Donnerstag, 23. Juni 2022

Ist „Antisemitismus“ ansteckend?

„Antisemitismus zu zeigen, fördert ihn“, schreibt irgend so ein Zeitungsschreiberling und erklärt diese seine anspruchsvolle Behauptung gleich im Voraus zur „Tatsache“. Aber wie soll man sich vorstellen, dass das funkioniert? Wie macht das der „Antisemitismus“, dass sein bloßes Zeigen zu seiner Förderung wird? Ganz abgesehen davon, dass strittig ist, was genau denn überhaupt „Antisemitismus“ ist (und ob strittig ist, ob das strittig ist).
Ganz allgemein: Wie soll eine Äußerung oder Darstellung, welcher Art auch immer, das anstellen, dass der bloße Hinweis auf ihr Vorhandensein („Zeigen“) dazu führt, dass sie auf Zustimmung trifft?
Wenn einer sagt: „Der Mond besteht aus Schimmelkäse“, fördert das in irgendeiner Weise diesen Unsinn? Hält irgendjemand den Satz für wahr, bloß weil er geäußert wird? Heißt ihn zu zitieren, mehr und mehr Leute von ihm zu überzeugen? Offensichtlich nicht.
Wenn „Antisemitismus“ zu zeigen, zu mehr „Antisemitismus“ führte, dann müsste, wenn man das nicht will, über „Antisemitismus“ fortan unbedingt geschwiegen werden. Bitte sprecht zum Beispiel in Schulen nicht mehr über Judenhass und wozu er geführt hat, denn „Antisemitismus“ zu zeigen, fördert ihn! Besser, ihr redet auch nicht über das Dritte Reich, das verführt die Kinder und Jugendlichen nur dazu, Neonazis zu werden ... (Vorsicht, Ironie!)
Die Behauptung des Schreiberlings ist also offensichtlich unsinnig und benennt alles andere als eine Tatsache. Aber wie kommt man darauf, solchen Unsinn von sich zu geben? Dahinter könnte die weit verbreitete (aber fast nie explizit gemachte) Vorstellung stehen, „Antisemitismus“ sei ansteckend. Also nicht ein Effekt von Unbildung, Ressentiment, Vorurteilen oder politischem Willen, sondern das Resultat eines quasibiologischen Vorgangs. Du siehst oder hörst irgendwo etwas „Antisemitisches“, und zack!, schon bist du selber „Antisemit“, ob du willst oder nicht. Da kann man nichts machen. Außer isolieren und aufs Absterben warten.
Diese falsche Vorstellung zurückzuweisen, bedeutet selbstverständlich nicht, zu leugnen, dass judenfeindliche Äußerungen oder Darstellungen den Zweck der Beleidigung oder sogar Schädigung von Juden und Jüdinnen verfolgen. Dass sie dumm und oft widerlich sind. Zuweilen sind sie aber auch bloß lächerlich. Doch nicht jeder, der irgendetwas Dummes über „die“ Juden äußert, will deshalb auch alle Juden ermorden. Es gibt schlicht keinen Automatismus, der von Herabwürdigung oder Ausgrenzung zur Vernichtung führt. Was andererseits nicht heißt, dass alles, was nicht gleich jemanden tötet oder töten will, harmlos ist. Es gilt, sehr genau zu bedenken, in welchen Kontexten was welche Wirkungen hat, haben kann, haben könnte oder haben soll.
Keinesfalls aber ist es so, dass eine „antisemitische“ Äußerung oder Darstellung einfach nur deshalb, weil sie sie „gezeigt“ wird, auf Zustimmung trifft. Ganz im Gegenteil. Gerade der aktuelle Rummel um angeblich „antisemitische“ Bildelemente eines bei der documenta fifteen gezeigten Kunstwerkes hat ja gezeigt, dass der bloße Vorwurf des „Antisemitismus“ zu entschiedener Gegenerschaft gegen das Gezeigte und zu dessen Nichtmehrzeigen geführt hat. In diesem Fall (und vielen ähnlichen Fällen) brauchte gar nicht bewiesen zu werden, dass etwas (nach welcher Begriffsbestimmung?) „antisemitisch“ ist, die massenmedial geförderte Versicherung, dem sei so, genügte vollauf.
Bedauerlicherweise hat die indonesische Künstlergruppe „Taring padi“, die mit den deutschen Befindlichkeiten, Empfindlichkeiten und von irgendwelchem Evidenzbedürfnis unberührten Hysterien wohl nicht vertraut ist, diesen Eklat gar nicht beabsichtigt. Hätte sie das, wäre daraus die beweisbare These ableitbar: „Antisemitismus zeigen, löst immer Gegenreaktionen aus.“
Das wäre, für sich genommen und weitergedacht, doch durchaus erfreulich, denn man könnte daraus sogar folgern: Wo „Antisemitismus“ öffentlich vorkommt, wird er bekämpft. Leider sind allerdings die Gründe, warum das geschieht, oft irrational. Wie das Ansteckungsmodell zeigt. So wie ein ausufernder „Antisemitismus“-Begriff jede vernünftige Diskussion erstickt („Wer in Frage stellt, ob dies oder das überhaupt antisemitisch ist, ist ein Antisemit“), verhindert die Vorstellung, Judenhass sei etwas, dem man sich, wenn man damit in Berührung kommt, nicht entziehen kann, jeden vernünftigen Umgang mit Vorurteilen, Ressentiments, Ängsten, Missverständnissen oder gewollten Lügen in Bezug darauf, was irgendjemand für „jüdisch“ hält.
Irgendeiner Form der Aufklärung ist mit der kontrafaktischen These, Antisemitismus zu zeigen, fördere ihn, und mit all den anderen überbordenden, hektisch-aktionistischen, selbstgerechten und realitätsfeindlichen Aussagen rund um den angeblichen „Antisemitismus“-Skandal bei der Kasseler Kunstausstellung jedenfalls nicht gedient.

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