Montag, 21. April 2025

Polemik gegen eine Rezension

In einer Rezension lese ich diese Sätze (einer Rezensentin über eine Autorin): Sie bekennt sich zu Judith Butlers These: „Im säkularen Recht aktualisiert sich die religiöse Figur göttlicher Autorität in säkularer Gestalt.“ Diese Deutung liegt nicht nur quer zu den politischen Ideen der Aufklärung. Sie liegt auch quer zu deren (wie immer auch unvollkommener) Institutionalisierung in liberalen Verfassungsstaaten.
Das mag sein wie es wolle, die Frage ist aber doch, ob die These (sei sie von Butler oder sonstwem) richtig oder falsch ist. Dass sie die Rezensentin empört, ist hingegen belanglos.
Moderne Moral und modernes Recht gründen gerade nicht in ‚außerweltlichen‘ göttlichen Geboten.
Das hat ja auch niemand gesagt, sondern (in der von der Rezensentin zitiertern Formulierung) geradezu das Gegenteil. Nebenbei bemerkt sind religiöse Gebote niemals „außerweltlich“, sondern immer „innerweltlich“ gegeben und auf „innerweltliches“ Handeln bezogen. Die Säkularisierung des Rechts nun bedeutet gerade den Verlust einer „Gründung“ (Begründung) in göttlichem Gebot. Was seit Menschengedenken selbstverständlich war, dass nämlich außer dem von Menschen gesetzten und von Menschen vereinbarten noch anderes, sogar übergeordnete Recht anerkannt werden müsse, das göttliche oder natürliche Recht, schaffte die neuzeitliche Verweltlichung selbstherrlich ab und setzte den unbedingten Vorrang des von Menschen gemachten Rechts durch, dessen Willkür freilich durch seine angebliche Vernunftnotwendigkeit oder seine Begründetheit durch einen rein imaginären Gesellschaftsvertrag verschleiert wurde.
Sie (moderne Moral und modernes Recht, St. B.) gründen im kollektiven menschlichen Wollen.
Nein, tun sie selbstverständlich nicht. Egal, ob es ein Fürst ist, der Recht setzt, oder demokratisch installierte Institutionen, erst kommt die Setzung, dann das Wollen. Logisch ist es ja auch gar nicht anders möglich: Die Leute könne nicht beschließen, eine Demokratie sein zu wollen, solange sie keine sind. Das „kollektive Wollen“ ist ein Popanz, den interessierte Kreise herumreichen, um der Masse der fremdbestimmten einzureden, sie hätten sich ihre Regierung und das Regiertwerden ja schließlich selbst ausgesucht ― und müssten sich also auch daran halten.
Und sie (Moral und recht, St. B.) sind nicht nur weitere (subtilere) Varianten gesellschaftlichen Zwanges.
Selbstverständlich sind sie genau das. Was denn sonst? Wer hätte es sich den ausgesucht, in einer Demokratie zu leben, in der erstens inkompetente Idioten, weil sie in der Mehrheit sind, inkompetente Idioten wählen, die Politik simulieren; und zweitens, in einem System zu leben, in dem diese Vorspiegelung der „Volksherrschaft“ („kollektives Wollen“) die Herrschaft der wirklich Mächtigen, deren Interesse an Profitmaximierung alles bestimmt, wo nicht unsichtbar, so doch unantastbar macht?
Demokratien sind nicht unbedingt weniger repressiv als Diktaturen, der von ihnen ausgeübte Zwang ist nur subtiler und besser zur Verinnerlichung geeignet. Man muss schon Kröten schlucken, um lächerlichen Diktatoren zu glauben, dass sie weise sind. Der weit verbreitete Glaube, die Stimmenmehrheit erlaube es, über andere zu bestimmen, ist nur eine zivilisierte Form der Anerkennung des Rechts des Stärkeren (das bekanntlich keines ist). Populismus ist ein wesentliches Element des Faschismus. und Demokratie ist nichts anderes als institutionell gezähmter Populismus.
Sie (Moral und Recht, St. B.) sind auch eine Emanzipation von auferlegten Zwängen: Letztlich sollen die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten nur Gesetzen gehorchen müssen, als deren Autoren sie sich selbst verstehen können.
Das ist lächerlich. Das ist die übliche Lüge. Nur umgekehrt wird ein Schuh daraus. Man will die Leute dazu bringen, sich freiwillig den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen, indem man ihnen einredet, sie selbst könnten sie sich ja ausgedacht haben. Ja, sie hätten es im Grunde saogr. Dabei wird klammheimlich vorausgesetzt, dass „die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten“ nur solches Recht sich ausdenken wollen können dürfen, das ohnehin (und zwar ganz ohne ihre Autorschaft) besteht. Wenn einer versuchte (einzeln oder als Kollektiv), Vorschriften zu ignorieren, weil er die Autorschaft derselben zurückweist ― „das will ich nicht“ ―, bekommt er es mit der staatlichen Zwangsgewalt zu tun, die sich kein bisschen dafür interessiert, ob der Delinquent sich als Autor der Gesetze versteht oder nicht, sondern die geltendes Recht durchsetzt. Basta.
Normativ steht die Garantie der Freiheit und Autonomie der Person im Zentrum.
Was für ein Quatsch. Erstens ist wohl „Individuum“ gemeint, denn Person im juristischen Sinne kann beispielsweise auch eine Aktiengesellschaft oder ein Stiftungsvermögen sein. Zweitens geht es beim säkularen Recht des Staates nicht um Freiheit und Autonomie, sondern der Staatszweck ist es, die Reichen reicher werden zu lassen und alle anderen in Schach zu halten. Dass sie frei und autonom wären, redet man den Leuten lediglich ein. Niemand aber ist frei, wenn er im Kapitalismus leben und seinen Unterhalt durch Einspeisung seiner Arbeitskraft in ein System der Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung erlangen muss. Ja, es gib Abstufung der Repression, es gibt Unterschiede der Gängelung, Bevormundung, Unterdrückung. Käfighaltung und Freilandhaltung sind nicht dasselbe. Aber im Supermarkt zwischen mehreren Dutzend von der Lebensmittelindustrie zusammengebrauten Yoghurtsorten wählen zu müssen (für Besserverdiener: zwischen den urigen Anbieterinnen auf dem Bauernmarkt zu flanieren), ist keine Freiheit. Es ist Konsumvertrottelung. Toleranz ist gut fürs Geschäft. Wenn die Leute sich wegen ihrer Überzeugungen und Vorlieben die Köpfe einschlagen, produzieren und konsumieren sie nicht so fleißig, wie wenn ihnen die Lebensweisen ihrer Mitmenschen ziemlich egal (oder eine ablenkende virtuelle Aufregung) und für sie nur bestimmend ist, was einflussreiche Vorbilder besitzen und verkörpern. Warum sonst wären die Konsumentscheidungen der Leute einander im Prinzip (je nach Milieus und Potenzial) so verdammt ähnlich? Weil im Grunde jeder dasselbe will? Oder nicht deshalb, weil die Autonomie bloßer Schein und die Steuerung des Begehrens, Wünschens und Wollens die tatsächliche Realität ist? Weil sie meistens nicht mit Schlägen, Tritten und Einkerkerungen arbeitet, ist die Entfremdung und Entmächtigung in den liberalen Konsumgesellschaften doch nicht weniger effektiv als in offenen Diktaturen (sogar effizienter).
Dieser Freiheit sind durch gleiche Freiheitsrechte aller anderen, durch Folgenverantwortung und durch die in modernen Wohlfahrtsstaaten auferlegten Pflichten zu Solidarität und Gemeinwohlorientierung Grenzen gezogen.
Meine Güte, als ob prämoderne Gesellschaften nicht wesentlich stärker von gemeinschaftlicher Fürsorge geprägt gewesen wären als die anonymen, von beziehungslosem Nebeneinander durchdrungen Lebensweisen in der Moderne! Der moderne Wohlfahrtsstaat ist ja bloß der bürokratische Ersatz für die durch Säkularisierung zerstörte Gemeinschaftlichkeit, Fürsorglichkeit und „Solidarität“. Und wenn es tatsächlich ums Gemeinwohl ginge und nicht um Ausbeutung und asoziale Bereicherung, dürfte die Politik in kapitalistischen Gesellschaften nicht so aussehen, wie sie nun einmal aussieht.
Das liberale Dogma zudem, nach dem meine Freiheit durch die der anderen (und deren legitime Ansprüche) eingeschränkt wird, ist völliger Blödsinn. Deine Freiheit bedingt meine und meine deine, Freiheit ist Ermöglichung und schränkt nicht ein. Freiheit ist ein gesellschaftliches Verhältnis und kein individueller Status. Diese Schrebergärtnerperspektive soll die Leute nur vom Begreifen von Zusammenhängen abhalten. Deren wichtigster ist: Die Freiheit eines jeden ist die Bedingung auch meiner Freiheit.
Ich habe das zur Rede stehende Buch noch nicht gelesen und kann trotzdem sehen, dass die zitierte Besprechung ideologischer Blödsinn ist. Daraus folgt übrigens nicht, dass das Buch das nicht ist.Aber anscheinend verteigt ist, im Unterschied zur Rezension, nicht den kapitalistisch-liberalistischen status quo.

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