch nicht Mitglied der Europäischen Union werden (wenn die üblichen wirtschaftlichen, und rechtsstaatlichen Kriterien erfüllt sind)?
Eine rassistische Konstruktion wäre es hingegen, wonach osteuropäische und südosteuropäische Nationen, weil zurückgeblieben, nur als Märkte und Lieferanten, nicht aber als gleichberechtigte Mitgestalter von Europas politischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Zukunft in Frage kommen. Derlei mag Trojanows Verständnis und Selbstverständnis entsprechen (oder ist er der gute Balkanese, der sich aus dem „Pulverfass“ herausgearbeitet hat?), aber nicht der unvoreingenommen Realität. Die Hypothese, nach der Ukrainerinnen und Ukrainer sowieso minderwertig, also nicht würdig der EU-Mitgliedschaft sind, ist beleidigend und dumm.
Den Gipfel der Infamie erreicht Trojanow dann mit diesem Phantasiegebilde: „Gold in der Ukraine Leider versprüht ein rabiater Nationalismus sein tägliches Gift, auch seitens ukrainischer Intellektueller. Wenige Tage nach Kriegsbeginn forderte etwa der ‘PEN Ukraine’ gemeinsam mit anderen Institutionen zu einem ‘totalen Boykott von Büchern aus Russland auf der ganzen Welt!’ auf, da ‘Bücher zu Waffen gegen die Demokratie werden können’.“
Das ist schon darum so unerhört widerlich, weil Trojanow weiß (oder wissen müsste), dass der Präsident des PEN-Zentrums der Ukraine, Andrij Kourkow, in Russland geboren ist und seine Bücher nach wie vor auf Russisch schreibt. Bei ihm also von „ukrainischen Nationalismus“ ― diesem beliebten antiukrainischen Phantasma, das nicht nur „Linke“ kultivieren, sondern auf eine besonders verstiegene Weise der Kriegsverbrecher Putin höchstselbst, der bekanntlich die Ukraine vom „Nazismus“ befreien will ― also keine Spur. Kurkows Bücher werden seit vielen Jahren in Russland nicht mehr verlegt und er selbst steht auf einer schwarzen Liste. Wenn so jemand sagt, dass zum Boykott russischer Waren (als Teil internationaler Sanktionen gegen den Aggressor) selbstverständlich auch der Boykott von in Russland fabrizierten Büchern gehört, ist das bloß eine Selbstverständlichkeit, kein „Nationalismus“.
Niemand will Herrn Trojanow seinen Dostojewski oder seinen Solschenizyn oder seinen Iljin verbieten ― oder was immer er dringend braucht, um vielleicht zu erfahren, wie er sagt, „wo der Wahn imperialer russischer Größe herkommt?“ Er soll einfach nur nicht durch den Kauf von Büchern den Krieg gegen die Ukraine finanzieren. Wenn er wirklich erst herausbekommen muss, wie die Russen ticken, dann könnte ja Bibliotheken aufsuchen oder Übersetzungen lesen. Niemand hat zu Bücherverbrennungen aufgerufen. Einen „geistigen Exterminismus“ kann ich eigentlich nur auf Seiten der westlichen Zuarbeiter Putins erkennen, nicht aber beim PEN Ukraine.
Am Schluss seines Geschreibsel wird Trojanow einfach schwachsinnig. „Der offene Brief (des Pen, Anm.) endet mit dem Aufruf: ‘Glory to Ukraine!’ Nein! Ruhm und Ehre gelten den Menschen, aber nicht einem Nationalstaat! Wenn wir dies wieder als Ideal hochhalten, können wir das europäische Projekt vergessen, inklusive der Versöhnung, die in Zukunft nötig sein wird, über alle Wunden und Gräben hinweg.“
Die alte Grußformel ist zweiteilig: Auf „Ruhm der Ukraine!“ antwortet man „Ruhm den Helden!“ Es geht also offensichtlich nicht um irgendeinen „Nationalstaat“ ― als ob das „europäische Projekt“ nicht lauter Nationalstaaten umfasste! ―, sondern um das „Projekt“ eines freien und unabhängigen Gemeinschaft (die viele verschiedene Nationalitäten, Sprachen, kulturelle Traditionen und Religionen einbegreift). um die Freiheit von Unterdrückung und Bevormundung durch andere „Nationalstaaten“ (oder selbsternannte „Imperien“) und um die Menschen, die sich dafür einsetzen ― die „Heldinnen“ und „Helden“.
Das alles weiß Trojanow (oder müsste es wissen), aber in seinem schlecht verhehlten Hass auf die Ukraine macht er sich selbst dumm. Egal. Was mich betrifft, ich werde in Zukunft seine Bücher boykottieren. Leute wie er sind Schreibtischtäter, die durch ihre Gegnerschaft zur (auch militärischen) Unterstützung der Ukrainer dem putinschen Völkermord zuarbeiten. Mich ekeln diese Wichtigtuer an.

Dienstag, 14. Juni 2022

Unseren täglichen Missbrauch ...

Und wieder einmal wurde eine Studie zum beliebten Thema „sexueller Missbrauch“ in der römisch-katholischen Kirche“ vorgestellt, diesmal das Bistum Münster betreffend. Man kann als Medienkonsument wohl ein gewisses Gähnen nicht unterdrücken. Denn die Öffentlichkeit erfährt auch bei der Vorstellung dieses dickbändigen Werkes nichts Neues, nichts, was man ihr nicht zuvor immer wieder eingetrichtert hätte: Kleriker sind Sexmonster, die sich an unseren Kindern vergreifen, wo immer man sie lässt.
Allerdings geben die berichteten Zahlen das eigentlich nicht her. Für den Zeitraum von 75 Jahren (1945 bis 2020) werden gerade einmal 610 „Opfer“ und 183 „Täter“ behauptet. (Selbstverständlich wird dabei wie stets jeder bloße Vorwurf als erwiesener „Fall“ behandelt.) Die angeblichen Tätern, so hat man errechnet, stellen vier Prozent aller münsterischen Priester im Untersuchungszeitraum dar. Allerdings muss die Studie zugeben, dass von den „Tätern“ nur zehn Prozent strafrechtlich belangt wurden. Nun gilt bekanntlich das rechtsstaatliche Prinzip, wonach ein Beschuldigter als unschuldig zu gelten hat, bis ein Gericht sein Schuld feststellt, auf keinen Fall für katholische Priester. Sonst müsste ja von einem Anteil 0,4 Prozent die Rede sein ... Mit anderen Worten: 99,6 Prozent der Kleriker im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 haben sich nichts zu schulden kommen lassen. Eigentlich eine großartige Nachricht.
Das hindert naturgemäß niemanden an der Rede vom „flächendeckenden Missbrauch“. Der selbstverständlich „vertuscht“ worden sei. Nur dass die Vertuschung einer Straftat selbst eine Straftat gewesen wäre: Wo sind die Urteile dazu?
Warum melden sich überhaupt die angeblichen Opfer fast immer erst in der Öffentlichkeit, wenn sie, wegen Verjährung, keinen Wahrheitsbeweis für ihre Beschuldigungen antreten mehr müssen, aber trotzdem auf großzügige Zahlungen aus den Kirchenkassen erhoffen können? Erkennt daran niemand ein Geschäftsmodell? Warum werden die „Opfer“, die sich jederzeit selbst zu solchen ernennen dürfen, allseits hofiert, während andererseits jeder Versuch der geistlichen Leitung, sich schützend vor ihre Untergebenen zu stellen, nicht als selbstverständliche Arbeitgeberpflicht, als seelsorgerische Verantwortung oder als brüderliche Fürsorge wahrgenommen wird, sondern als krimineller Akt der Strafvereitelung? Am liebsten erzwänge man ohnehin den Bruch des Beichtgeheimisses, um an intime Details heranzukommen, mit Vorliebe an schön schmutzige.
Ansonsten hält man sich mit informativen Details aber gern bedeckt. „Missbrauch“ ist in den Medien ein sehr offenes Konzept, das „anzügliche Bemerkungen“ ebenso wie „sexuelle Gewalt“ umfassen soll. Das kommt dem Unterhaltungswert der Berichterstattung zugute. Ebenso das Raunen der Studienmacher über eine mögliche Dunkelziffer. Denn das lässt schaurigen Spekulationen breiten Spielraum. Vielleicht sind es ja zehnmal mehr „Fälle“? Oder hundertmal? Warum nicht tausendmal?
Welche Lust bereitet es so vielen doch, die katholische Kirche als infame Institution zu imaginieren! Längst ist es ja gelungen, römisch-katholische Priester fest mit „Missbrauch“ zu assoziieren. Die Gründe für die perverse Erotomanie dieser sinistren Gesellen sind natürlich nur zu gut bekannt: unterdrückte Homosexualität, Zölibat, keine Frauenordination, zu wenig Macht für Laien. Reformen müssen her! Schon weil im Gegensatz zu den rückständigen Papisten ja bei den Protestanten, die die entsprechenden Reformen längst haben, nie und nirgends irgendwelche Missbrauchsfälle vorkommen ... Das ist alles so dümmlich, dass man schreien möchte!
Dumm und ethisch verwerflich ist auch die Obsession, einerseits die offensichtlich sehr selten Fälle von sexuell motivierten Übergriffen durch katholische Kleriker zum Spektakel aufzublasen, während man andererseits der Wahrheit nicht ins Gesicht sieht, dass fast alle einschlägigen Taten tatsächlich in Familien und deren unmittelbarem Umfeld begangen werden. Wäre man nicht so verhetzt und heuchlerisch, diffamierte man nicht „die Kirche“ als Brutstätte der Unzucht, sondern sähe Väter, Mütter, Onkel, Brüder, Babysitter usw. usf., als die potenziellen „Kinderschänder“, die sie (zumindest zu einem gewissen Prozentsatz) sind.

Montag, 13. Juni 2022

Über Übergewinn

Plötzlich ist die über alles geliebte Marktwirtschaft ― wie man den Kapitalismus gern verharmlosend nennt ― doch pfuigack? Zumindest in einem Punkt. Gilt sonst überall unangefochten das Prinzip der Profitmaximierung ohne Rücksicht auf (menschliche, gesellschaftliche, kulturelle, ökologische) Verluste als Motor des Fortschritts und als der Glücksbringer schlechthin, so soll es mit einem Mal „unmoralisch“ sein, wenn sich die „Ölmutltis“ eine „goldene Nase“ an den armen Autofahrern verdienen. Das war bisher auch nicht anders, aber jetzt ist irgendwo Krieg und somit alles anders. Nix mehr mit Angebot und Nachfrage und freier Preisbildung, sonder Politikern, denen sonst außer Verboten und Kürzungen nichts einfällt, setzen voll auf Populismus: Die bösen Tankstellen-Oligarchen ziehen dem fossilen Brennstoffpöbel das Geld aus der Tasche, das geht gar nicht, da muss was gemacht werden. Nicht etwa weniger gefahren soll werden, sondern die Herumfahrerei (superwichtig! Arbeitsplätze! Lieferketten!) soll mit Staatsgewalt billiger werden. Und zwar, indem man „übermäßige Gewinne“ besteuert. Aha. Werden denn Gewinne nicht ohnehin besteuert? Höhere nicht stärker als geringere? Wann ist ein Gewinn überhaupt übermäßig und wann bloß geschickt herbeikalkuliert? Natürlich machen die Mineralölkonzerne in der Krise gehörig Profit, derlei gilt doch sonst auch nicht als ungehörig, dazu ist Kapitalismus ja da, dazu sind dessen Krisen ja da. Wie sonst sollen die Reichen immer reicher werden? Hier versteht das Personal (die Politikstellenpächter) mal wieder nicht, welche Rolle die Inhaber ihrem Staat zugedacht haben. Sicher nicht, Milliardengewinne und Konzentrationsprozesse zu verhindern. Doch keine Angst, Populisten kläffen, aber sie haben keinen Biss. Ein bisschen am Kartellrecht schrauben, um irgendwas illegal zu machen, was vorher womöglich legal gewesen wäre, bringt gar nichts. Die Multis haben Preisabsprachen gar nicht nötig. Da weiß jeder Konzern ganz von selbst, wie er die Spritpreise ansetzen muss, damit gejammert, aber brav geblecht wird.
À propos Jammern: Ich werde dann über die armen Benzin- und Dieselverbraucher in den reichen Industriegesellschaften und das Elend ihrer Entbehrungen ― Essen oder Tanken? Tanken! ― ein paar Tränen verdrücken, wenn ich von den echten Hungerkatastrophen dieser Welt nicht mehr erschüttert und über das Zusehen der Satten nicht mehr empört bin. Aber ich fürchte, das wird so bald nicht sein.

Sonntag, 12. Juni 2022

Verschiedene Weisen der Befassung mit Philosophie

X., ein Kollege und Freund aus der Zeit des Philosophiestudiums, gestand mir vor langer Zeit, bei ihm sei es so: Wenn er den Text eines Autors lese, so stimme er dessen Argumenten zu und teile darum dessen Sicht der Dinge. Lese er ein Text eines anderen Autors, stimme er dessen Argumenten zu und vertrete dessen Auffassungen. Wovon er gerade überzeugt sei, hänge also davon ab, wen und was er zuletzt gelesen habe. Das war sicher auch ein bisschen selbstironisch gemeint, kam mir aber damals schon merkwürdig vor.
Wenn ich seither X., der zwar sein Studium formell abschloss, aber in den Jahrzehnten danach beruflich nichts mehr mit Philosophie zu tun hatte, gelegentlich traf und wir uns länger unterhalten konnten, erzählte er mir zuweilen von einer philosophischen oder historischen Lektüre, die ihn beeindruckt hatte. Wenn ich dann auf seine Erzählung hin (denn fast nie hatte ich das zur Rede stehende Buch selbst gelesen) etwa Kritik übte und einen Einwand formulierte, bemerkte ich einen Unwillen bei X. Es war wohl so: Ihm hatte das Buch gefallen, das wollte er sich von mir nicht kaputtmachen lassen.
An X. und seine für mich merkwürdige Haltung musste ich unlängst denken, als ich über zwei verschiedene Weisen der Beschäftigung mit Philosophie nachdachte: Die derjenigen, die philosophische Texte lesen, um in Erfahrung zu bringen, was ein bestimmter Philosoph gedacht hat. Und die derjenigen, die das wissen wollen, um in Erfahrung zu bringen, was sie selber denken. X. ordne ich dem ersten Typus zu, mich dem zweiten.
Philosophieren um der Philosophie willen oder Philosophieren um der Sache willen, könnte man auch sagen. Verstehen wollen, was Texte besagen, oder verstehen wollen, was Sache ist. Ein historisch-philologischer Ansatz oder ein existenzielles Bedürfnis.
Im Akademischen wird nur das Erste gelehrt. Empirie und damit Realitätsbezug wird durch in Zitaten und Fußnoten zu dokumentierende Kenntnis der einschlägigen Literatur und des aktuellen Standes der der Debatte ersetzt. Es geht nicht darum, ob diese oder jene Behauptung dieses oder jenes Autors stimmt ― wie sollte man das auch entscheiden? ―, sondern was andere dazu geschrieben haben oder (rückblickend) dazu geschrieben haben könnten. Die Äußerung eigener Gedanken, die über philologische Glossen und eine vorsichtige Gewichtung fremder Argumente hinausgeht, ist verpönt. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, sagte Sokrates. Der Fachphilosoph von heute sagt: „Ich weiß, was wer zu was gesagt hat.“
Selbstdenken ist geradezu laienhaft. Überlege nicht, was du denkst (und ob es stimmt), sondern finde heraus, was bereits dazu geschrieben wurde und wie die Fachwelt das derzeit einschätzt. Jeder Gedankengang muss durch einen Literaturverweis abgesichert werden, sonst gilt er nicht. Ernst genommen und für eine Karriere auch nur in Aussicht genommen werden kann man jedenfalls nur, wenn man sich zum Zwerg auf den Schultern von Riesen macht. Nur wer beweist, dass er anderer Leute Gedanken verarbeitet hat, kann auch schon mal originell sein, was die Resultate betrifft. Aber Vorsicht! Nur nicht den Eindruck erwecken, was man äußere, sei irgendwie von anderer als rein akademischer Bedeutung.
Wie man so philosophieren kann, nein, vielmehr: warum man so philosophieren will, habe ich nie verstanden. Philosophiert man nicht aus einem Drang heraus, etwas, das man nicht versteht, doch noch verstehen zu wollen? Oder zu verstehen, warum an es nicht versteht? Geht es nicht um die „Wirklichkeit“, zumindest um die des Redens, Meinens und Vorstellens? Geht es nicht um Wahrheit? Soll daraus nichts folgen? Lebt man sein Leben, wenn man philosophisch arbeitet, genauso, wie wenn man es (von der Arbeit abgesehen, die auch eine ganz andere sein könnte) nicht täte? Hat Philosophie keine Bedeutung für die eigene Existenz? Keine, außer das Vergnügen interessanter Lektüreerlebnisse und die Genugtuung, gegebenenfalls seine intellektuelle Kapazität zu beweisen?
So möchte ich nicht philosophieren. So philosophiere ich nicht. Eine Philosophie, die sich nur noch mit Philosophie beschäftigt und jeden nicht-opportunistischen (karrierefördernden oder marktdienerischen) Bezug zu Außerphilosophischem verloren ― oder nie gesucht und gefunden ― hat, interessiert mich nicht. Auch Philosophie als intellektuelles Hobby, als unverbindliches Lesevergnügen und beiläufiges Gedankenspiel ist mir fremd und eigentlich zuwider.
Es muss doch etwas Drittes geben, was weder in hohler Selbstbezüglichkeit verkümmertes akademisches Ritual ist noch unverbindliches Schwafeln, selbstgefälliges Räsonnieren und unbedarftes Philosophastern. Ich rede nicht einer philosophischen Naivität das Wort, die immer wieder bei Null beginnen will (oder muss), denn Philosophie hat eine vielfältige Geschichte, deren Kenntnis lohnend ist, bevor oder während man sich an eigene Auseinandersetzungen mit philosophischen Themen macht; und sie bietet ein differenziertes und dynamisches begriffliches Instrumentarium, in dessen Gebrauch man sich erprobt haben sollte, bevor man ihn aus welchen Gründen auch immer verwirft oder neue Anwendungen ausprobiert.
Um grundsätzlich und umfassend verstehen zu wollen, was ist und was sein könnte und was darüber gedacht wurde und wird, was ist und sein könnte, ist nahezu jedes Mittel Recht. Philosophen befassen sich, wenn es gut geht, auf sehr persönliche Weise mit sehr universellen Angelegenheiten. Anschlussfähigkeit an Früheres und Gegenwärtige wird da zum wichtigen Anlass zur Selbstkritik. Man versteht in Wahrheit nur das, was man anderen verständlich machen kann.
Aber warum will man verstehen und verständlich machen? Was gehen einen die universellen Themen und Grundsatzfragen an? Wer sich damit beschäftigt, entfremdet sich dem sogenannten Alltag und seinen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Warum aber tut man das? Den Philosophieren muss es doch offensichtlich um etwas gehen, was mehr ist als Anerkennung oder Spaß, Denkwarenhandel oder Hirnakrobatik. Philosophie muss existenziell sein, sonst ist sie belanglos. Ja, es geht um Leben und Tod. Was, wenn nicht das, sind die entscheidenden Gegenstände des Philosophierens?
Man kann es gewiss auch weniger dramatisch formulieren. Aber die persönliche, die existenzielle Komponente, die fundamentale, wenn man so will, ist nicht zu übersehen. nicht bei denen, die man ernst nehmen kann. Ohne jemanden, der philosophiert, findet kein Philosophieren statt. Dem, der philosophiert, geht es um etwas, sonst täte er es nicht. Wenn es ihm nicht auch um sich selbst geht, scheint er etwas übersehen und missverstanden zu haben. Sobald es beim Philosophietreiben nur noch um das Verstehen dessen geht, was andere gesagt haben, ohne zu fragen, was das, was man da verstanden zu haben meint, mit dem eigenen Denken, also einem selbst macht, ist Philosophie sinnlos. ― Ich muss mal wieder X. anrufen, ihn treffen und fragen, ob er in letzter Zeit etwas Interessantes gelesen hat.