Dienstag, 3. Dezember 2024

An M.

Heute wäre dein sechzigster Geburtstag gewesen. Oder doch schon der einundsechzigste? Wie war das damals: Als wir einander begegneten, warst du zwei Jahre älter als ich, aber das war im Sommer, ein halbes Jahr später waren es dann alsp vielleicht schon gleichsam drei Jahre … Das kommt mir jetzt sehr wahrscheinlich vor.
Dein einundsechzigster Geburtstag wäre also heute. Wenn du nicht schon vor 36 Jahren gestorben wärst. An den Folgen eines von dir verursachten Autounfalls.
Am ersten Abend unserer ersten Begegnung, als wir nach einem universitätspolitischen Treffen von Philosophiestudierenden noch in kleiner Runde in einer Pizzeria saßen, fragtest du herum, wie die anderen denn ihr Studium finanzierten, ob die Eltern zahlten, ob jemand ein Stipendium habe oder wie jeder sein Geld verdiene. Und du erzähltest stolz, du habest jetzt deine Zulassung als Taxifahrer, dein Einkommen sei gesichert.
Anderthalb Jahre später bist du beim Taxifahren umgekommen. Ich habe dich nie als Autofahrer erlebt (nur einaml als Motorradfahrer gesehen), aber man erzählte mir später, du seist immer schnell und unvorsichtig gefahren. So hast du wohl auch den Unfall verursacht, der dich tötete, nach ein paar langen, für deine Angehörigen, Freunde und Bekannten sehr quälenden Tagen im Koma.
Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich daran denke. Wir waren befreundet, vielleicht nicht sehr eng, aber wir besuchten gemeinsam Lehrveranstaltungen, politische Treffen, zwei Tutoriumsseminarien im Wald bei Scheibbs, leiteten gemeinsam eine Tutoriumsgruppe für Erstsemestrige, ich war bei dir in deiner WG und einige Male mit dir (und auch anderen) in der gemütlichen Einzimmerwohnung deiner Freundin, wir sprachen in Kaffeehäusern über Gott und die Welt, trieben ein bisschen Politik, lachten viel und kochten auch einmal gemeinsam Spaghetti mit Sugo bei mir zu Hause.
Vor allem aber war ich in dich verliebt. Du warst einfach zu charmant, gutaussehend, intelligent, humorvoll und quirlig. Einmal verglich ich dich mit einem schwarzen Eichhörnchen; schwarz wegen deiner Lockenpracht und deiner (wie vom gemeinsamen Duschen wusste) schwarzen Körperbehaarung. Elastisch und immer auf dem Sprung, vielseitig interessiert und dir Zug um Zug philosophische Grundlagen verschaffend ― wie hätte ich mich nicht in dich verlieben sollen? Irgendwann musste ich mir eingestehen: Ich liebe ihn.
Selbstverständlich erzählte ich dir nichts davon. Ich war damals nicht so weit, und vor allem hätte es nichts „gebracht“, du hattest ja eine Freundin (die ich gern mochte) und erzähltest immer wieder belustigt von den Anmachen, denen du als Taxifahrer ausgesetzt warst. Wobei es anscheinend nur Männer waren, die dir unanständige Angebote machten, obwohl du meines Wissens auch bei Frauen gut ankamst.
Dein Tod traf mich hart. Mich und viele andere. Es war unfassbar. Aus dem Leben gerissen, wie man so sagt. Und man sagte noch viel mehr. Ich ertrug es kaum. Als einige von denen, die mit dir studiert hatten, darunter auch ich, nach deinem Begräbnis noch im Kaffeehaus zusammensaßen, war viel davon die Rede, dass du in unseren Erinnerungen weiterleben würdest, dass es dich noch gebe, solange jemand an dich denke.
Scheiße, dachte ich mir da (sagte aber nichts), das ist mir verdammt noch mal zu wenig. Wie kann es sein, dass er tot ist und ich lebe? Wie soll ich das aushalten? Er sollte leben, was mit mir ist, ist demgegenüber gleichgültig. Er muss leben. Mir genügt nicht dieses lauwarme oder im Grunde kühl-selbstgefällige „in unserer Erinnerung“ Weiterleben, ich will, dass er wirklich und wahrhaftig weiterlebt, als er selbst, als Person, als Individuum, als der, den ich liebe und immer lieben werde, nicht als bloße Idee, als nachlassende Erinnerung, als undeutlich werdender Gedanke.
Und in der Folge begriff ich: Ich kann nicht anders, als an Gott zu glauben. Wenn du tot bist und doch leben sollst, dann muss es Gott geben, damit der Tod nicht das letzte Wort hat und das beruhigende Gerede auch nicht, der billige Trost derer, die einen Verlust dadurch auszuhalten versuchen, dass sie ihn behübschen.
Dein Tod war ein Einschnitt in mein Leben. Ich verlor einen Freund. Kein Gerede kann ihn mir wiedergeben oder mich über den Verlust hinwegtrösten. Nur einer kann mir versprechen, dass du lebst und in Ewigkeit leben wirst. Gott. Nur wenn Gott tatsächlich da ist und jeden Menschen liebt, gibt es einen Grund, nicht irr zu werden oder sich selbst auszulöschen.
Man mag das eine Schwäche nennen: an Gott glauben zu müssen, weil sonst alles sinnlos ist, weil dann der geliebte Freund nicht mehr existiert und das Leben unerträglich wäre. Wenn es denn eine Schwäche ist, dann ist es meine Schwäche für dich. Ich bin aber lieber schwach als treulos, lieber schwach und lächerlich, als dich preiszugeben.
Du selbst hast, glaube ich, nicht an Gott geglaubt. Zumindest hattest du so deine Zweifel, nehme ich an, so jedenfalls deute ich manches deiner Worte. Und mit deiner protestantischen Herkunft hattest du offensichtlich nichts im Sinn. Andererseits … Wir saßen auch Seite an Seite in einem katholisch-theologischen Hörsaal (und hörten einer philosophischen Vorlesung über Freud zu). Über Glauben und Gott haben wir aber nie geredet. Es kam nicht dazu. Wie auch immer. Vielleicht warst du Atheist oder Agnostiker oder ein Suchender oder einfach desinteressiert. Keine Ahnung. Das ist eine Sache zwischen euch beiden. Und inzwischen werdet ihr das geklärt haben.
Sechsundddreißig Jahre bist du tot. Anderthalb mal so lange, wie du gelebt hast. Ich fasse es nicht. Manches Mal bin ich an dein Grab gegangen, habe eine rote Rose auf die Steinplatte gelegt, war über mich selbst gerührt, über meine Treue, meine Rührung, meine nassen Augen. Das ist so unser Ritual, du kannst dich nicht dagegen wehren und siehst es mir hoffentlich nach. Viel kann in dem Grab nicht mehr von dir, deiner sterblichen Hülle, wie man so sagt, übrig sein. Ich habe immer wieder mal versucht, mir Verwesung und Verfall vorzustellen, um das Entsetzliche auszuhalten, aber ich denke an dich unweigerlich als an den hübschen jungen Mann voller Lebenslust, voller Phantasie, voller Zukunft. Das macht alles viel schlimmer. Wäre da nicht der Gedanke, dass du, auf eine Weise, die ich nicht verstehen muss, um an sie glauben zu können, lebst. ― Ich hoffe, dieser Text hätte dir gefallen. Und ich vertraue darauf, dass er dir gefällt.

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