Mittwoch, 31. Januar 2024

Selbstgerechtes Gedenken

Wenn’s ums Gedenken geht, sind die Deutschen ganz bei sich. Jedenfalls die Deutschen von echtem Schrot und Korn. Nichts ergreift sie mehr, als an die Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern, das mühsam erkaufte Gelingen der Vergangenheitsbewältigung herauszustreichen und mit einem kräftigen „Nie wieder“ vor einem Erstarken jener dunklen Mächte zu warnen, die das Unbewältige verkörpern und sich daher böswillig den Freuden der Erinnerungspolitik entzogen zu haben scheinen. 
Darin sind sich die, die als Nachfahren der Täter sprechen, mit denen, die im Namen der Opfer sprechen, gern einig: Wir sind wichtiger als alle anderen. Unsere Schuld und unser Leid schweißt uns auf ewig zusammen gegen den Rest der Welt. Nichts, was andere (oder wir selbst) anderen antun, nichts was andere erleiden, kommt auch nur in die Nähe dessen, was uns so einzigartig und auf abartige Weise großartig macht. Zumal man da gar nichts vergleichen kann, weil das womöglich rational wäre, aber was die Deutschen einst taten und ihre Opfer einst erlitten, war völlig irrational. Das schier Unaussprechlich, von dem freilich dauernd die Rede sein muss, fällt naturgemäß aus der Geschichte heraus, deren Wendepunkt es war und immer sein wird.
Einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen von damals und denen von heute herzustellen, verbietet sich. Der deutsche Judäozid (flankiert von den Verbrechen gegen Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene usw.) ist unvergleichlich, ein absoluter Bruch mit der Geschichte und zugleich deren Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt, das schlimmste Verbrechen aller Zeiten, einerseits völlig unerklärlich, andererseits das Verständnis der Vergangenheit bestimmend. Die Deutschen (oder doch nur die Nazis?) waren die größten Verbrecher aller Zeiten, sozusagen ewige Weltmeister des Bösen, da kann keiner mithalten, und jeder Versuch, statt mythischer Entrückung des Geschehens Vergleiche zum Aktuellen herzustellen, ist als Relativierung unzweifelhaft Teufelswerk.
Zufrieden und beglückt lehnt sich die deutsche Seele zurück. Zugegeben, denkt sie, es gibt zum Glück immer was zum Nörgeln (Bahnstreik! Heizkosten! Pisa-Studie! Fußballtrainer! usw. usf.), aber wenn wir was richtig gut können, dann gedenken. Unser Gedenken ist unentrinnbar. Wir gedenken gegen das Vergessen und für ein ewiges Andenken. An uns selbst und unsere armen Opfer als Funktion unserer Missetaten. Wir haben uns selbst überwunden und damit für alle Zeiten so zu den eigentlich Guten gemacht. Unser Versagen und wie wir es so herrlich angenommen und in unsere Geschichte eingeschrieben haben, wird auf diese Weise für immer unser Ruhmesblatt sein. Dass wir so gut im Gedenken sind, macht uns aus. Denkmäler, Stolpersteine, Feierstunden, Benennung von Straßen und Schulen, Museen und Dokumentationszentren, Wiederaufbau von Synagogen etc. pp., das alles zeigt uns, wer wir sind und wie gut wir doch wieder geworden sind.
Da würden Vergleiche mit der Gegenwart nur stören. Wer käme auch auf die Idee, im Land der historisch bewältigen Massenmordes in- und ausländische Armut, Unbildung, Umweltzerstörung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen? Wer würde es wagen, die wesentliche Mitwirkung an der Weltwirtschaftsordnung als Verhöhnung jeglicher Ethik zu kritisieren? Wer dürfte es unternehmen, die Abwimmelung von Flüchtlingen („Ach wie schade, aber sie haben hier keine Bleibeperspektive, husch, husch zurück!“) und die Erzeugung von Fluchtursachen sowie die Finanzierung und Ausstattung von Kriegen als direkten Widerspruch zum selbstgerechten Gedenken anzusprechen? Niemand. Jedenfalls nicht, wenn gerade so schön erinnert, beschworen und gemahnt wird. ― Und jetzt ein Streichquartett mit staatstragender Musik. Bitte Ruhe, wir gedenken hier.

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