Sonntag, 19. Juni 2022

Nachtrag zu einer Kanaille I (Trojanow)

Ilija Trojanow ist einer dieser zur Zeit wieder einmal unerwartet auftauchenden Militärexperten, die mit profunder geopolitischer Vorbildung vom Schreibtisch aus das Leben und Sterben anderer dirigieren: „Eine Flugverbotszone ist illusorisch“ dekretierte er am 23. März 2022 in der „Tageszeitung“. „Wer in Talkshows und Interviews eine Flugverbotszone fordert, sollte sich einen Tag freinehmen und ein wenig auf den Webseiten recherchieren, die sich ― vor allem auf Englisch ― militärischen Fragen widmen.“ Mit anderen Worten: Lass Experten sprechen. Das hat ja schon bei Corona so gut funktioniert. (Weil jede Regierung zufällig immer gerade die Experten zur Hand hat, die genau die Politik, die ohnehin beabsichtigt wird, als alternativlos erweisen können.)
Was also meint Trojanow, der englischsprachige Schulen besucht hat und darum auf „Webseiten“ (sic; nur das „site“ nicht Seite, sondern Ort bedeutet …) recherchieren kann, die anderen seiner Meinung nach unbekannt sind, dort gelesen zu haben? „Nicht nur wäre es logistisch fast unmöglich, es müssten zudem Stellungen in Russland beziehungsweise Belarus bombardiert werden. Das würde unweigerlich den Krieg ausweiten und in die Hände der russischen Propaganda (NATO als Aggressor) spielen.“
Hanebüchen. Erstens ist es völlig gleichgültig, wie Putins Propaganda lautet, die braucht keinen Anhalt in einer zurechtgedeuteten Realität, die kommt mit bloßen Lügen völlig aus. Zweitens gibt es keinen Grund, zur Durchsetzung einer Flugverbotszone Flugzeuge, die weder in der Zone noch überhaupt fliegen, zu bombardieren. Drittens ist eine „Ausweitung“ des Krieges, anders gesagt: eine direkte Beteiligung der NATO auf Seiten der Ukraine sogar höchst wünschenswert.
Es spricht also alles für eine Flugverbotszone. Sie würde Leben retten, direkt und indirekt. Direkt, indem Luftangriffe auf ukrainische Städte verhindert würden. Indirekt, indem für die ukrainischen Streitkräfte, die den russischen in der Luft unterlegten sind, bessere Operationsmöglichkeiten ihrer Bodentruppen geschaffen würden.
Das interessiert Trojanow nicht. Er sorgt sich um hohe Militärausgaben. Die einfache Rechnung, dass westliche Verteidigungsbudgets, egal, wie hoch oder niedrig sie sein mögen, der Ukraine nichts nützen, wenn sie nicht für deren Unterstützung ausgegeben werden, macht er nicht.
Stattdessen antiukrainische Polemik: „Von manchen wird eifrig ein schneller EU-Beitritt der Ukraine gefordert. Vorsichtige Stimmen werden der bürokratischen Apathie beschuldigt. Dabei sind die Gefahren eines überstürzten Aufnahmeverfahrens hinlänglich bekannt.“
Die Gefahr der Nichtmitgliedschaft in EU und NATO ist noch viel bekannter: Man wird von Russland überfallen. Aber was sorgt Trojanow? „In manchen Ländern Osteuropas haben die Fördersummen aus Brüssel die Macht der neuen Plutokraten gestärkt.“ Stimmt. Aber nicht nur dort. Die „Plutokraten“ (ein guter alter Nazi-Terminus) sitzen ja auch in den westeuropäischen Ländern. Korruption und Oligarchie gibt es auch dort. (Oder hat Trojanow noch nie etwas davon gehört, wie wenig Leuten in der BRD wie viel Vermögen gehört? Milliarden und Abermilliarden, die nicht zuletzt durch entsprechende politische Entscheidungen begünstigt werden; wobei westliche Politiker außer in Ausnahmefällen gar nicht gekauft werden müssen, weil sie von sich aus „die Wirtschaft“, also happy few begünstigen.) Trojanow hält jedenfalls fest, dass die „strukturellen Defizite“ in der Ukraine „weder durch das schreckliche Leid der Menschen noch den Mut der Kämpfenden überwunden“ werden. Hat das jemand behauptet?
Und haben andererseits bisherige Beitritssverhandlungen nicht jedes Mal doch immerhin zu einer Minderung struktureller Defizite (auch hinblicks Demokratie, Rechtsstaat, Korruptionsbekämfung) geführt? Soll man Ungarn, Bulgarien, Rumänien wieder aus der EU ausschließen, weil es dort Autoritarismus, Illiberalismus, Nationalismus, Korruption, Regierungskriminalität usw. gibt?
„Wir müssen die Menschen in der Ukraine entschieden unterstützen, aber das bedeutet nicht, dass wir die Augen verschließen vor demokratischen Mängeln (…)“ Das hat meines Wissens auch niemand verlangt. Weder auf ukrainischer Seite, noch im Westen. „Zudem wäre eine überhastete Aufnahme der Ukraine ein katastrophales Signal für den gesamten Balkan, weiterhin ein Pulverfass.“ Wie schön, dass der Ex-Bulgare Trojanow endgültig zum teutonischen Spießer geworden ist. Das Wort Balkan (eigentlich ein Gebirgszug, gemeint ist Südosteuropa) zieht ja im deutschen und österreichischen Phrasendreschjournalismus immer unweigerlich das Wort Pulverfass nach sich. Nur dass eigentlich gar niemand eine „überhastete“ Aufnahme verlangt hat, nur die grundsätzliche Bereitschaft, die Ukraine nicht für unwürdiger der Zugehörigkeit zu Europa zu betrachten als Länder wie Serbien, Albanien, (Nord-Mazedonien), denen eine EU-Mitgliedschaft immer mal wieder in Aussicht gestellt wird. Beitrittsverhandlungen wäre ein politisches Symbol, ein Ausdruck der Solidarität und eine Ermunterung auch der Zivilgesellschaft, keinesfalls aber ein Blankoscheck. Warum um alles in der Welt sollte das europäische Land Ukraine auch nicht Mitglied der Europäischen Union werden (wenn die üblichen wirtschaftlichen, und rechtsstaatlichen Kriterien erfüllt sind)?
Eine rassistische Konstruktion wäre es hingegen, wonach osteuropäische und südosteuropäische Nationen, weil zurückgeblieben, nur als Märkte und Lieferanten, nicht aber als gleichberechtigte Mitgestalter von Europas politischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Zukunft in Frage kommen. Derlei mag Trojanows Verständnis und Selbstverständnis entsprechen (oder ist er der gute Balkanese, der sich aus dem „Pulverfass“ herausgearbeitet hat?), aber nicht der unvoreingenommen Realität. Die Hypothese, nach der Ukrainerinnen und Ukrainer sowieso minderwertig, also nicht würdig der EU-Mitgliedschaft sind, ist beleidigend und dumm.
Den Gipfel der Infamie erreicht Trojanow dann mit diesem Phantasiegebilde: „Gold in der Ukraine Leider versprüht ein rabiater Nationalismus sein tägliches Gift, auch seitens ukrainischer Intellektueller. Wenige Tage nach Kriegsbeginn forderte etwa der ‘PEN Ukraine’ gemeinsam mit anderen Institutionen zu einem ‘totalen Boykott von Büchern aus Russland auf der ganzen Welt!’ auf, da ‘Bücher zu Waffen gegen die Demokratie werden können’.“
Das ist schon darum so unerhört widerlich, weil Trojanow weiß (oder wissen müsste), dass der Präsident des PEN-Zentrums der Ukraine, Andrij Kourkow, in Russland geboren ist und seine Bücher nach wie vor auf Russisch schreibt. Bei ihm also von „ukrainischen Nationalismus“ ― diesem beliebten antiukrainischen Phantasma, das nicht nur „Linke“ kultivieren, sondern auf eine besonders verstiegene Weise der Kriegsverbrecher Putin höchstselbst, der bekanntlich die Ukraine vom „Nazismus“ befreien will ― also keine Spur. Kurkows Bücher werden seit vielen Jahren in Russland nicht mehr verlegt und er selbst steht auf einer schwarzen Liste. Wenn so jemand sagt, dass zum Boykott russischer Waren (als Teil internationaler Sanktionen gegen den Aggressor) selbstverständlich auch der Boykott von in Russland fabrizierten Büchern gehört, ist das bloß eine Selbstverständlichkeit, kein „Nationalismus“.
Niemand will Herrn Trojanow seinen Dostojewski oder seinen Solschenizyn oder seinen Iljin verbieten ― oder was immer er dringend braucht, um vielleicht zu erfahren, wie er sagt, „wo der Wahn imperialer russischer Größe herkommt?“ Er soll einfach nur nicht durch den Kauf von Büchern den Krieg gegen die Ukraine finanzieren. Wenn er wirklich erst herausbekommen muss, wie die Russen ticken, dann könnte ja Bibliotheken aufsuchen oder Übersetzungen lesen. Niemand hat zu Bücherverbrennungen aufgerufen. Einen „geistigen Exterminismus“ kann ich eigentlich nur auf Seiten der westlichen Zuarbeiter Putins erkennen, nicht aber beim PEN Ukraine.
Am Schluss seines Geschreibsel wird Trojanow einfach schwachsinnig. „Der offene Brief (des Pen, Anm.) endet mit dem Aufruf: ‘Glory to Ukraine!’ Nein! Ruhm und Ehre gelten den Menschen, aber nicht einem Nationalstaat! Wenn wir dies wieder als Ideal hochhalten, können wir das europäische Projekt vergessen, inklusive der Versöhnung, die in Zukunft nötig sein wird, über alle Wunden und Gräben hinweg.“
Die alte Grußformel ist zweiteilig: Auf „Ruhm der Ukraine!“ antwortet man „Ruhm den Helden!“ Es geht also offensichtlich nicht um irgendeinen „Nationalstaat“ ― als ob das „europäische Projekt“ nicht lauter Nationalstaaten umfasste! ―, sondern um das „Projekt“ eines freien und unabhängigen Gemeinschaft (die viele verschiedene Nationalitäten, Sprachen, kulturelle Traditionen und Religionen einbegreift). um die Freiheit von Unterdrückung und Bevormundung durch andere „Nationalstaaten“ (oder selbsternannte „Imperien“) und um die Menschen, die sich dafür einsetzen ― die „Heldinnen“ und „Helden“.
Das alles weiß Trojanow (oder müsste es wissen), aber in seinem schlecht verhehlten Hass auf die Ukraine macht er sich selbst dumm. Egal. Was mich betrifft, ich werde in Zukunft seine Bücher boykottieren. Leute wie er sind Schreibtischtäter, die durch ihre Gegnerschaft zur (auch militärischen) Unterstützung der Ukrainer dem putinschen Völkermord zuarbeiten. Mich ekeln diese Wichtigtuer an.

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