Dienstag, 29. April 2025

Vermutungen über Groll

Sie hatten sich eingerichtet, sie waren zurechtgekommen, sie hatten mitgemacht.
Sie hatten getan, was von ihnen verlangt worden war. Was alle getan hatten.
Man kann nicht einmal sagen, sie hätten sich abgefunden, denn es gab nichts, womit sie sich hätten abfinden müssen. Es schienen ihnen alles selbstverständlich. Es war, wie es war. Man musste das Beste daraus machen.
Und dann sagte man ihnen plötzlich, das sei falsch gewesen. Sie hätten sich falsch verhalten. Sie hätten besser nicht mitgemacht. Sie hätten sich besser nicht eingerichtet, nicht angepasst.
Die, auf die sie früher gehört hatten, seien die Falschen gewesen. Keine guten. sondern Verbrecher.
Ihre mickrigen Leben, mit denen sie ganz zufrieden waren, ja auf die sie sogar ein bisschen stolz waren, seien unter völlig falschen Voraussetzungen gelebt worden und darum nichts mehr wert.
Und plötzlich nutzte ihnen ihre Angepasstheit nichts. War ihnen sogar im Wege. Sie mussten umlernen. Eine neue Angepasstheit musste her. Aber das war gar nicht so einfach. Sie sollten anderes glauben und anders handeln, aber sie fühlten noch wie bisher. Sie hatten sich wohlgefühlt. Wieso war das jetzt etwas Schlechtes?
Die im Westen hatten einfach Glück. Die brauchten nicht umzulernen. Sie konnten bei ihrer vertrauten Angepasstheit bleiben. Ihre Erfahrungen, ihre Überzeugungen, ihre Wünsche galten weiterhin. Ihr Verhalten behielt seinen Wert.
Dabei hatten die sich den Kapitalismus so wenig ausgesucht wie die im Osten den Sozialismus. Er war ihnen passiert. Sie hatten sich damit identifiziert, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und nicht Besseres einfiel.
Im Westen wie im Osten war es dasselbe: Die Geschichte hatte ein System über sie verhängt, das war alles. Wurde ein System durch ein anderes ersetzt, hatte man Pech gehabt. Dann wurde man zum Verlierer. Eben noch hatte man alles richtig gemacht, und dann war plötzlich alles falsch.
Das war nicht nur eine Kränkung des Selbstwertgefühls, auch eine des Zugehörigkeitsgefühls. Wir waren wir. Jetzt sollen wir niemand mehr sein? Warum also nicht allem zum Trotz bleiben, wer man war?
Was gewesen war, war gewesen, und ob das Neue wirkliche besser war? Es war einem doch gut gegangen. Man hatte sich ausgekannt. Nun war alles anders. Nichts stimmte mehr. Daran waren andere schuld, man selbst hatte schließlich nichts getan, um alles durcheinander zu bringen. Man man selbst hätte ewig so weitermachen können wie früher.
Wie es heute ist, ist schwer zu ertragen. Man müsste irgendwem die Rechnung präsentieren können. Der Zahltag muss kommen.

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