Dienstag, 29. April 2025

Vermutungen über Groll

Sie hatten sich eingerichtet, sie waren zurechtgekommen, sie hatten mitgemacht.
Sie hatten getan, was von ihnen verlangt worden war. Was alle getan hatten.
Man kann nicht einmal sagen, sie hätten sich abgefunden, denn es gab nichts, womit sie sich hätten abfinden müssen. Es schienen ihnen alles selbstverständlich. Es war, wie es war. Man musste das Beste daraus machen.
Und dann sagte man ihnen plötzlich, das sei falsch gewesen. Sie hätten sich falsch verhalten. Sie hätten besser nicht mitgemacht. Sie hätten sich besser nicht eingerichtet, nicht angepasst.
Die, auf die sie früher gehört hatten, seien die Falschen gewesen. Keine guten. sondern Verbrecher.
Ihre mickrigen Leben, mit denen sie ganz zufrieden waren, ja auf die sie sogar ein bisschen stolz waren, seien unter völlig falschen Voraussetzungen gelebt worden und darum nichts mehr wert.
Und plötzlich nutzte ihnen ihre Angepasstheit nichts. War ihnen sogar im Wege. Sie mussten umlernen. Eine neue Angepasstheit musste her. Aber das war gar nicht so einfach. Sie sollten anderes glauben und anders handeln, aber sie fühlten noch wie bisher. Sie hatten sich wohlgefühlt. Wieso war das jetzt etwas Schlechtes?
Die im Westen hatten einfach Glück. Die brauchten nicht umzulernen. Sie konnten bei ihrer vertrauten Angepasstheit bleiben. Ihre Erfahrungen, ihre Überzeugungen, ihre Wünsche galten weiterhin. Ihr Verhalten behielt seinen Wert.
Dabei hatten die sich den Kapitalismus so wenig ausgesucht wie die im Osten den Sozialismus. Er war ihnen passiert. Sie hatten sich damit identifiziert, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und nicht Besseres einfiel.
Im Westen wie im Osten war es dasselbe: Die Geschichte hatte ein System über sie verhängt, das war alles. Wurde ein System durch ein anderes ersetzt, hatte man Pech gehabt. Dann wurde man zum Verlierer. Eben noch hatte man alles richtig gemacht, und dann war plötzlich alles falsch.
Das war nicht nur eine Kränkung des Selbstwertgefühls, auch eine des Zugehörigkeitsgefühls. Wir waren wir. Jetzt sollen wir niemand mehr sein? Warum also nicht allem zum Trotz bleiben, wer man war?
Was gewesen war, war gewesen, und ob das Neue wirkliche besser war? Es war einem doch gut gegangen. Man hatte sich ausgekannt. Nun war alles anders. Nichts stimmte mehr. Daran waren andere schuld, man selbst hatte schließlich nichts getan, um alles durcheinander zu bringen. Man man selbst hätte ewig so weitermachen können wie früher.
Wie es heute ist, ist schwer zu ertragen. Man müsste irgendwem die Rechnung präsentieren können. Der Zahltag muss kommen.

Montag, 28. April 2025

Sonntag, 27. April 2025

Notiz zur Zeit (247)

Ein toter Papst ist ein guter Papst: Dass darf man daraus schließen, dass die Lobeshymnen auf den jüngst verschiedenen Pontifex geradezu überschnappen. Während zu seinen Lebzeiten keine Rede davon sein konnte, dass Politiker auf ihn gehört oder Gläubige seinewegen die Kirchen gefüllt hätten, wird jetzt pber ihn geradezu Phantastisches erzählt. Nahbar sei er gewesem von großer Einfachheit, ein Freund der Armen und des Friedens.
Ach ja, wer erinnert sich nicht, wie unterm Pontifikat vom Franzl  der Welthunger und die Weltarmut beseitigt wurden und alle Kriege endeten!
Im Ernst: es mag ja sein, dass der Papst schöne Dinge gesagt hat, richtige und wichtige sogar, aber was hat er eigentlich getan? Was bewirkt? Da sieht es doch recht mager aus. Außer einem Herumfuhrwerken an internen Strukturen (die lächerliche Umbenennung fast aller kurialen Institutionen in Dikasterien zum Beispiel) und fragwürdigen Personalentscheidungen gibt es da wenig.
Ein entschiedenes Eintreten für  die unverzerrte Lehre der Kirche: Fehlanzeige. Das Anstellen liturgischer Wildwüchse und ein Rückkehr zu guten Trditionen: Fehlanzeige. Zurückweisung der Machtansprüche von Frauen und Laien und Hervorhebung des Wertes der weihepriesterlichen Hierarchie: Fehlanzeige. Stattdessen hockte in dem hässlichen Gästehaus Santa Marta und erweckte den Eindruck, als brauche die katholische Kirche Reformen (um endlich prorestantisch zu werden), aber er sei zu dumm oder zu schwach, um sie mit Schwung einzuführen, weshalb er es wdersprüchlich ungeschickt und tröpfchenweise tat.
Und politisch? Große Themen, große Worte, mäßiges Medienecho und null Effekt. Nicht, dass einem Papst große Machtmittel zur Verfügung ständen. Und die wenigen, die er hat, das ist klar, muss er vorsichtg einsetzen, um nicht blank darzustehen und die Gläubigen nicht schutzlos repressiven Reaktionen auszusetzen. Aber man kann nicht gleichzeitig das soziale und ökologische Unrecht des Kapitalismus kritisieren und dann mit Politikern plaudern, die genau dieses Unrecht forcieren. Da solche Begegnungen bloß symbolischen Charakter haben (Bildchen fürs Internet) und den Politikern wurscht ist, was der Papst dabei redet, könnte man derlei auch ersatzlos streichen. 
Und weshalb nicht scharf Stellung beziehen vor demokratischen Wahlen? Katholiken mit guten Gründen verbieten, den Ehebrecher, Lügner, Betrüger und Verfolger der Armen Donald Trump zu wählen? Die Kiche habe sich in Politik nicht einzumischen? Dann ist sie wertlos. Gebt dem Kaiser, was des Kasers ist, meinetwegen, aber Gott zu geben, was Gottes ist, muss, wenn es einem damit ernst ist, auch bedeuten, politische Entscheidungen am Willen Gottes zu messen. 
Kurzum, ich habe von diesem Papst nie viel gehalten. Zu unintelligent und ungebildet, zu willkürlich und unbedacht schien er mir, dazu diese grässliche Sprache (durch kolonialspanischen Akzent gelähmtes Italienisch), diese aufgesetzte Bescheidenheit, dieses mangelnde Sensibilität gegenüber Traditionellem und Schönem, dieses dämliche Grinsen und die unterschwellige Aggressivität - alles nicht mein Fall. Musste es ja auch nicht sein. Um solchen Hierarchen nicht zu unterstehen, habe ich mich ja schon vor Jahrzehnten abkoppelt von dieser Kirche, die sich nicht ernst nimmt und die man in weiten Teilen (und eben in diesem Fall an der Spitze) nicht ernst nehmen kann. 
Franz war ein Symptom für vieles, woran der mystische Leib Christi krankt. Anpassung an den Zeitgeist wird keine Heilung bringen, sie ist vielmehr die Ursache. Möge der nächste Bischof von Rom zur Lösung gehören, nicht zum Problem.

Mittwoch, 23. April 2025

Aufgeschnappt (bei Rainer Maria Rilke)

Aber wie das Geld in die Welt gekommen ist und was es will, kann ich nicht verstehen und bin diesem Kampfe nicht gewachsen.

Dienstag, 22. April 2025

Literatur als Gesellschaftskritik, was sonst?

Ich könnte nie mit der Motivation von Gesellschaftskritik ein Buch schreiben. Gesellschaftskritik, das ist viel zu dürr und trocken und eindimensional. Und irgendwie zu dumm. (A. Krauß)
Außer diesen Sätzen, die mir irgendwie aus den Nebeln des Internets zufielen, habe ich nichts von Frau K. gelesen, und das wird hoffentlich auch so bleiben. Von solchen dämlichen Autorinnen möchte ich nämlich eigentlich nicht einmal wissen, dass sie existieren. Leider interessiere ich mich aber für Literatur, und obwohl ich von meinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nichts halte und mich bemühe, deren literarische Produktion weitgehend zu ignorieren, rutscht in meinem bescheidenen einschlägigen Medienkomsum ab und zu solcher Quatsch doch durch und verschmutzt meine Wahrnehmung. Um die Intoxikation durch derlei übermäßige Unintelligenz loszuwerden, muss ich jetzt ein wenig dagegen anschreiben.
Ich sag mal so: Wer nicht vorhat, ein Buch zu schreiben, um die Gesellschaft, in der er sich befindet, zu kritisieren, sollte bitte überhaupt nicht schreiben. Da kommt dann sonst nur das übliche Unterhaltungs-, Entspannungs- und Ablenkungszeug heraus, das das Feld beherrscht und die Kanäle verstopft.
Wer hingegen Literatur als Kunst auffasst, setzt sie notwendigerweise gegen das, was ist. Dazu muss er gar nicht wissen, dass das tatsächlich Gesellschaftskritik ist. Freilich, wer darüber mittels geeigneter Begriffe nachdächte, käme darauf. Und auch kundigen Leser und Leserinnen sollte es eigentlich aufgefallen sein. Denn was wären, um nur ein fast willkürliches Dutzend wichtiger Werke der Neuzeit zu nennen, „Don Quijote“ oder „Tristram Shandy“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder „Ulysses“, „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder „Der Prozess“, „Der Zauberberg“ oder „1984“, „Naked Lunch“ oder „Die Strudelhofstiege“, „Archipel GULag“ oder „Petrolio“ ― was also wären alle diese „Bücher“, wenn nicht Gesellschaftskritik? Nämlich (keineswegs dürre, trockene, eindimensionale und dumme) Auseinandersetzungen mit Geschichte und Gegenwart der real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Man kann aber natürlich auch Kochbücher und Krimis oder irgendwas mit Drachen, Vampiren und auf Einhörnen reitenden außerirdischen Feen schreiben und lesen …
Ein Schriftsteller, der seinen Beruf ernst nimmt und nicht bloß einen Job erledigt, schreibt über das, was ist, was nicht sein soll, was sein soll. Wenn er das nun allerdings affirmativ täte, wäre es banal, langweilig und uninteressant. Also schreibt er, um das wenigste zu sagen, explizit oder implizit problematisierend. Bereits das ist, in weitem Sinne, Gesellschaftskritik.
Aber man kann sogar noch tiefer ansetzen: Wer schreibt, erzeugt sprachliche Ereignisse, die mit schon bestehenden sprachlichen Ereignissen korrespondieren. Das ist eine etwas abstrakte Weise zu sagen: Wer Literatur produziert, so originell, innovativ und gegebenenfalls sprachverformend und sprachzertrümmernd er auch vorgehen mag, arbeitet immer mit Sprache, also etwas, das andere schon gestaltet haben, etwas, dessen Regeln und Bedeutungen, wie auch immer er sie erweitert, bricht oder abändert, ihm vorgegeben sind. Arbeit mit und an und durch Sprache aber, die nicht bloß halb bewusstloses Plappern ist, ist unweigerlich Gesellschaftskritik. Weil in der Sprache die expressiven und kommunikativen Verhaltensweisen nachklingen und sich als wiederholbar ankündigen, die nicht weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen als beispielsweise das Herstellen, Verkaufen und Kaufen von Waren. Wer wie spricht (oder eben schreibt und geschrieben wird), gehört ebenso zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wie Einkommensverteilungen, Bildungschancen und Freizeitvergnügen. Sprache zu verwenden bedeutet, sich gesellschaftlich zu betätigen. Sprache bewusst, gestaltend und gegen das bloß Bestehende zu verwenden bedeutet, Gesellschaft zu kritisieren.
Damit wird Literatur nicht zu Gesellschaftskritik umdefiniert oder zu etwas, was sie nicht ist, „nobilitiert“. Sondern es wird hier bloß das Unvermeidliche festgestellt: Es ist unmöglich, ernst zu nehmende Literatur zu produzieren, die nicht in einem für sie charakteristischen Sinn Gesellschaftskritik wäre. Wer das nicht will ― und das sind vermutlich leider viele ―, sollte besser die Griffel von der Feder oder Tastatur lassen. Aber wer schriebe dann den ganzen Dreck, mit dem der Buchhandel die Massen abfüttert?

Montag, 21. April 2025

Polemik gegen eine Rezension

In einer Rezension lese ich diese Sätze (einer Rezensentin über eine Autorin): Sie bekennt sich zu Judith Butlers These: „Im säkularen Recht aktualisiert sich die religiöse Figur göttlicher Autorität in säkularer Gestalt.“ Diese Deutung liegt nicht nur quer zu den politischen Ideen der Aufklärung. Sie liegt auch quer zu deren (wie immer auch unvollkommener) Institutionalisierung in liberalen Verfassungsstaaten.
Das mag sein wie es wolle, die Frage ist aber doch, ob die These (sei sie von Butler oder sonstwem) richtig oder falsch ist. Dass sie die Rezensentin empört, ist hingegen belanglos.
Moderne Moral und modernes Recht gründen gerade nicht in ‚außerweltlichen‘ göttlichen Geboten.
Das hat ja auch niemand gesagt, sondern (in der von der Rezensentin zitiertern Formulierung) geradezu das Gegenteil. Nebenbei bemerkt sind religiöse Gebote niemals „außerweltlich“, sondern immer „innerweltlich“ gegeben und auf „innerweltliches“ Handeln bezogen. Die Säkularisierung des Rechts nun bedeutet gerade den Verlust einer „Gründung“ (Begründung) in göttlichem Gebot. Was seit Menschengedenken selbstverständlich war, dass nämlich außer dem von Menschen gesetzten und von Menschen vereinbarten noch anderes, sogar übergeordnete Recht anerkannt werden müsse, das göttliche oder natürliche Recht, schaffte die neuzeitliche Verweltlichung selbstherrlich ab und setzte den unbedingten Vorrang des von Menschen gemachten Rechts durch, dessen Willkür freilich durch seine angebliche Vernunftnotwendigkeit oder seine Begründetheit durch einen rein imaginären Gesellschaftsvertrag verschleiert wurde.
Sie (moderne Moral und modernes Recht, St. B.) gründen im kollektiven menschlichen Wollen.
Nein, tun sie selbstverständlich nicht. Egal, ob es ein Fürst ist, der Recht setzt, oder demokratisch installierte Institutionen, erst kommt die Setzung, dann das Wollen. Logisch ist es ja auch gar nicht anders möglich: Die Leute könne nicht beschließen, eine Demokratie sein zu wollen, solange sie keine sind. Das „kollektive Wollen“ ist ein Popanz, den interessierte Kreise herumreichen, um der Masse der fremdbestimmten einzureden, sie hätten sich ihre Regierung und das Regiertwerden ja schließlich selbst ausgesucht ― und müssten sich also auch daran halten.
Und sie (Moral und recht, St. B.) sind nicht nur weitere (subtilere) Varianten gesellschaftlichen Zwanges.
Selbstverständlich sind sie genau das. Was denn sonst? Wer hätte es sich den ausgesucht, in einer Demokratie zu leben, in der erstens inkompetente Idioten, weil sie in der Mehrheit sind, inkompetente Idioten wählen, die Politik simulieren; und zweitens, in einem System zu leben, in dem diese Vorspiegelung der „Volksherrschaft“ („kollektives Wollen“) die Herrschaft der wirklich Mächtigen, deren Interesse an Profitmaximierung alles bestimmt, wo nicht unsichtbar, so doch unantastbar macht?
Demokratien sind nicht unbedingt weniger repressiv als Diktaturen, der von ihnen ausgeübte Zwang ist nur subtiler und besser zur Verinnerlichung geeignet. Man muss schon Kröten schlucken, um lächerlichen Diktatoren zu glauben, dass sie weise sind. Der weit verbreitete Glaube, die Stimmenmehrheit erlaube es, über andere zu bestimmen, ist nur eine zivilisierte Form der Anerkennung des Rechts des Stärkeren (das bekanntlich keines ist). Populismus ist ein wesentliches Element des Faschismus. und Demokratie ist nichts anderes als institutionell gezähmter Populismus.
Sie (Moral und Recht, St. B.) sind auch eine Emanzipation von auferlegten Zwängen: Letztlich sollen die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten nur Gesetzen gehorchen müssen, als deren Autoren sie sich selbst verstehen können.
Das ist lächerlich. Das ist die übliche Lüge. Nur umgekehrt wird ein Schuh daraus. Man will die Leute dazu bringen, sich freiwillig den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen, indem man ihnen einredet, sie selbst könnten sie sich ja ausgedacht haben. Ja, sie hätten es im Grunde saogr. Dabei wird klammheimlich vorausgesetzt, dass „die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten“ nur solches Recht sich ausdenken wollen können dürfen, das ohnehin (und zwar ganz ohne ihre Autorschaft) besteht. Wenn einer versuchte (einzeln oder als Kollektiv), Vorschriften zu ignorieren, weil er die Autorschaft derselben zurückweist ― „das will ich nicht“ ―, bekommt er es mit der staatlichen Zwangsgewalt zu tun, die sich kein bisschen dafür interessiert, ob der Delinquent sich als Autor der Gesetze versteht oder nicht, sondern die geltendes Recht durchsetzt. Basta.
Normativ steht die Garantie der Freiheit und Autonomie der Person im Zentrum.
Was für ein Quatsch. Erstens ist wohl „Individuum“ gemeint, denn Person im juristischen Sinne kann beispielsweise auch eine Aktiengesellschaft oder ein Stiftungsvermögen sein. Zweitens geht es beim säkularen Recht des Staates nicht um Freiheit und Autonomie, sondern der Staatszweck ist es, die Reichen reicher werden zu lassen und alle anderen in Schach zu halten. Dass sie frei und autonom wären, redet man den Leuten lediglich ein. Niemand aber ist frei, wenn er im Kapitalismus leben und seinen Unterhalt durch Einspeisung seiner Arbeitskraft in ein System der Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung erlangen muss. Ja, es gib Abstufung der Repression, es gibt Unterschiede der Gängelung, Bevormundung, Unterdrückung. Käfighaltung und Freilandhaltung sind nicht dasselbe. Aber im Supermarkt zwischen mehreren Dutzend von der Lebensmittelindustrie zusammengebrauten Yoghurtsorten wählen zu müssen (für Besserverdiener: zwischen den urigen Anbieterinnen auf dem Bauernmarkt zu flanieren), ist keine Freiheit. Es ist Konsumvertrottelung. Toleranz ist gut fürs Geschäft. Wenn die Leute sich wegen ihrer Überzeugungen und Vorlieben die Köpfe einschlagen, produzieren und konsumieren sie nicht so fleißig, wie wenn ihnen die Lebensweisen ihrer Mitmenschen ziemlich egal (oder eine ablenkende virtuelle Aufregung) und für sie nur bestimmend ist, was einflussreiche Vorbilder besitzen und verkörpern. Warum sonst wären die Konsumentscheidungen der Leute einander im Prinzip (je nach Milieus und Potenzial) so verdammt ähnlich? Weil im Grunde jeder dasselbe will? Oder nicht deshalb, weil die Autonomie bloßer Schein und die Steuerung des Begehrens, Wünschens und Wollens die tatsächliche Realität ist? Weil sie meistens nicht mit Schlägen, Tritten und Einkerkerungen arbeitet, ist die Entfremdung und Entmächtigung in den liberalen Konsumgesellschaften doch nicht weniger effektiv als in offenen Diktaturen (sogar effizienter).
Dieser Freiheit sind durch gleiche Freiheitsrechte aller anderen, durch Folgenverantwortung und durch die in modernen Wohlfahrtsstaaten auferlegten Pflichten zu Solidarität und Gemeinwohlorientierung Grenzen gezogen.
Meine Güte, als ob prämoderne Gesellschaften nicht wesentlich stärker von gemeinschaftlicher Fürsorge geprägt gewesen wären als die anonymen, von beziehungslosem Nebeneinander durchdrungen Lebensweisen in der Moderne! Der moderne Wohlfahrtsstaat ist ja bloß der bürokratische Ersatz für die durch Säkularisierung zerstörte Gemeinschaftlichkeit, Fürsorglichkeit und „Solidarität“. Und wenn es tatsächlich ums Gemeinwohl ginge und nicht um Ausbeutung und asoziale Bereicherung, dürfte die Politik in kapitalistischen Gesellschaften nicht so aussehen, wie sie nun einmal aussieht.
Das liberale Dogma zudem, nach dem meine Freiheit durch die der anderen (und deren legitime Ansprüche) eingeschränkt wird, ist völliger Blödsinn. Deine Freiheit bedingt meine und meine deine, Freiheit ist Ermöglichung und schränkt nicht ein. Freiheit ist ein gesellschaftliches Verhältnis und kein individueller Status. Diese Schrebergärtnerperspektive soll die Leute nur vom Begreifen von Zusammenhängen abhalten. Deren wichtigster ist: Die Freiheit eines jeden ist die Bedingung auch meiner Freiheit.
Ich habe das zur Rede stehende Buch noch nicht gelesen und kann trotzdem sehen, dass die zitierte Besprechung ideologischer Blödsinn ist. Daraus folgt übrigens nicht, dass das Buch das nicht ist.Aber anscheinend verteigt ist, im Unterschied zur Rezension, nicht den kapitalistisch-liberalistischen status quo.

Leute (28)

Mein Studienkollege X. war Alkoholiker. Einige Male gelang es ihm, der irgendwie einen Narren an mir gefressen hatte, meine Gutmütigkeit und mein Verantwortungsbewusstsein auszunützen und sich nach irgendeinem studentischen Treffen sturzbetrunken von mir, der ich wohl auch nicht mehr völlig nüchtern war, zu ihm nach Hause bringen zu lassen. Bei einer dieser (zum Glück seltenen9 Gelegenheiten nötigte er mich, noch eine Weile zu bleiben, und holte dann unvermittelt oben vom Schrank eine Schachtel herunter und stellte sie vor mich auf den Tisch. Darin war ein Dildo. Nun erzählte mir X. unaufgefordert von seiner Vorliebe für Analsex und dass es nicht einfach sei, Frauen dazu zu bekommen, ihm, wie er es nenne, „ein Zäpfchen zu geben“. Er habe auch schon versucht, sich von einem Mann ficken zu lassen, aber da er nun einmal nur auf Frauen stehe, sei das nicht das Richtige gewesen. Das wollte ich alles gar nicht wissen und sah dann zu, dass ich bald wegkam. Bis heute weiß ich nicht, ob er mich bloß verblüffen und provozieren wollte, was ihm beides nicht gelang, oder ob er womöglich eine gewisse Hoffnung hegte, sein schwuler Bekannter werde ihn mit dem Gummischwanz ficken. Wenn dem so war, bereue ich es bis heute nicht, ihn enttäuscht zu haben.

Samstag, 19. April 2025

Passion, umgeschrieben

Dass in den Erzählungen vom Leiden und Sterben unseres Herrn und Erlösers der Pöbel „Kreuzige ihn!“ schreit (in den biblischen Texten oder in Vertonungen), deuten heutzutage manche pflichtschuldig als „Ausdruck des kirchlichen Antijudaismus, der dem späteren Antisemitismus den Boden bereitet hat“. Will sagen: Millionen von Menschen wurden vergast, weil antike Autoren (die übrigens der selbstverständlich längst pflichtschuldig bestrittenen Überlieferung nach selbst Israeliten/Judäer waren) besagte Rufe frei erfunden haben.
Denn historisch gesehen (jedenfalls nach der pflichtschuldiger Umarbeitung der Geschichte) war es ganz bestimmt umgekehrt: Die zufällig vorbeikommenden Leute, die gar nicht von der pharisäischen und sadduzäischen Führung angestachelt wurden, riefen: „Tu ihm nichts, o Pilate, dass ist doch unser lieber Rabbi Jehoschua, der ja bloß ein Reformjudentum will und keineswegs von sich sagt, er sei Gottes Sohn!“
Schuld waren am Justizmord also dann die Römer. Ärgerlich, ja skandalös, dass in der Folge die betrügerischen Jünger des Nazareners auch noch seine Auferstehung erfunden haben (wo doch jeder weiß, dass der Mann die Kreuzigung überlebte ― übrigens als einziger Fall in der Geschichte römischer Hinrichtungen ― und dann später nach Kaschmir auswanderte). Da war’s dann vorbei mit Reformjudentum, und das Christentum wurde zur antisemitischen Sekte.
So muss es zumindest sehen, wer seine Pflicht gegenüber dem Zeitgeist erfüllen will, demgemäß Schwarz Weiß ist, Lüge Wahrheit und Ungeist Aufklärung.

Zeitgeistgeschwätz zum „Zwangszölibat“

Herr Grünwidl, derzeit Diözesanadminstator für das Erzbistum Wien, spricht sich in einem Interview für einen freiwilligen Priesterzölibat und gegen einen „Zwangszölibat“ aus. „Ich sehe nicht ein, dass es notwendig ist, zölibatär zu leben, um Priester zu sein. Das sehen wir ja aus unseren Schwesterkirchen, den orthodoxen Kirchen und auch bei den Pfarrerinnen und Pfarrern der evangelischen Kirche, dass es durchaus möglich ist, mit Familie eine seelsorgliche pastorale Aufgabe zu übernehmen.“
Stimmt, die Weltpriester der orthodoxen Kirchen (und übrigens auch der katholischen Ostkirchen, die Grünwidl nicht erwähnt, obwohl er in Österreich deren zuständigen Ortsbischof vertritt) können vor der Priesterweihe heiraten. Mönche aber selbstverständlich nicht, und aus dem Mönchtum stammen die Bischöfe. Es gibt also auch in den Ostkirchen einen „Zwangszölibat“, aber eben nicht für alle. ― Die Protestanten fallen als Vergleichsobjekte völlig aus, sie haben kein Weihepriestertum und kein Ehesakramtent. Ihre Vereinigungen sind auch gar keine Kirchen.
Grünwidls „Ich sehe nicht ein“ ist einmal mehr eine diese inkompetenten Äußerungen schlecht ausgebildeter, überheblicher Kleriker, die offensichtlich gar nicht übersehen, was sie mit ihrem Geschwätz anrichten.
Was soll ein „freiwillger“ Zölibat sein? Wie wirkte ein Priester, der nicht heiratet, auf die Leute in dieser Zeit? Mit dem kann doch was nicht stimmen, würde es heißen. Ist er pervers, schwul, pädophil? Nicht heiraten ist doch nicht normal.
Und wer Ehe sagt, sagt heutzutage auch Scheidung. Zivilrechtlich geschiedene Priester, das fehlt noch! Was kommt dann als Nächstes? „Wiederverheiratung“? Viel Vergnügen damit.
Grünwidl tut seiner Kirche mit unüberlegten Äußerungen keinen Gefallen. Im Gegenteil, er schadet ihr nach Kräften, indem er dem Zeitgeist huldigt, statt die überlieferte und wohlbegründete Haltung der Kirche zu verteidigen. Das erweckt den Eindruck, der Zölibat stehe offiziell zur Diskussion. Und das, obwohl Grünwandl überhaupt kein Argument gegen den obligatorischen Zölibat anführt. Er sagt bloß: „Es gab in der Kirche eine lange Zeit, in der es das Zölibat als Verpflichtung nicht gegeben hat.“ Stimmt nicht. Jesus war unverheiratet. Mönche und Nonnen waren immer schon Zölibatäre. Und was die Weltkleriker betrifft, da will Grünwidl plötzlich tausend Jahre und mehr zurück? Warum? Weil der Zeitgeist das so will?
Selbstverständlich faselt Grünwindl auch was von Priestermangel. Um es klar zu sagen: Wenn der geforderte Zölibat einen Mann daran hindert, sich für den priesterlichen Dienst zu entscheiden, dann weiß er sich eben nicht wirklich berufen oder entscheidet sich gegen die Berufung. Traurig, aber das ist dann halt so. verantwortlich muss man dafür wohl die kirchen-, priester- und keuschheitsfeindliche gesellschaftliche Stimmung machen, zu der Grünwidl mit seinem Gerede einen bescheidenen Teil beiträgt.
Aber gibt es überhaupt einen Priestermangel in der katholischen Kirche? Weltweit steigt Jahr für Jahr die Zahl der Geweihten. Nur Europa schwächelt. Aber herrscht dort Mangel? Rechnen wir nach: Zur Erzdiözese Wien gehören (2021) rein registratorisch 1.156.923 Katholikinnen und Katholiken. Es gibt (2020) 616 Priester (dazu 492 Ordenspriester). Das ergäbe 1.878 Katholiken je Priester (mit Ordenspriestern 1.044). Nur sind ja nicht alle Registrierten tatsächlich aktive Kirchenmitglied. Nimmt man die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher zum Maßstab, die bei höchstens zehn Prozent liegt, kommt man auf 190 bis 100 Gläubige pro Kleriker. Ist das wenig? Ist das ein Mangel? Wenn man freilich ein umfangreiches Verwaltungs-, Unterhaltungs- und Repräsentationsangebot aufrecht erhalten will, statt sich endlich als Katakomben-Kirche gegen den Mainstream zu positionieren … ― Mag übrigens sein, dass die Protestanten keinen Mangel an Pastoren und Pastorinnen haben; aber denen laufen, in Österreich und der BRD, die Gläubigen ja noch schneller davon als bei den Katholiken …
Es steht zu hoffen, dass weder Grünwidl noch irgendein anderer klerikaler Dummschwätzer der nächste Erzbischof von Wien wird. denn dann würde ich es sehr bedauern, aus dieser sich selbst nicht ernst nehmenden Kirche nicht austreten zu können. Weil ich genau wegen solcher Leute schon vor Jahren ausgetreten bin.

Freitag, 18. April 2025

„Ich fühle Furz von anderem Planeten“ *

Einmal mehr verkünden die Sternenkundler, sie hätten womöglich irgendwo draußen im Weltall Auerirdische entdeckt. Genauer: auf einem 124 Lichtjahre entfernten Planeten Gase festgestellt, die auf der Erde nur von Lebewesen erzeugt würden, weshalb diese Gase vielleicht, vielleicht auch nicht, Anzeichen von außerirdischem Leben seien. Dazu könnte man einiges anmerken: Beobachter worden können diese Gase nicht, die Entfernung ist zu groß (1,17 Billiarden Kilometer, das ist 156.405-mal die Entfernung des Pluto von der Erde), also wurden sie nur errechnet. Was auch immer da festgestellt wurde (oder nicht), es ist 124 Jahre her. Und dann, selbst wenn es sich tatsächlich um dieselben chemischen Verbindungen wie auf der Erde handelt, wer sagt, dass sie dort auf „K2 – 18b“ nicht unter ganz anderen Bedingungen entstanden? Die Algen, die auf der Erde das Gas erzeugen (vulgo „furzen“), sind recht schlichte Lebensformen. Mag sein, dass die in ihnen vorkommende chemische Reaktion anderswo andere Ursachen hat. Kann man beweisen, dass das nicht möglich ist?
Die entscheidende Frage ist freilich eine ganz andere: Warum möchten Menschen so verzweifelt daran glauben, dass es außerirdisches Leben gibt? Die Antwort ist einfach: Damit das irdische Leben seine Besonderheit verliert. Leben, das menschlicher Erfahrung nach nie und nirgends aus Totem „von selbst“ entsteht, soll doch bitte, bitte genau das tun. Damit ein intentionaler Schöpfungsakt in Frage gestellt wird. (Was er selbstverständlich nicht wird: Wenn Gott auf der Erde Leben erschafft, kann er das auch auf „K2 – 18b“.) Damit alles Leben ein Zufall ist, das menschliche Leben inbegriffen. Damit alles zufällig und sinnlos ist. Damit alles verwertet werden und mit allem immer mehr Profit gemacht werden kann.
Gott ist tot, lautet ein Dogma der Moderne. Algen furzen, könnte ein anders lauten. Wir sind nicht allein, aber sehr weit weg, könnte man sagen. Irgendwo da draußen lebt irgendwas, das genauso zufällig und sinnlos ist, wie wir. Und dem lebendigen, sinnstiftenden Gott mit seinem ganzen Zubehör von Gnade, Schuld, Sühne, Ewigkeit tanzen wir lustlos auf dem Grab. Wenn wir die Gebühr dafür entrichtet haben ...

* Stefan George: „Entrückung“ (1917): „Ich fühle luft von anderem planeten. / … /“

Mittwoch, 16. April 2025

Mein Tierkreiszeichen

„Was ist dein Tierkreiszeichen?“, fragte mich vor Jahrzehnten eine Mitschülerin. „Nashorn“, antwortete ich ohne Zögern. Dabei bin ich geblieben und habe es niemals bereut.

Sonntag, 13. April 2025

Notiz zur Zeit (246)

Ich sag mal so: Wenn die USA wirklich Frieden wollten, dann träten sie Alaska an die Ukraine ab, die dieses dann mit Russland gegen die Ostukraine tauschen könnte.

Donnerstag, 10. April 2025

Sozialismus funktioniert

„Eine Klasse bestand darauf, dass Sozialismus funktioniere und niemand arm und niemand reich sein sollte, alle seien gleich! Der Lehrer sagte: „Okay, wir machen in dieser Gruppe ein Experiment zum Thema Sozialismus. Alle Noten werden gemittelt, und jeder bekommt die gleiche Note, sodass niemand durchfällt und niemand die Höchstnote 10 bekommt.“ Nach dem ersten Test wurden die Noten addiert und durch die Anzahl der Schüler geteilt, und jeder bekam eine 8. Die Schüler, die intensiv gelernt hatten, waren verärgert, aber diejenigen, die weniger gelernt hatten, freuten sich riesig. Als der zweite Test näher rückte, lernten die Schüler, die wenig gelernt hatten, noch weniger, und diejenigen, die intensiver gelernt hatten, sagten sich, dass sie auch eine geschenkte Note wollten, also lernten sie auch weniger. Der Durchschnitt des zweiten Tests lag bei 6! Beim dritten Test lag die Durchschnittsnote bei 4. Zur großen Überraschung aller Schüler fielen sie alle durch. Einfacher geht es nicht. Der Lehrer erklärte ihnen, dass der Sozialismus letzten Endes scheitern werde, denn wenn die Hälfte der Bevölkerung sehe, dass sie nicht arbeiten müsse, weil die andere Hälfte sich um sie kümmere, und wenn die Hälfte, die gearbeitet habe, erkenne, dass es keinen Sinn mehr habe zu arbeiten, weil andere die Nutznießer ihrer Arbeit seien, dann sei das das Ende jeder Nation … *

Dieses Internetfundstück (das wahrscheinlich in diversen Versionen zirkuliert) ist ziemlich dumm. Weil es aber so klar strukturiert ist ― und manche Überzeugte überzeugt haben wird ―, lohnt es sich vielleicht, die angesammelten Denkfehler zu betrachten.
Dass Sozialismus funktionieren könne und niemand arm und niemand reich sein solle, ist die Ausgangsthese, die das Textchen widerlegen will. Dabei wird dann allerdings nur das Funktionieren angeblich bestritten. Das ethische Postulat hingegen nur indirekt: Weil Sozialismus nicht funktionieren kann, muss es Arme und Reiche geben. Allerdings wird gar nicht gesagt, was Sozialismus überhaupt ist oder sein soll. Geredet wird nämlich lediglich von Gleichmacherei (alle bekommen dieselbe Prüfungsnote). Aber ist das Sozialismus?
Nein. Von jedem verzerrenden Nebensinn (wie Arbeiterbewegung, Marxismus, bolschewistische Herrschaft usw.) freigehalten, bedeutet Sozialismus schlicht: Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Anders gesagt: Niemand soll Eigentum an dem, was für gemeinsames Wirtschaften benötigt wird, dazu benützen können, andere auszubeuten.
Das besagt allerdings nichts über Egalitarismus. Dass den Arbeitern einer Fabrik die Maschinen, an denen sie arbeiten, gemeinsam gehören (und nicht etwa einem „Unternehmer“), bedeutet nicht notwendig, dass alle Arbeiter denselben Lohn bekommen. Sehr wohl kann auch bei Wirtschaften unter den Bedingungen vergesellschafteten Eigentums unterschiedliche Leistung und Verantwortung unterschiedlich bezahlt werden. Warum auch nicht? Das sozial Unrecht, das im Kapitalismus erzwungen wird und das Sozialismus überwinden kann, besteht ja nicht in unterschiedlichen Löhnen, sondern in bizarr auseinanderklaffenden Eigentumsverhältnissen, die dazu führen, dass Gewinne überwiegend gerade nicht nach Leistung, sondern nach Eigentum verteilt werden. Im Grunde, so die kapitalistische Sicht, gehören alle Gewinne der Fabrik den Eigentümern der Maschinen, nicht den Arbeitern, die sie bedienen. Die Fabrikeigentümer (die für ihre Gewinne übrigens nichts tun müssen) geben den von ihnen gnadenhalber Beschäftigten bloß gnadenhalber ein bisschen was ab.
Was nun allerdings gerechte Löhne wären und wo genau Ausbeutung beginnt, ist strittig. Wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, kann das jedenfalls Ausbeutung beenden, denn dann entscheiden die Beschäftigten selbst über die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen. (Auf welche Weise auch immer, aber das ist ein anderes Thema).
Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit schematischer Gleichförmigkeit. Im Gegenteil, unterschiedliche Löhne können als gerechter verstanden werden als ein Einheitslohn. Andererseits kann man anstreben, nicht Leistung, die verschieden sein wird, zu belohnen, sondern Lohn als Möglichkeit, Grundbedürfnisse, die eher gleich sind, und individuelle Wünsche zu befriedigen. So oder so: Das ethische Postulat der Gleichheit kann also zwar als Einkommens- und Eigentumsgleichheit verstanden werden, muss es aber nicht. Gleich sind die Menschen nämlich vor allem dann, wenn jeder dieselben Rechte hat.
Im Kapitalismus steht die Rechtsgleichheit zwar irgendwo auf dem Papier, wird aber auf Grund des Missverhältnisses der Machtverhältnisse zum nicht oder nur gelegentlich verwirklichten Anspruch: Reiche und Arme, Kapitaleigentümer und Lohnabhängige mögen de jure dieselben Rechte zugesprochen bekommen, aber offensichtlich haben sie de facto nicht dieselbe Möglichkeit, diese Rechte auch wirklich auszuüben.
Sozialismus beseitigt zumindest das ungleiche Machtverhältnis von „Arbeitgebern“ (also denen, die Arbeitskraft kaufen) und „Arbeitnehmern“ (also denen, die Arbeitskraft verkaufen), weil gemeinsames Eigentum auch gemeinsame Entscheidungen über den Umgang damit bedeutet, Beschließen also die kollektiven Eigentümer eines Unternehmen ihre Löhne und Gehälter selbst, hat jeder (im Rahmen des ihm Möglichen) dieselben Rechte auf Entlohnung gemäß seiner Leistung. Oder aber man beschließt, Entlohnung und Leistung zu entkoppeln und alle gleich zu bezahlen, weil sie aus Einsicht und Freude arbeiten, nicht aus Konkurrenzbedürfnis oder Gier oder wegen des Zwangs, sonst verhungern zu müssen.
Nun kann aber realistischerweise ohnehin nicht jeder dasselbe zum gemeinsamen Wohlstand beitragen (das ist mit „im Rahmen des Möglichen gemeint), nicht nur, weil es Unterschiede der körperlichen und geistigen Kapazität, der moralischen und fachlichen Bildung und Ausbildung und der Leistungsbereitschaft gibt, sondern auch, weil Alter, Krankheit, Schwäche usw. existieren. Von Kindern und Schwangeren, von Alten, Verunfallten und Kranken wird vernünftigerweise niemand erwarten, dass sie dasselbe „leisten“ (wie immer Leistung bewertet wird) wie Gesunde und Starke.
Allerdings haben alle Menschen dieselben Grundbedürfnisse. Sagen wir einfach: Nahrung und Kleidung, Obdach und Pflege, Zugang zu Bildung und Unterhaltung. Man kann es als selbstverständliche ethische Norm sehen, dass niemandem die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse verweigert wird, schon gar nicht darf sie abhängig gemacht werden von irgendeiner zuvor (oder nachträglich) zu erbringenden Leistung. Jedem Menschen steht es, einfach weil er ein Mensch ist, unbedingt zu, nicht hungern und dürsten zu müssen, sauber und trocken wohnen zu können, nicht zu erfrieren, sich selbst zu säubern und im Bedarfsfall gepflegt und medizinisch behandelt zu werden usw. usf.
Gleiche Bedürfnisse, gleiche Rechte: Auch das kann mit Egalitarismus gemeint sein. Übrigens wird Rechtsgleichheit dann auch bedeuten, das gleiche Recht auf Verschiedenheit zu haben. (Billigkeit, lateinisch aequitas, diese Notwendige ergänzung der Gerechtigkeit, meint ja gerade, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.) Woraus folgt, dass im Hinblick auf sein Menschsein und Bürgersein jeder dieselben Rechte (und Pflichten) hat, ungeachtet seiner Verschiedenheit in anderer Hinsicht ― wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Aussehen usw. usf. Platt gesagt: Das Wahlrecht darf nicht an eine Haarfarbe gebunden sein. Das Recht, sich als Gehirnchirurg zu betätigen, muss sehr wohl an Befähigungsnachweise gebunden sein.
Sozialismus hat also nichts mit Gleichmacherei zu tun. Die berühmte Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnisse“ räumt ja gerade Unterschiede ein. Nicht jeder kann und will dasselbe zum Zusammenleben beitragen. Nicht jeder braucht zum Leben und Wohlbefinden ganz genau dasselbe. Nicht jeder kann oder möchte Proktologe oder Bildhauer sein, Kranke brauchen Medikamente, nicht Gesunde. Usw. usf.
Damit zurück zu der obigen „Widerlegung“. Die mit Sozialismus nichts zu tun hat, wie gesagt, eher mit einer willkürlich fest gesetzte Gleichmacherei. Interessanterweise geht es in der Erzählung auch gar nicht um Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen, sondern um Noten. Wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, das angestrengtes Lernen immer zu bessere Prüfungsergebnissen führt, eine fragwürdige These, die hier aber nicht weiter diskutiert werden soll. Stattdessen tun wir so, als gälte: Einige lernen viel und können darum Prüfungsfragen besser beantworten, andere lernen wenig und antworten schlechter.
Um es noch einmal klar zu sagen. Mit Kapitalismus (der in der Geschichte gar nicht erwähnt wird) hat das nichts zu tun. Nimmt man „viel lernen“ als Gleichnis für „hart arbeiten“ und „gute Noten“ als Gleichnis für „reichlich bezahlt“ werden ― was offensichtlich gemeint ist ―, dann geht es um den Mythos, dass im Kapitalismus jeder durch angestrengte Arbeit zu (mindestens etwas) Reichtum gelangen kann, aber nicht um die Realität, dass die Arbeit der Vielen den Reichtum von wenigen erzeugt. Unter kapitalistischen Bedingungen mag es nämlich ein Gewerbetreibender mit Hilfe von Angestellten und Krediten durch harte Arbeit zu mäßigem Wohlstand bringen, aber wirklich reich und gar superreich wird man nur durch Erben, rücksichtlose Konkurrenz und Ausbeutung, Korruption und Betrug. ― An dieser Stelle zitiere ich selbstverständlich das (echte oder gut erfundene) chinesische Sprichwort: „Ein reicher Mann ist entweder ein Dieb oder der Sohn eines Diebes.“
In einem Erwerbsleben von 50 Jahren mit 80-Stunden-Woche und ohne Urlaub müsste einer jede Arbeitsstunde 4 Euro 79 auf die hohe Kante legen können, um am Ende auch nur eine Million zusammengetragen zu haben. Wer kann das angesichts von notwendigen Ausgaben sowie Steuern und Abgaben schon? Was ist dann erst mit zehn, Millionen, hundert, einer Milliarde? Solche Vermögen kann niemand „erarbeiten“ (und kaum einer durch eine geniale Erfindung erlösen), sie werden vielmehr von anderen erarbeitet und mit legalen und illegalen Tricks und Kniffen zusammengerafft. Aber das nur am Rande.
In dem oben zitierten Text arbeiten einige Schüler oder Studenten hart, andere nicht, aber alle bekommen eine Einheitsnote. Ins Gemeinte übersetzt: verschiedene Leistungen werden gleich bezahlt. Dabei kommt, so der Text, es zu einer Abwärtsbewegung: Es wird immer weniger hart gearbeitet, die Einheitsnote wird immer schlechte. Der Grund dafür ist angeblich die Einheitsnote selbst: Die einen strengen sich nicht an, weil ohnehin andere sich anstrengen und sie, die Leistungsschwachen, trotzdem eine bessere Note bekommen, als ihnen eigentlich für ihre Leistung zusteht; die bisher Fleißigen strengen sich nicht mehr, sondern immer weiger an, weil sie zwar mehr leisten könnten, aber andere sich nicht anstrengen und dadurch die Einheitsnote verschlechtern, sodass gute Leistung nicht belohnt wird.
Psychologisch mag diese Erzählung sogar plausibel sein. Wenn ich am Ende des Tages denselben Lohn für meine hohe Leistung bekomme wie jemand, der weniger geleistet hat, motiviert mich das nicht gerade dazu, weiterhin hart zu arbeiten, sondern im Gegenteil dazu, möglichst wenig zu schuften.
Das ist übrigens auch ein Grund, warum Sozialismus Eigentums- und ungerechtfertigte Lohnunterschiede abschaffen muss. Allerdings ist es doch etwas problematisch, wenn jemand die Arbeit, die er macht, nicht deshalb verrichtet, weil sie im Freude bereit und er sie für sinnvoll hält (etwa als seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen), sondern nur, weil er, wenn er mehr arbeitet als andere, mehr bezahlt bekommt. Wenn mir meine Arbeit Spaß macht und mein Lohn meiner Leistung und meinen Bedürfnissen entspricht, ist mir doch egal, ob andere für weniger Leistung denselben Lohn bekommen. Solange die Minderleistung anderer mir (oder dem Kollektiv) nicht schadet, schleppen wir diese Leute eben mit. Das können wir uns leisten.
Der „Schadenszauber“ ist freilich in dem obigen Narrativ fest eingebaut: Weil einige wenig lernen, sind die Ergebnisse insgesamt schlecht und alle bekommen eine schlechtere Note. Nur ist dieses Prinzip bloße Gleichmacherei und hat, wie bereits gesagt, mit Sozialismus nichts zu tun.
Die Frage, was Menschen dazu motiviert, gute Arbeit zu tun, und was ein vernünftiger und gerechter Umgang mit denen ist, die schlecht arbeiten, stellt sich auch unter sozialistischen Bedingungen (also wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet sind). Es ist aber keine bloß psychologische Frage, sondern auch eine ethische. Es ist die Frage nach dem Wert von Arbeit ― unabhängig von kapitalistischer Verwertung.
Im Kapitalismus wird bekanntlich nicht gewirtschaftet, um Bedürfnisse zu befriedigen und den Menschen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen. Es geht vielmehr um das völlig abstrakte Prinzip der Profitmaximierung. Jenseits bloßer Substistenzwirtschaft ist jedes Wirtschaften auf Gewinn ausgerichtet, um Investitionen tätigen zu können und Vorräte anzulegen ― und nicht bloß von der Hand in den Mund leben müssen. Profit im kapitalistischen Sinne ist aber etwas anderes, er ist Selbstzweck. unmenschlich und menschenfeindlich, zudem zerstörerisch für die Lebensbedingungen auch von Tieren und Pflanzen.
Sozialismus schafft das ab. Wirtschaften wird wieder vernünftiges gemeinsames Handeln, gerichtet auf allgemeinen Wohlstand. (Wobei Schutz und Schonung der natürlichen Umwelt zur Vernünftigkeit dazugehört,)
Das Schul-Beispiel mit der Einheitsnote beweist gar nichts. Schon gar nicht, dass Sozialismus nicht funktioniert, weil die Menschen, wenn sie nicht mehr mit Einkommensentzug, Armut, Verhungern bedroht werden, nicht mehr arbeiten würden.
Baute man das Narrativ um, könnte es so lauten: Es werden gar keine Noten mehr vergeben. Die Kooperative der Schüler oder Studenten entscheidet (konsensuell), was gelehrt und gelernt werden soll. Jeder bekommt die Förderung, die er braucht. Jeder lernt nach seinen Bedürfnissen für die Zwecke, die er anstrebt. Durch individuell angepasste Lehrmethoden erreicht jeder seine Ziele, keiner bleibt zurück, die Fleißigeren und Klügeren nehmen die weniger Motivierten und Unbegabteren im Rahmen des Möglichen mit. Es gibt keine Beurteilung von oben, schon gar nicht wird abstrakte „Leistung“ (Auswendiglernen, Abspulen von Vorgegebenem) gegenüber kreativer Eigenständigkeit belohnt, sondern jeder entscheidet selbst, wie zufrieden oder unzufrieden er mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten ist, wobei es sinnvoll sein dürfte, auf andere zu hören und sich mit ihnen abzustimmen.
Das kann funktionieren. Man kann Mittel und Weg finden, es zu realisieren. Niemand muss ungebildet bleiben, Wissen muss nicht als Herrschaftswissen wenigen vorbehalten bleiben. Und was für solchen Bildungssozialismus gilt, gilt für Sozialismus allgemein.

* A class insisted that socialism is functional and that no one should be poor and no one rich, everyone is EQUAL! The teacher told them, "OK, we will do an experiment on socialism in this group. All grades will be averaged, and everyone will get the same grade, so no one will fail and no one will get a 10." After the first test, the grades were added up and divided by the number of students, and everyone got an 8. The students who studied intensively were upset, but those who studied less were overjoyed. As the second test approached, the students who had studied a little learned even less, and those who had studied more intensively told themselves that they also wanted a "handout", so they also studied less. The average of the second test was 6! When the third test was given, the average score was 4. To the great surprise of all the students, they all failed. It couldn't be a simpler explanation. The teacher told them that socialism will eventually fail because when half the population sees that they can not work, because the other half will take care of them, and when the half that worked realizes that there is no point in working anymore , because others are the beneficiaries of their labor, then that is the end of any nation …

Dienstag, 8. April 2025

Die Demokratieuntüchtigkeit des Boris Pistorius

Es war einmal im Tefau. Anne Will: „Über Jahrzehnte, das wissen wir alle, wurde bei der Bundeswehr gespart, Kasernen dichtgemacht, die Armee um zwei Drittel verkleinert, keine Ersatzteile bestellt, nachbestellt, zu wenig Munition. Hohe Militärs sagen, im Ernstfall würde der Munitionsvorrat genau für zwei Tage reichen.
Boris Pistorius. „Ich weiß nicht, woher Sie diese Informationen haben, und die werd ich mit Sicherheit nicht kommentieren. Das gehört übrigens auch zu den Dingen, die wir lernen müssen, wieder, wir haben uns in unserer Gesellschaft, in unserer offenen und pluralen Gesellschaft angewohnt, über alles, aber auch buchstäblich alles auf den Marktplätzen der Republik und in den Medien zu diskutieren, das war vor fünfzig Jahren etwas anders, und mit recht. Man redet über fragen der Verteidigungssicherheit, der nationalen Sicherheit nicht in allen Details öffentlich und erklärt dem potenziellen Angreifer auch, wie viel Munition wir haben oder wo unsere Schwachstellen sind.“
In dem Moment hätte die Will aufstehen müssen und sagen: Dann ist dieses Interview hiermit beendet, Herr Pistorius.
denn ein Bundesminister, der im Kasinoton erklärt, die demokratische Öffentlichkeit habe gefälligst nicht darüber zu diskutieren, wo die Politik im Bereich der „nationalen Sicherheit“ ganz konkret und geradezu existenzbedrohend versagt hat (und noch versagt), ist ein autoritärer Möchtegernregierer, aber kein akzeptables Gegenüber kritischer Medien.
Diese Politik nach Gutsherrenart (wie vor 50 Jahren, als der unsägliche Schmidt-Schnauze noch bellte) gehört auf den berüchtigten Müllhaufen der Geschichte. Von „Kriegstüchtigkeit“ (aka Verteidigungsfähigkeit) zu schwadronieren, aber nicht Ross und Reiter nennen zu wollen, in den entscheidenden einzelheit also klar zu sagen, wie der Zustand der Bundeswehr tatsächlich ist, untergräbt die Möglichkeit, demokratisch darüber zu entscheiden, was sich ändern muss. Das wird nämlich besser in abhörsicheren Hinterzimmern ausgeklügelt, oder wie?

Ermöglichung, nicht Einschränkung

„Menschliches Bewusstsein ist ja notwendig Bewusstsein von etwas und damit in jedem seiner Akte eingeschränktes Bewusstsein.“ Was für ein Unsinn! Dass Bewusstsein notwendig gegenständlich ist, ist doch keine Einschränkung, sondern im Gegenteil Ermöglichung. „Reines“, also gegenstandsloses Bewusstsein, wäre Bewusstsein von nichts, also gar kein Bewusstsein. Man würde ja wohl auch nicht sagen, weil Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten immer Wahrnehmung von etwas (und sei es etwas Unbestimmtes) ist, sei Wahrnehmen „eingeschränkt“; als ob „reines“ Sehen, also Sehen von nichts, nicht Blindheit wäre, sondern uneingeschränktes Sehen.
Ein ähnliches Missverständnis besteht bei der bekannten Formal „Die Freiheit des einen hört dort auf, wo die des anderen aufhört“. Auch hier ist das Gegenteil richtig. Das liberalistische Konzept, dass die Subjekte nur als Konkurrenten begreift, verfehlt das Eigentliche des menschlichen Daseins, das im Miteinander Voraussetzung und Erfüllung hat. Meine Freiheit wird zwar durchaus durch die Freiheit jedes anderen bedingt, das heißt aber: ermöglicht. Es gilt (das anarchistische Konzept): Keiner ist wirklich frei, wenn es nicht alle sind. Meine Freiheit beginnt also dort, wo die eines anderen beginnt, weil ich seine und er meine ermöglicht.

Zitat aus der Hölle (3)

„Normalerweise wird die sexuelle Vereinigung (der heterosexuelle Koitus, Anm.) in Bildern einer harmonischen Verschmelzung, eines wechselseitigen Ineinanderfließens gefeiert.“ Selbst für einen Germanisten ist das ein maßlos dummer und ungebildeter Satz.

Montag, 7. April 2025

Pryxl gawumti knörraflock ― oder schon wieder ein ausgebliebenes Wunder der KI

Und wieder hat die Künstliche Intelligenz angeblich ein Wunder gewirkt: Eine Stumme spricht! Oder nein, doch nicht. Vielmehr „übersetzt“ eine Maschine die „Gedanken“ einer Frau (die „im Alter von 30 Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, der ihren Hirnstamm schwer schädigte und sie stumm machte“) in „Worte“. Wie das? „(Dabei) trainierten die Forscher ein flexibles, tief lernendes neuronales Netzwerk auf die sensomotorische-Kortex-Aktivität der 47-jährigen Teilnehmerin, während sie 100 ausgewählte Sätze mit einem Wortschatz von etwas mehr als tausend Wörtern still für sich sprach ― also letztlich dachte. Die Frau brauchte also gar nicht erst zu versuchen, Worte hervorzubringen ― sie musste sich die Sätze lediglich vorstellen.“
Mir scheint, das ist nun aber doch Betrug am Kunden. Keineswegs „liest“ die Maschine demnach Gedanken und spricht sie aus. Sondern die Probandin denkt vielmehr bloß an vorgefertigte Sätze und die Maschine registriert, welche Hirnaktivität dabei auftritt, und ordnet Aktivität und Sätze schematisch einander zu.
Da könnte nun freilich so ein Satz auch „Pryxl gawumti knörraflock“ lauten, was überhaupt in keiner Sparche einen Sinn ergibt (aber ausgesprochen werden und also mit sensomotorischen Vorstellungen verbunden werden kann). Wenn man nun „Pryxl gawumti knörraflock“ „still liest, also denkt“, wird dem schon irgendeine Gehirnaktivität entsprechen, und wenn man dann noch vorher einprogrammiert hat, das genaus diese Gehirnaktivität und keine andere besagtem „Pryxl gawumti knörraflock“ entspricht, dann kann die Maschine entsprechend reagieren und „Pryxl gawumti knörraflock“ laut verkünden. Sinn macht das keinen.
Anders gesagt: Die KI erkennt nicht, dass irgendetwas ein Gedanke ist (denn „Pryxl gawumti knörraflock“ ist gar kein Gedanke, insofern es kein sinnvoller Satz ist ― oder überhaupt ein Satz), sondern sie registriert Signale und reagiert auf sie mit ihnen zugeordneten Signalen. Dazu muss sie das jeweilige Signal und deren Zuordnung allerdings vorher kennen. 
Wenn nun aber die Probandin gar keinen der 100 verabredeten Sätze denkt, sondern beispielsweise den Satz „Hier wird schon wieder getrickst, indem Begriffen wie ‘Denken“ und ‘Sprache’ und ‘Übersetzen’ Bedeutungen zugemutet werden, die sie üblicherweise nicht haben, um der KI Leistungen zuzuschreiben, die sie gar nicht erbringt“ ― dann ist die Maschine aufgeschmissen.
Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln heißt nein: Auch so kann man sich bekanntlich verständigen. Aber niemand hielte das für ein „Übersetzen“ von Blinzeln in Sprache. Sondern vereinbarte Signale beziehe sich auf vereinbarte Bedeutungen. Sprache hingegen ist mehr und anderes als eine Abfolge von Signalen. Zur Sprache gehören ja nicht bloß kontextlose Zeichen („Wörter“) und grammatische Verknüpfungsregeln, sondern Sprechsituation, Tonfall, Assoziationsfelder usw. Nur dadurch wird Bedeutung bearbeitet.
Erst wenn man den Unterschied von Sprache (die Menschen sprechen) und Signalaustausch (der bei Tieren, Pflanzen und Maschinen vorkommt) vergisst oder leugnet oder wegdefiniert, erscheint das (im Prinzip, nicht hinsichtlich des technischen Aufwands) sehr schlichte Verfahren des Registrierens und Reagierens als spektakuläres Gedankenübersetzungswunder der Künstliche Intelligenz. Das jedoch ficht die Öffentlich bestimmt nicht an, die längst medial darauf trainiert ist, jede Erfolgsmeldung der KI-Forschung für bare Münze zu nehmen.

Samstag, 5. April 2025

Notiz zur Zeit (245)

„Es wird eine harte Zeit für uns alle werden“, verkündet der Präsident der Industriellen-Vereinigung, Österreichs mächtigster Lobbyismus-Truppe. Mit „uns alle“ meint er naturgemäß nicht sich und Seinesgleichen, denn er darf mit Recht erwarten, dass die neue Bundesregierung tut, was ihres Amtes ist und was alle Regierungen vor ihr taten: Die Reichen reicher werden lassen. Sondern er meint die Masse der Bevölkerung, die mehr zahlen und weniger dafür bekommen soll. Das nennt man: dringend notwendige Reformen.
Es gilt ja der Grundsatz, dass, wenn die geplanten Staatsausgaben die vorgesehenen Staatseinnahmen in bestimmtem Maße übersteigen, „gespart“ werden muss, was in korrekter Sprache heißt: gekürzt, gestrichen, eingestampft. (Den sparen kann man nur, was man hat. Weniger Schulden zu machen, ist keine Ersparnis. Sonst wäre ich Phantastilliardär, weil ich keine Phantastilliarde Schulden habe. Zumindest noch nicht.)
Und dieses mythische „Sparen“ betrifft, wie könnte es anders sein, die, die wenig haben, und nicht die, die viel und zu viel haben. Pensionisten, Lohnarbeitende, Transferleistungsempfänger. Das bringt zwar finanziell wenig, ist aber psychologisch wichtig: Die Leute sollen merken, dass der Kapitalismus kein Zuckerschlecken ist, was gestern noch berechtigter Anspruch war, kann morgen schon Sozialschmarotzertum sein, ein unverständliches Almosen, dass „wir“ uns einfach nicht mehr leisten können.
Die „Leistungsträger“ hingegen, will sagen die eigentlichen Sozialparasiten, deren Leistung darin besteht, für ihr Vermögen nichts (Erbe) oder nichts Gutes (Ausbeutung, Steuervermeidung, Monopolbildung, Korruption usw.) getan zu haben, sind hingegen unantastbar. Die muss man subventionieren und mit Steuererleichterungen beschenken. Wer ― legal, illegal, scheißegal) ― hat, weil er an sich gerissen hat, dem gegeben, und das nicht zu knapp.
Mit anderen Worten: Frühling für IV und andere (moralisch gesehen, nicht juristisch) verbrecherische Vereinigungen, harte Zeiten für „die kleinen Leute“, die „Anständigen und Fleißigen“. Da fragt man sich schon: Wer hat das Gesindel, das da schon wieder regieren wird, eigentlich gewählt? Warum sind die Leute so blöd?

Freitag, 4. April 2025

Zeitvertreib statt Lebenssinn

Wenn die Leute (die meisten schon im Ruhestand) im Tefau nach ihren Hobbys befragt werden, bin ich von den Antworten oft unangenehm überrascht. „Ich fahre gerne Fahrrad.“ Ein Fahrrad ist ein Fortbewegungsmittel. Sich fortzubewegen ist für sich genommen noch keine Freizeitbeschäftigung. Dasselbe gilt für als Hobby angeführte Automobile, Motorräder und dergleichen. Selbst wenn daran geschraubt werden muss. „Wir verreisen gern.“ Mag sein, aber doch nicht jede Woche. Ortswechsel sind kein Hobby. „Mein Hund.“ Ein Haustier ist ein Lebewesen und kein Steckenpferd. „Meine Enkel.“ Um Gottes willen! „Mein Mann.“ Geht’s noch? Was für asoziales Gesocks ist das denn, das Sozialbeziehungen, mögen sie Geschenk oder Last sein, als Freizeitgestaltung betrachtet. So wie vorher in „Beruf und Familie“, oder wie? Wo Ehemann (oder Ehefrau) und Kinder Teil der Doppelbelastung waren, das familiäre Zusammenleben also nicht Sinn und Zweck des Gelderwerbs (neben der Selbsterhaltung), sondern vorübergehendes Beiwerk.
Gewiss gibt es auch Leute, die Volkstanz machen, Kreuzworträtsel lösen, Sonnenuntergänge oder Gänseblümchen photgraphieren, Angeln oder Stricken. Aber selbst all das ist doch bloß Zeitvertreib. Das kann doch kein erfülltes Leben sein. Das dient doch offensichtlich im Gegenteil dazu, die Frage danach, was eine sinnvolle Lebensführung sein könnte, gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die Leute verschwenden ihr Leben, das einzige, das sie haben, mit oft sinnloser Erwerbsarbeit und völlig sinnbefreiten und noch nicht einmal halbwegs aufregenden Tätigkeiten, die im Grunde nur Vertrödeln und Verblöden sind. Wie bescheuert ist das denn!
Ich verstehe das wirklich nicht. Warum gibt es diese Leute? Interessiert sie das nicht? Sind sie so von ihren Gewohnheiten und der allgemeinen Gewöhnlichkeit zugedröhnt, dass das Ungeheure ― „Ich habe nur dieses eine Leben, daraus muss ich etwas machen!“ bei ihnen nicht aufkommt? Ist ihre Existenz für sie ein Zufall, der irgendwann vorüber ist, nichts, was Gründe, Ursache, Zwecke, Ziele hat, nichts für dessen Gestaltung oder Vergeudung man sich rechtfertigen müsste? Und wäre es nur vor sich selbst … Ich finde das unanständig.

Donnerstag, 3. April 2025

Notiz zut Zeit (244)

„Wir müssen sparen. Irgendwo muss das Geld ja herkommen.“ Ach, es ist kein Geld da? Wo ist es denn hingegangen, das Geld? Doch wohl am meisten zu denen, die sich hemmungslos am gemeinsam Erwirtschafteten bedienen dürfen. Also den Reichen und Superreichen. Das Geld ist nämlich sehr wohl da, es ist nur in den falschen Händen. Von dort muss man es wieder holen. 
Langfristig geht es aber nicht um Umverteilung. Die ist Herumdoktern an Symptomen. Es geht vernünftigerweise um Ursachenbekämpfung. also eine Änderung der Struktur des Eigentums an den Produktionsmitteln. Mit anderen Worten: Sozialismus. (Und das global.)

Die vier Phasen des Erwischtwordenseins

1. Es ist nichts passiert.
2. Ich war das nicht.
3. Was passiert ist, ist nicht wichtig.
4. Andere sind viel schlimmer.

Mittwoch, 2. April 2025

Friedensdemonstrierer

Die da von Frieden reden und ihn ohne Waffen schaffen wollen, befinden sich in der privilegierten Situation, dass sie nicht bombardiert werden, dass ihre Angehörigen nicht getötet, verstümmelt, gefoltert, verschleppt, vertrieben wurden, dass der Krieg, der auch gegen sie (und übrigens auch gegen ihr gutes Recht auf freie Meinungsäußerung) geführt wird, derzeit von den Ukrainerinnen und Ukrainern ausgehalten werden muss. Sie tun so, als ginge der konkrete Krieg sie nichts an, für sie existiert er nur als abstraktes Problem. Dieses Abstraktum macht ihnen Angst. Es fordert sie moralisch-ideologisch heraus. Sie wissen sich ihm aber überlegen und bekämpfen es mit ihren bewährten Parolen. Der wirkliche Krieg, der jetzt gerade stattfindet, interessiert sie allenfalls als Anlass, das zu wiederholen, was sie seit langem sagen. Die wirklichen Opfer sind ihnen ziemlich egal. Den Gedanken, wirksame Hilfe zu leisten, was ja vernünftigerweise auch Waffenhilfe bedeuten müsste, weisen sie von sich. Ihr Anliegen ist größer als die empirische Realität. Ihre Betroffenheit ist selbstgewählt und darum nicht so zufällig wie bei den Bedrohten, Bombardierten, Getöteten und denen, die ihr Hab und Gut verloren haben. Deshalb wissen sie besser Bescheid als diese. Ihr Urteil ist nicht von der Parteilichkeit der Leidenden verzerrt. Sie folgen unbeirrt ihren Überzeugungen. Was sie sagen, ist immer richtig, solange es nicht mit Tatsachen verglichen wird. Nicht nur ihre Vorstellungen von Krieg sind abstrakt, auch was sie mit Frieden meinen, ist nichts Konkretes. Die Waffen nieder, das ist ein guter Slogan. Aber anscheinend ist er mit der Duldung von Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung vereinbar. Gesellschaftliche Bedingungen, wirtschaftliche Interessen, politische Voraussetzungen interessieren sie nicht. Sie haben keine konkreten, realitätsbezogenen, praktikablen Vorschläge zu machen. Sie haben Angst und sind im Recht, sie verfügen über moralische Grundsätze und ein reines, weil zur Selbstkritik unfähiges Gewissen. Mehr brauchen sie nicht. Dafür gehen sie auf die Straße. Dass sie damit der falschen Seite nützen und der richtigen schaden, ficht sie nicht an. Nicht alle werden von Russland bezahlt. Viele handeln auch bloß aus Dummheit so.

Dienstag, 1. April 2025

Mehr Frauen? Mehr Demokratie!

Den aufmerksame Beobachtern und Beobachterinnen ist selbstverständlich nicht entgangen, dass dem am 23. Februar 2025 gewählte 21. Deutsche Bundestag nur 204 weibliche Abgeordnete (von 630 insgesamt) angehören. Das macht einen Anteil von rund 32,4 Prozent aus. Dem vorigen Bundestag hatten zu Beginn 34,8 Prozent und am Ende gar 35,6 Prozent Frauen angehört. Das neue Verhältnis, so sagt man, sei (wie ja schon das alte) unangemessen, da doch die Bevölkerung, in deren Namen das Parlament zu sprechen beansprucht, zu mehr als der Hälfte aus Frauen bestehe.
Dem liegt freilich ein Denkfehler zu Grunde, Der Bundestag repräsentiert, wenn schon, nicht die Bevölkerung, sondern die Wählerinnen und Wähler. (Wer zum Beispiel nicht deutscher Staatsbürger oder deutsche Staatsbürgerin ist, kann nicht gewählt werden; das sind immerhin mehr als 15 Prozent der Bevölkerung.) Die Wähler und Wählerinnen sind zudem in ihrer Auswahl nicht frei, sondern an die Kandidaten und Kandidatinnen gebunden, die von den bei der Wahl antretenden politischen Parteien „aufstellen“, also als zu Wählende vorschlagen, in den 299 Wahlkreisen und auf den 16 Landeslisten.
Darum muss man fragen: Gehören denn den wahlwerbenden Parteien und deren die Kandidaten und Kandidatinnen bestimmenden Gremien zu Hälfte Frauen an? Wenn nicht, wäre es geradezu unrepräsentativ, wenn zur Hälfte Frauen vorgeschlagen würden …
Frauen, heißt es, bekämen, wenn sie denn überhaupt vorgeschlagen würden, schlechtere Listenplätze und schwierigere Wahlkreise. Das mag sein. Aber wer beschließt das? Wenn Frauen nicht in ausreichender Zahl Parteimitglieder und Parteitagsdelegierte sind, aber trotzdem „gleichberechtigt repräsentiert“ werden wollen, dann erwarten sie also, dass Männer zu ihren Gunsten auf die ihnen zustehende Repräsentation verzichten.
Manche Parteien legen genau das fest. Bei der Erstellung von Listen muss demnach immer ein Kandidat auf eine Kandidatin oder eine Kandidatin auf einen Kandidaten folgen. Das sichert eine halbwegs hälftige Verteilung der Geschlechtszugehörigkeit der Kandiderenden. (Was mit den Diversen ist, den Nonbinären, Intersexuellen, in Transition Befindlichen usw., bleibt dabei unklar.) Die annähernd hälftige Verteilung scheint der Verfassungbestimmung „Männer und Frauen sind Gleichberechtigt“ zu entsprechend, deutet diese Feststellung freilich um in den Auftrag „Frauen sollen mit Männern gleichberechtigt sein“.
Wollte nun ein Wähler oder eine Wählerin, was ihm oder ihr ja eigentlich frei steht, nur Männer oder nur Frauen wählen, ist ihm oder ihr das verwehrt. Er oder sie kann zwar eine Kandidaten oder der Kandidatin seines Wahlkreises seine oder ihre Stimme verweigern und jemand anderen Geschlechts wählen, dann aber damit auch jemandem von einer anderen Partei. (Wählt er oder sie eine Partei, ist er an deren Liste mit dem in dieser festgelegten jeweiligen Geschlechterverhältnis sowieso gebunden.)
Die Lösung wäre einfach: Jede in einem Wahlkreis antretende Partei muss jeweils einen Kandidaten und eine Kandidatinnen benennen. Die Wähler und Wählerinnen haben dann die Wahl, ob sie von der Partei, die sie bevorzugen, den Mann oder die Frau wählen wollen. Ob das dann zu „Hälfte-Hälfte“ oder einem Übergewicht des einen oder anderen Geschlechts führte, würde man sehen, es wäre jedenfalls demokratisch entschieden.
Auch bei der Listenwahl ließe sich etwas demokratisieren ― und personalisieren (da doch „personalisierte Verhältniswahl“ das Ziel des Wahlrechts sein soll). Zumal die derzeitige Form der Personalisierung, die Wahlkreiskandidaturen, höchst problematisch sind. Gewählt ist nämlich im Wahlkreis, wer mehr Stimmen bekommen hat als die anderen Kandidaten und Kandidatinnen. Rein theoretisch könnten das aber auch nur zwei Prozent sein, wenn 98 andere nur jeweils ein Prozent haben. Realistischer sind selbstverständlich Ergebnisse von zum Beispiel jeweils 35, 30, 25, 10 Prozent, wodurch der Kandidat oder die Kandidatin mit dem 35 Prozent die Wahl „gewonnen“ hat ― obwohl fast zwei Drittel der Wähler und Wählerinnen nicht für ihn oder sie gestimmt haben. Und selbst wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen kann, sagen wir 51 Prozent, dann fallen trotzdem 49 Prozent unter den Tisch. Das ist repräsentativ? Das ist demokratisch?
Besser wäre es also, man beschränkte sich überhaupt auf Listen (meinetwegen Landeslisten), änderte aber etwas an der Weise, in der für diese gestimmt wird. Und zwar folgendermaßen: Der Wähler oder die Wählerin hat genau eine Stimme, die jeweils einem Kandidaten oder einer Kandidatin gegeben werden kann. Damit wird zugleich eine Partei gewählt (selbstverständlich die, für die der angekreuzte Kandidat oder die angekreuzte Kandidatin antritt). Die Parlamentssitze werden sodann nach Stimmenstärke der Parteien vergeben. Wer aber diese Plätze einnimmt entscheidet sich danach, wer auf welcher Parteiliste jeweils am häufigsten gewählt wurde. (Sind mehr Sitze zu vergeben, als Kandidaten oder Kandidatinnen angekreuzt wurden ― was gewiss geschehen wird, da mehrere Wähler und Wählerinnen demselben Kandidaten oder derselbe Kandidatin ihre Stimmen gegeben haben werden ―, folgte die Vergabe der von den Parteien festgelegten Reihenfolge.) ― Solche Wahlverfahren gibt es bereits. Etwa verschiedene Vorzugsstimmensysteme. Derlei funktioniert erwiesenermaßen. Hier wird nur eine Radikalisierung vorgeschlagen.
Mit dem hier vorgeschlagenen Stimmen für eine kandidierende Person ist die Wahl in einem Maße personalisiert, das nicht zu steigern ist. Wahlkreise in der bisherigen Form sind dann überflüssig. Gerade, dass es keine „sicheren“ Listenpätze und Wahlkreise mehr gibt, bedeutet mehr persönlichen Einsatz. Den Kandidaten und Kandidaten steht es im Rahmen ihrer Möglichkeiten (und der ihrer Parteien) frei, auf sich aufmerksam zu machen, sich zu profilieren die Gunst der Wähler und Wählerinnen zu erlangen. Hinterbänkler und Hinterbänklerinnen, die „nur“ über einen Listenplatz ins Parlament kommen, gibt es auch jetzt schon. Parteien, die wenig Chancen auf „Wahlkreisgewinne“ haben und darum auf Stimmen für ihre Liste angewiesen sind, werden völlig gleich behandelt wie Parteien mit prominenten und „beim Wahlvolk ziehenden“ Politikern und Politikerinnen. Auch das erhöht die Repräsentativität.
Man mag die Befürchtung haben, dass der Wahlzettel sehr lang würde, wenn alle Kandidaten und Kandidatinnen aller Parteien darauf aufgeführt werden müssen (selbst wenn vermutlich wegen des Föderalismus getrennte Landeslisten bestehen müssten). Das kann man umgehen, indem die Wähler und Wählerinnen nicht vorgegebene Namen ankreuzen, sondern den Namen des von ihnen bevorzugten Kandidaten oder der von ihnen bevorzugten Kandidatin hinschreiben; so viel wird man vom demokratischen Souverän ja noch verlangen können, dass er (in welcher Orthographie auch immer, aber erkennbar) einen Namen hinschreibt ― nach mitgebrachter Vorlage (Spickzettel zum Stimmzettel)?
Eine solche Veränderung des Wahlrechts öffnete, entsprechende Kandidaten und Kandidatinnen vorausgesetzt, endlich echter Repräsentativität die Tür. Denn die (wahlberechtigte) Bevölkerung besteht ja nicht nur aus Männern und Frauen, sondern auch aus Alten und Jungen, Behinderten und Nichtbehinderten, Heterosexuellen und Anderssexuellen, Menschen mit Herkunft und (angeblich) ohne, Anhängern und Nichtanhängern verschiedener Religionen und Weltanschauungen, Fans verschiedener Fußballklubs und an Fußball nicht Interessierten usw. usf. Es ist sehr eigenartig, dass man oft nur die derzeitige Unterrepräsentiertheit von Frauen bemängelt, alle anderen Repräsentativitätsmängel aber ignoriert. (Wobei ein vollständig „repräsentatives“, in jeder erdenklichen Hinsicht durchquotiertes Parlament vermutlich blanker Unsinn wäre. Da wäre Auslosen besser.)
Mit dem hier vorgeschlagenen Wahlrecht wäre es denkbar, dass die Wähler und Wählerinnen überwiegend im Rollstuhl sitzende alleinerziehende Lesben aus afrikanischen Familien wählen, die buddhistische Schalke-Fans mit einer Vorliebe für Renaissancemusik, spätbarocke Malerei und postmoderne finnische Lyrik sind. Unwahrscheinlich, aber denkbar. Es wäre möglich, dass der Frauenanteil steigt, vielleicht tut er das aber auch nicht. Jedenfalls wäre es dann die Entscheidung der Wähler und Wählerinnen und nicht der sie bevormundenden Parteien.