Dienstag, 22. April 2025

Literatur als Gesellschaftskritik, was sonst?

Ich könnte nie mit der Motivation von Gesellschaftskritik ein Buch schreiben. Gesellschaftskritik, das ist viel zu dürr und trocken und eindimensional. Und irgendwie zu dumm. (A. Krauß)
Außer diesen Sätzen, die mir irgendwie aus den Nebeln des Internets zufielen, habe ich nichts von Frau K. gelesen, und das wird hoffentlich auch so bleiben. Von solchen dämlichen Autorinnen möchte ich nämlich eigentlich nicht einmal wissen, dass sie existieren. Leider interessiere ich mich aber für Literatur, und obwohl ich von meinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nichts halte und mich bemühe, deren literarische Produktion weitgehend zu ignorieren, rutscht in meinem bescheidenen einschlägigen Medienkomsum ab und zu solcher Quatsch doch durch und verschmutzt meine Wahrnehmung. Um die Intoxikation durch derlei übermäßige Unintelligenz loszuwerden, muss ich jetzt ein wenig dagegen anschreiben.
Ich sag mal so: Wer nicht vorhat, ein Buch zu schreiben, um die Gesellschaft, in der er sich befindet, zu kritisieren, sollte bitte überhaupt nicht schreiben. Da kommt dann sonst nur das übliche Unterhaltungs-, Entspannungs- und Ablenkungszeug heraus, das das Feld beherrscht und die Kanäle verstopft.
Wer hingegen Literatur als Kunst auffasst, setzt sie notwendigerweise gegen das, was ist. Dazu muss er gar nicht wissen, dass das tatsächlich Gesellschaftskritik ist. Freilich, wer darüber mittels geeigneter Begriffe nachdächte, käme darauf. Und auch kundigen Leser und Leserinnen sollte es eigentlich aufgefallen sein. Denn was wären, um nur ein fast willkürliches Dutzend wichtiger Werke der Neuzeit zu nennen, „Don Quijote“ oder „Tristram Shandy“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder „Ulysses“, „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder „Der Prozess“, „Der Zauberberg“ oder „1984“, „Naked Lunch“ oder „Die Strudelhofstiege“, „Archipel GULag“ oder „Petrolio“ ― was also wären alle diese „Bücher“, wenn nicht Gesellschaftskritik? Nämlich (keineswegs dürre, trockene, eindimensionale und dumme) Auseinandersetzungen mit Geschichte und Gegenwart der real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Man kann aber natürlich auch Kochbücher und Krimis oder irgendwas mit Drachen, Vampiren und auf Einhörnen reitenden außerirdischen Feen schreiben und lesen …
Ein Schriftsteller, der seinen Beruf ernst nimmt und nicht bloß einen Job erledigt, schreibt über das, was ist, was nicht sein soll, was sein soll. Wenn er das nun allerdings affirmativ täte, wäre es banal, langweilig und uninteressant. Also schreibt er, um das wenigste zu sagen, explizit oder implizit problematisierend. Bereits das ist, in weitem Sinne, Gesellschaftskritik.
Aber man kann sogar noch tiefer ansetzen: Wer schreibt, erzeugt sprachliche Ereignisse, die mit schon bestehenden sprachlichen Ereignissen korrespondieren. Das ist eine etwas abstrakte Weise zu sagen: Wer Literatur produziert, so originell, innovativ und gegebenenfalls sprachverformend und sprachzertrümmernd er auch vorgehen mag, arbeitet immer mit Sprache, also etwas, das andere schon gestaltet haben, etwas, dessen Regeln und Bedeutungen, wie auch immer er sie erweitert, bricht oder abändert, ihm vorgegeben sind. Arbeit mit und an und durch Sprache aber, die nicht bloß halb bewusstloses Plappern ist, ist unweigerlich Gesellschaftskritik. Weil in der Sprache die expressiven und kommunikativen Verhaltensweisen nachklingen und sich als wiederholbar ankündigen, die nicht weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen als beispielsweise das Herstellen, Verkaufen und Kaufen von Waren. Wer wie spricht (oder eben schreibt und geschrieben wird), gehört ebenso zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wie Einkommensverteilungen, Bildungschancen und Freizeitvergnügen. Sprache zu verwenden bedeutet, sich gesellschaftlich zu betätigen. Sprache bewusst, gestaltend und gegen das bloß Bestehende zu verwenden bedeutet, Gesellschaft zu kritisieren.
Damit wird Literatur nicht zu Gesellschaftskritik umdefiniert oder zu etwas, was sie nicht ist, „nobilitiert“. Sondern es wird hier bloß das Unvermeidliche festgestellt: Es ist unmöglich, ernst zu nehmende Literatur zu produzieren, die nicht in einem für sie charakteristischen Sinn Gesellschaftskritik wäre. Wer das nicht will ― und das sind vermutlich leider viele ―, sollte besser die Griffel von der Feder oder Tastatur lassen. Aber wer schriebe dann den ganzen Dreck, mit dem der Buchhandel die Massen abfüttert?

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