Donnerstag, 10. April 2025

Sozialismus funktioniert

„Eine Klasse bestand darauf, dass Sozialismus funktioniere und niemand arm und niemand reich sein sollte, alle seien gleich! Der Lehrer sagte: „Okay, wir machen in dieser Gruppe ein Experiment zum Thema Sozialismus. Alle Noten werden gemittelt, und jeder bekommt die gleiche Note, sodass niemand durchfällt und niemand die Höchstnote 10 bekommt.“ Nach dem ersten Test wurden die Noten addiert und durch die Anzahl der Schüler geteilt, und jeder bekam eine 8. Die Schüler, die intensiv gelernt hatten, waren verärgert, aber diejenigen, die weniger gelernt hatten, freuten sich riesig. Als der zweite Test näher rückte, lernten die Schüler, die wenig gelernt hatten, noch weniger, und diejenigen, die intensiver gelernt hatten, sagten sich, dass sie auch eine geschenkte Note wollten, also lernten sie auch weniger. Der Durchschnitt des zweiten Tests lag bei 6! Beim dritten Test lag die Durchschnittsnote bei 4. Zur großen Überraschung aller Schüler fielen sie alle durch. Einfacher geht es nicht. Der Lehrer erklärte ihnen, dass der Sozialismus letzten Endes scheitern werde, denn wenn die Hälfte der Bevölkerung sehe, dass sie nicht arbeiten müsse, weil die andere Hälfte sich um sie kümmere, und wenn die Hälfte, die gearbeitet habe, erkenne, dass es keinen Sinn mehr habe zu arbeiten, weil andere die Nutznießer ihrer Arbeit seien, dann sei das das Ende jeder Nation … *

Dieses Internetfundstück (das wahrscheinlich in diversen Versionen zirkuliert) ist ziemlich dumm. Weil es aber so klar strukturiert ist ― und manche Überzeugte überzeugt haben wird ―, lohnt es sich vielleicht, die angesammelten Denkfehler zu betrachten.
Dass Sozialismus funktionieren könne und niemand arm und niemand reich sein solle, ist die Ausgangsthese, die das Textchen widerlegen will. Dabei wird dann allerdings nur das Funktionieren angeblich bestritten. Das ethische Postulat hingegen nur indirekt: Weil Sozialismus nicht funktionieren kann, muss es Arme und Reiche geben. Allerdings wird gar nicht gesagt, was Sozialismus überhaupt ist oder sein soll. Geredet wird nämlich lediglich von Gleichmacherei (alle bekommen dieselbe Prüfungsnote). Aber ist das Sozialismus?
Nein. Von jedem verzerrenden Nebensinn (wie Arbeiterbewegung, Marxismus, bolschewistische Herrschaft usw.) freigehalten, bedeutet Sozialismus schlicht: Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Anders gesagt: Niemand soll Eigentum an dem, was für gemeinsames Wirtschaften benötigt wird, dazu benützen können, andere auszubeuten.
Das besagt allerdings nichts über Egalitarismus. Dass den Arbeitern einer Fabrik die Maschinen, an denen sie arbeiten, gemeinsam gehören (und nicht etwa einem „Unternehmer“), bedeutet nicht notwendig, dass alle Arbeiter denselben Lohn bekommen. Sehr wohl kann auch bei Wirtschaften unter den Bedingungen vergesellschafteten Eigentums unterschiedliche Leistung und Verantwortung unterschiedlich bezahlt werden. Warum auch nicht? Das sozial Unrecht, das im Kapitalismus erzwungen wird und das Sozialismus überwinden kann, besteht ja nicht in unterschiedlichen Löhnen, sondern in bizarr auseinanderklaffenden Eigentumsverhältnissen, die dazu führen, dass Gewinne überwiegend gerade nicht nach Leistung, sondern nach Eigentum verteilt werden. Im Grunde, so die kapitalistische Sicht, gehören alle Gewinne der Fabrik den Eigentümern der Maschinen, nicht den Arbeitern, die sie bedienen. Die Fabrikeigentümer (die für ihre Gewinne übrigens nichts tun müssen) geben den von ihnen gnadenhalber Beschäftigten bloß gnadenhalber ein bisschen was ab.
Was nun allerdings gerechte Löhne wären und wo genau Ausbeutung beginnt, ist strittig. Wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, kann das jedenfalls Ausbeutung beenden, denn dann entscheiden die Beschäftigten selbst über die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen. (Auf welche Weise auch immer, aber das ist ein anderes Thema).
Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit schematischer Gleichförmigkeit. Im Gegenteil, unterschiedliche Löhne können als gerechter verstanden werden als ein Einheitslohn. Andererseits kann man anstreben, nicht Leistung, die verschieden sein wird, zu belohnen, sondern Lohn als Möglichkeit, Grundbedürfnisse, die eher gleich sind, und individuelle Wünsche zu befriedigen. So oder so: Das ethische Postulat der Gleichheit kann also zwar als Einkommens- und Eigentumsgleichheit verstanden werden, muss es aber nicht. Gleich sind die Menschen nämlich vor allem dann, wenn jeder dieselben Rechte hat.
Im Kapitalismus steht die Rechtsgleichheit zwar irgendwo auf dem Papier, wird aber auf Grund des Missverhältnisses der Machtverhältnisse zum nicht oder nur gelegentlich verwirklichten Anspruch: Reiche und Arme, Kapitaleigentümer und Lohnabhängige mögen de jure dieselben Rechte zugesprochen bekommen, aber offensichtlich haben sie de facto nicht dieselbe Möglichkeit, diese Rechte auch wirklich auszuüben.
Sozialismus beseitigt zumindest das ungleiche Machtverhältnis von „Arbeitgebern“ (also denen, die Arbeitskraft kaufen) und „Arbeitnehmern“ (also denen, die Arbeitskraft verkaufen), weil gemeinsames Eigentum auch gemeinsame Entscheidungen über den Umgang damit bedeutet, Beschließen also die kollektiven Eigentümer eines Unternehmen ihre Löhne und Gehälter selbst, hat jeder (im Rahmen des ihm Möglichen) dieselben Rechte auf Entlohnung gemäß seiner Leistung. Oder aber man beschließt, Entlohnung und Leistung zu entkoppeln und alle gleich zu bezahlen, weil sie aus Einsicht und Freude arbeiten, nicht aus Konkurrenzbedürfnis oder Gier oder wegen des Zwangs, sonst verhungern zu müssen.
Nun kann aber realistischerweise ohnehin nicht jeder dasselbe zum gemeinsamen Wohlstand beitragen (das ist mit „im Rahmen des Möglichen gemeint), nicht nur, weil es Unterschiede der körperlichen und geistigen Kapazität, der moralischen und fachlichen Bildung und Ausbildung und der Leistungsbereitschaft gibt, sondern auch, weil Alter, Krankheit, Schwäche usw. existieren. Von Kindern und Schwangeren, von Alten, Verunfallten und Kranken wird vernünftigerweise niemand erwarten, dass sie dasselbe „leisten“ (wie immer Leistung bewertet wird) wie Gesunde und Starke.
Allerdings haben alle Menschen dieselben Grundbedürfnisse. Sagen wir einfach: Nahrung und Kleidung, Obdach und Pflege, Zugang zu Bildung und Unterhaltung. Man kann es als selbstverständliche ethische Norm sehen, dass niemandem die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse verweigert wird, schon gar nicht darf sie abhängig gemacht werden von irgendeiner zuvor (oder nachträglich) zu erbringenden Leistung. Jedem Menschen steht es, einfach weil er ein Mensch ist, unbedingt zu, nicht hungern und dürsten zu müssen, sauber und trocken wohnen zu können, nicht zu erfrieren, sich selbst zu säubern und im Bedarfsfall gepflegt und medizinisch behandelt zu werden usw. usf.
Gleiche Bedürfnisse, gleiche Rechte: Auch das kann mit Egalitarismus gemeint sein. Übrigens wird Rechtsgleichheit dann auch bedeuten, das gleiche Recht auf Verschiedenheit zu haben. (Billigkeit, lateinisch aequitas, diese Notwendige ergänzung der Gerechtigkeit, meint ja gerade, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.) Woraus folgt, dass im Hinblick auf sein Menschsein und Bürgersein jeder dieselben Rechte (und Pflichten) hat, ungeachtet seiner Verschiedenheit in anderer Hinsicht ― wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Aussehen usw. usf. Platt gesagt: Das Wahlrecht darf nicht an eine Haarfarbe gebunden sein. Das Recht, sich als Gehirnchirurg zu betätigen, muss sehr wohl an Befähigungsnachweise gebunden sein.
Sozialismus hat also nichts mit Gleichmacherei zu tun. Die berühmte Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnisse“ räumt ja gerade Unterschiede ein. Nicht jeder kann und will dasselbe zum Zusammenleben beitragen. Nicht jeder braucht zum Leben und Wohlbefinden ganz genau dasselbe. Nicht jeder kann oder möchte Proktologe oder Bildhauer sein, Kranke brauchen Medikamente, nicht Gesunde. Usw. usf.
Damit zurück zu der obigen „Widerlegung“. Die mit Sozialismus nichts zu tun hat, wie gesagt, eher mit einer willkürlich fest gesetzte Gleichmacherei. Interessanterweise geht es in der Erzählung auch gar nicht um Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen, sondern um Noten. Wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, das angestrengtes Lernen immer zu bessere Prüfungsergebnissen führt, eine fragwürdige These, die hier aber nicht weiter diskutiert werden soll. Stattdessen tun wir so, als gälte: Einige lernen viel und können darum Prüfungsfragen besser beantworten, andere lernen wenig und antworten schlechter.
Um es noch einmal klar zu sagen. Mit Kapitalismus (der in der Geschichte gar nicht erwähnt wird) hat das nichts zu tun. Nimmt man „viel lernen“ als Gleichnis für „hart arbeiten“ und „gute Noten“ als Gleichnis für „reichlich bezahlt“ werden ― was offensichtlich gemeint ist ―, dann geht es um den Mythos, dass im Kapitalismus jeder durch angestrengte Arbeit zu (mindestens etwas) Reichtum gelangen kann, aber nicht um die Realität, dass die Arbeit der Vielen den Reichtum von wenigen erzeugt. Unter kapitalistischen Bedingungen mag es nämlich ein Gewerbetreibender mit Hilfe von Angestellten und Krediten durch harte Arbeit zu mäßigem Wohlstand bringen, aber wirklich reich und gar superreich wird man nur durch Erben, rücksichtlose Konkurrenz und Ausbeutung, Korruption und Betrug. ― An dieser Stelle zitiere ich selbstverständlich das (echte oder gut erfundene) chinesische Sprichwort: „Ein reicher Mann ist entweder ein Dieb oder der Sohn eines Diebes.“
In einem Erwerbsleben von 50 Jahren mit 80-Stunden-Woche und ohne Urlaub müsste einer jede Arbeitsstunde 4 Euro 79 auf die hohe Kante legen können, um am Ende auch nur eine Million zusammengetragen zu haben. Wer kann das angesichts von notwendigen Ausgaben sowie Steuern und Abgaben schon? Was ist dann erst mit zehn, Millionen, hundert, einer Milliarde? Solche Vermögen kann niemand „erarbeiten“ (und kaum einer durch eine geniale Erfindung erlösen), sie werden vielmehr von anderen erarbeitet und mit legalen und illegalen Tricks und Kniffen zusammengerafft. Aber das nur am Rande.
In dem oben zitierten Text arbeiten einige Schüler oder Studenten hart, andere nicht, aber alle bekommen eine Einheitsnote. Ins Gemeinte übersetzt: verschiedene Leistungen werden gleich bezahlt. Dabei kommt, so der Text, es zu einer Abwärtsbewegung: Es wird immer weniger hart gearbeitet, die Einheitsnote wird immer schlechte. Der Grund dafür ist angeblich die Einheitsnote selbst: Die einen strengen sich nicht an, weil ohnehin andere sich anstrengen und sie, die Leistungsschwachen, trotzdem eine bessere Note bekommen, als ihnen eigentlich für ihre Leistung zusteht; die bisher Fleißigen strengen sich nicht mehr, sondern immer weiger an, weil sie zwar mehr leisten könnten, aber andere sich nicht anstrengen und dadurch die Einheitsnote verschlechtern, sodass gute Leistung nicht belohnt wird.
Psychologisch mag diese Erzählung sogar plausibel sein. Wenn ich am Ende des Tages denselben Lohn für meine hohe Leistung bekomme wie jemand, der weniger geleistet hat, motiviert mich das nicht gerade dazu, weiterhin hart zu arbeiten, sondern im Gegenteil dazu, möglichst wenig zu schuften.
Das ist übrigens auch ein Grund, warum Sozialismus Eigentums- und ungerechtfertigte Lohnunterschiede abschaffen muss. Allerdings ist es doch etwas problematisch, wenn jemand die Arbeit, die er macht, nicht deshalb verrichtet, weil sie im Freude bereit und er sie für sinnvoll hält (etwa als seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen), sondern nur, weil er, wenn er mehr arbeitet als andere, mehr bezahlt bekommt. Wenn mir meine Arbeit Spaß macht und mein Lohn meiner Leistung und meinen Bedürfnissen entspricht, ist mir doch egal, ob andere für weniger Leistung denselben Lohn bekommen. Solange die Minderleistung anderer mir (oder dem Kollektiv) nicht schadet, schleppen wir diese Leute eben mit. Das können wir uns leisten.
Der „Schadenszauber“ ist freilich in dem obigen Narrativ fest eingebaut: Weil einige wenig lernen, sind die Ergebnisse insgesamt schlecht und alle bekommen eine schlechtere Note. Nur ist dieses Prinzip bloße Gleichmacherei und hat, wie bereits gesagt, mit Sozialismus nichts zu tun.
Die Frage, was Menschen dazu motiviert, gute Arbeit zu tun, und was ein vernünftiger und gerechter Umgang mit denen ist, die schlecht arbeiten, stellt sich auch unter sozialistischen Bedingungen (also wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet sind). Es ist aber keine bloß psychologische Frage, sondern auch eine ethische. Es ist die Frage nach dem Wert von Arbeit ― unabhängig von kapitalistischer Verwertung.
Im Kapitalismus wird bekanntlich nicht gewirtschaftet, um Bedürfnisse zu befriedigen und den Menschen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen. Es geht vielmehr um das völlig abstrakte Prinzip der Profitmaximierung. Jenseits bloßer Substistenzwirtschaft ist jedes Wirtschaften auf Gewinn ausgerichtet, um Investitionen tätigen zu können und Vorräte anzulegen ― und nicht bloß von der Hand in den Mund leben müssen. Profit im kapitalistischen Sinne ist aber etwas anderes, er ist Selbstzweck. unmenschlich und menschenfeindlich, zudem zerstörerisch für die Lebensbedingungen auch von Tieren und Pflanzen.
Sozialismus schafft das ab. Wirtschaften wird wieder vernünftiges gemeinsames Handeln, gerichtet auf allgemeinen Wohlstand. (Wobei Schutz und Schonung der natürlichen Umwelt zur Vernünftigkeit dazugehört,)
Das Schul-Beispiel mit der Einheitsnote beweist gar nichts. Schon gar nicht, dass Sozialismus nicht funktioniert, weil die Menschen, wenn sie nicht mehr mit Einkommensentzug, Armut, Verhungern bedroht werden, nicht mehr arbeiten würden.
Baute man das Narrativ um, könnte es so lauten: Es werden gar keine Noten mehr vergeben. Die Kooperative der Schüler oder Studenten entscheidet (konsensuell), was gelehrt und gelernt werden soll. Jeder bekommt die Förderung, die er braucht. Jeder lernt nach seinen Bedürfnissen für die Zwecke, die er anstrebt. Durch individuell angepasste Lehrmethoden erreicht jeder seine Ziele, keiner bleibt zurück, die Fleißigeren und Klügeren nehmen die weniger Motivierten und Unbegabteren im Rahmen des Möglichen mit. Es gibt keine Beurteilung von oben, schon gar nicht wird abstrakte „Leistung“ (Auswendiglernen, Abspulen von Vorgegebenem) gegenüber kreativer Eigenständigkeit belohnt, sondern jeder entscheidet selbst, wie zufrieden oder unzufrieden er mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten ist, wobei es sinnvoll sein dürfte, auf andere zu hören und sich mit ihnen abzustimmen.
Das kann funktionieren. Man kann Mittel und Weg finden, es zu realisieren. Niemand muss ungebildet bleiben, Wissen muss nicht als Herrschaftswissen wenigen vorbehalten bleiben. Und was für solchen Bildungssozialismus gilt, gilt für Sozialismus allgemein.

* A class insisted that socialism is functional and that no one should be poor and no one rich, everyone is EQUAL! The teacher told them, "OK, we will do an experiment on socialism in this group. All grades will be averaged, and everyone will get the same grade, so no one will fail and no one will get a 10." After the first test, the grades were added up and divided by the number of students, and everyone got an 8. The students who studied intensively were upset, but those who studied less were overjoyed. As the second test approached, the students who had studied a little learned even less, and those who had studied more intensively told themselves that they also wanted a "handout", so they also studied less. The average of the second test was 6! When the third test was given, the average score was 4. To the great surprise of all the students, they all failed. It couldn't be a simpler explanation. The teacher told them that socialism will eventually fail because when half the population sees that they can not work, because the other half will take care of them, and when the half that worked realizes that there is no point in working anymore , because others are the beneficiaries of their labor, then that is the end of any nation …

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