Donnerstag, 19. Juni 2025

Heteronomes Fahren

Ich bin ja ein bisschen dumm. Darum verstehe ich zwei Dinge überhaupt nicht.
Erstens: Warum heißt es „autonomes“ Fahren, wenn doch der Mensch, der im Fahrzeug sitzt, keine Entscheidungen mehr zu treffen braucht (und vielleicht auch nicht mehr kann)? Soll das etwa heißen, das Ding ist „autonom“? Eine Maschine, also ein unpersönliches Etwas ohne Willen, ohne Bewusstsein und ohne Moral, demnach ohne die Fähigkeit, sich selbständig Ziele zu setzen und zwischen Gut und Böse zu unterschieden, soll „autonom“ sein? Was ist das für ein Begriff von Autonomie? Wäre im Hinblick auf den Menschen, der seiner Autonomie beraubt wird (wenn er sie nicht freiwillig hergibt), nicht besser von heteronomem Fahren die Rede?
Und zweitens: Wozu braucht man den Scheiß?
Wahrscheinlich bin ich von all der Gesellschaftskritik, mit der ich seit Jahrzehnten befasst bin, bis ins Mark verdorben, aber mir drängt sich der Verdacht auf, hier gehe es um Entmündigung. Wie schon bei so viel anderem „Spielzeug“, das angeblich nicht mehr wegzudenken ist und tatsächlich als weitgehend fest verschraubt mit geschäftlichen Notwendigkeiten und soziokulturellen Üblichkeiten gelten muss. Wer kann heutzutage, im aktuellen Zustand der technoiden Verzivilisiertheit, noch ohne Schaden und ohne Bedrängnis ganz ohne Smartphon leben? Wer morgen ohne Smartwatch? Und wer weiß, was übermorgen der heiße Scheiß sein wird. Hirnimplantate?
Läuft es beim fremdbestimmten Fahren nicht darauf hinaus: Deine Maschine wird dir sagen, wo du hinwillst und wie du am besten hinkommst. Du hast für die Maschine bezahlt, aber gebaut und programmiert haben sie andere, und die haben auch dauerhaft Zugriff auf das Ding. Diese anderen sind übrigens profitgeile Konzerne, die noch nie etwas Gutes für dich getan haben und nur daran interessiert sind, dich zu benützen. Sie wollen Geld machen mit dir und dich beherrschen. Punkt.
Und dass ist das ist das Dritte, das ich nicht verstehe: Warum die Leute wie verrückt in jede neue Konsumfalle rennen, wo doch die Nachteile des Zeugs vorhersehbar sind und die Vorteile hauptsächlich solche für die Ausbeuter?

Glosse CXXXVII

Nein, es heißt nicht selektieren (oder gar „selektionieren“), sondern selegieren, wie es ja auch nicht „fiktieren“ heißt (oder gar „fiktionieren“), sondern fingieren.

Mittwoch, 18. Juni 2025

Übrigens (2)

Ich habe nie gesagt, ich könnte das auch. (Einen Beststeller schreiben.) Ich sagte, ich könnte das auch, wenn ich wollte. Wohl wissend, dass ich das niemals wollen würde.

Übrigens (1)

Ich schaue fast täglich die Nachrichten, um zu wissen, was ich glauben soll, was nicht passiert ist.

Notiz zur Zeit (252)

Merz sagt, Israel erledige mit seinem Krieg gegen den Iran die „Drecksarbeit“ für den Westen. Wie nennt man noch mal Leute, die Auftragskiller beauftragen?

Trump ähnelt von Charakter und Gehabe einem miesen kleinen Gangsterboss; was ihn davon unterscheidet, ist, dass keine Bande von Kriminellen einen so dummen und unfähigen Anführer lange akzeptieren würde.

Wohnungsbau-Turbo: Weniger Qualität beim Bauen (und also Wohnen) und weniger Klimaschutz. Eine ganz großartige Idee.


Montag, 16. Juni 2025

Leute (33)

X. macht es sich einfach. Wenn andere in Zeiten zugespitzter politischer Konflikte, wie er es nennt, „totale Mobilmachung auf dem Feld bedingungsloser Parteinahmen“ betreiben, zitiert er „Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde“ und setzt hinzu: „Geschichte ist, wenn schlimme Leute schlimme Leute abschlachten.“ Wenn es doch nur so einfach wäre! Wenn nicht auch, und zwar überwiegend, ganz und gar nicht schlimme Leute von schlimmen Leuten abgeschlachtet würden. Wenn es nicht Lagen gäbe, wo man sich mit anderen Teufeln gut stellen muss, um Beelzebub auszutreiben. Und was die Parteinahme betrifft: Es wäre unanständig und unheilvoll, nicht für das Recht gegen das Unrecht Partei zu ergreifen. Ich weiß schon, alle behaupten immer, sie seien im Recht. Es gibt aber doch auch das Offensichtliche. Beispielsweise: Wer abschlachtet ist im Unrecht, wer abgeschlachtet wird, dessen Recht wird verletzt. So einfach ist es wirklich.


Sonntag, 15. Juni 2025

Unterwegs (25)

Es war nicht schön, zufällig an dem Tag die Stadt vom einen zum anderen Ende und später wieder zurück zu durchqueren, an dem Splittergrüppchen und Einzelkämpfer (vielerlei Geschlechts) der Buchstabensternchen-Herde, mit diversen Exemplaren ihrer Stammesflagge bewaffnet, die Verkehrsmittel besiedelten. Vermutlich unterwegs zu Großen Stolz-Parade. Was für eine lächerliche Freakshow! So mögen die Heteros ihre Abartigen: bunt, peinlich, harmlos. Freilich, wer mit Kostüm und Schminke bezeugen muss, das er (sie, es) anders ist, ist es wohl in Wahrheit gar nicht so sehr. Heteronormativität in Tütü und Maske. Und was ist überhaupt aus den hübschen jungen Schwulen geworden, die es doch früher gab? Haben die Lesben, Trans, Nonbinären und Quiiieeeren die alle gefressen?

Unterwegs (24)

Ein beißend hässlicher alter Mann verstellt samt Koffer und Begleitung und deren Koffer am Bahnsteig den Fahrplanaushang. Als ich höflich, aber bestimmt darauf hinweise, dass ich, um Unterschied zu ihm, den Aushang gerne nutzen möchte, wird der Alte fuchtig, trollt sich dann aber. Eine unangenehmbe Begegnung. Hässlichkeit, Rücksichtslosigket und Feindseligkeit gegen die, die berechtigterweise gegen Fehlverhalten Einspruch erheben: Ich kann mir nicht helfen, aber ich vermute, es in diesem Fall einmal mehr mit einem Israeli zu tun gehabt zu haben.

Dienstag, 10. Juni 2025

Protest, Gewalt, Staat, Kapitalismus

Oh weh, die demonstrieren ja gar nicht friedlich. Na, da muss der Staat natürlich eingreifen. Um uns alle zu schützen.
Des braven, demokratischen Bürgers Herz rutscht in die Hose, wenn er von Gewaltausbrüchen hört, wo alles friedlich und zivilisiert zugehen sollte. Die gewöhnliche Vorstellung ist die: Es gibt ein Grundrecht auf Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit und zusammen ergeben sie das Recht auf Protest in der Öffentlichkeit. Wenn es friedlich zugeht. Wenn aber Polizisten (und Militärs) attackiert werden, Geschäft geplündert, Barrikaden errichtet und Autos und andere Wertgegenstände angezündet werden, dann ist der Spaß vorbei und der Ernst des Lebens muss wieder zuschlagen. Selber schuld, warum haben diese Leute (mit denen man nichts zu tun hat und haben will) nicht öediglich friedlich demonstriert, sondern sich für Gewalt und Zerstörung entschieden, das ist gegen das Gesetz und spielt nur denen in die Hände, die die Proteste unterdrücken wollen, was sie jetzt selbstverständlich müsse, mit Gewalt, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.
Darin steckt ein Denkfehler, der so offensichtlich und grundlegend ist, dass er tatsächlich den Angelpunkt der Argumentation ausmacht: Warum sollten die, gegen deren Untaten protestiert wird, festlegen dürfen, in welcher Form das getan werden darf und in welcher nicht. Es ist vernünftig, darüber zu diskutieren, welche Protestformen vernünftig sind und welche Folgen sie haben. Aber den Staat und seine Gesetze vorschreiben zu lassen, wer wie wann wo gegen das staatliche Verbrechertum auftreten darf, ist absurd.
Nun kommt gewiss sofort der Protest: Aber der Staat, das sind doch wir alle, und Gesetze braucht es für ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben, ohne Vorschriften herrschte Anarchie!
Erstens: Anarchie (Herrschaftslosgkeit) herrscht nicht. Gemeint ist Durcheinander,. Zweitens: Anarchie ist nicht Unordnung, sondern vernünftig geordnetes Zusammenleben auf der Grundlage der Zustimmung und Mitwirkung jedes Einzelnen. Also genau das, was Frieden und Gewaltlosigkeit garantiert, im Unterschied zum System der Nationalstaaten und multinationalen Imperien, die innen und außen Kriege führen und äußerst destruktiv und unordentlich sind. Und drittens: Selbstverständlich kommt zunächst nichts Gutes dabei heraus, wenn systematisch-institutionelle Gewalt mit spontaner und privater Gewalt beantwortet wird. Wenn, anders gesagt, irgendwelche Protestgruppen sich aufführen, als wären sie jetzt mal kurz ein bisschen an der Macht und dürften nach Belieben (also hasserfüllt und ressentimentgeladen) über Menschen und Dinge verfügen.
Es ist aber doch so: Die Gewalt geht von den Verhältnissen aus. Was auch immer da und dort irgendwelche Protestierende gelegentlich an kriminellen Akten begehen, ist Reaktion darauf und nichts im Vergleich zu dem, was Staat und Wirtschaftsordnung den Leuten andauernd antun. Es sind nicht irgendwelche Demonstranten, gewalttätig oder nicht, die für all die Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen, für Umweltzerstörung und Unterdrückung, für Armut und Konsumwahn, für Verdummung und Unterhaltungsmüll verantwortlich sind, die es auf der Welt gibt. Verantwortlich ist die Weltwirtschaftsordnung, die von den Nationalstaaten geschützt wird. Während die Reichen weltweit nachweislich immer reicher werden, bleiben die Armen arm und alle dazwischen müssen Wohlverhalten an den Tag legen, wenn sie ein bisschen Wohlstand für sich abzweigen und nicht in die Mittellosigkeit abrutschen wollen.
Es geht übrigens nicht darum, dass halt die Reichen ein bisschen von ihrem Reichtum abgeben sollen, um die Armen ein bisschen weniger arm zu machen. Es geht darum, dass der real existierende Reichtum ungerechtfertigt ist, dass er auf Raub beruht (Privat-Eigentum) und auf Entrechtung. Diese Art von privatisierten, unproduktivem Reichtum gäbe es nicht, wenn nicht den Vielen etwas weggenommen würde und den Wenigen gegeben. Reich wird ja nicht, wer hart, schwer und viel dafür arbeitet, das ist eine Lüge; reich ist vielmehr und immer reicher wird, wer Reichtum geerbt oder innerhalb eine ihn begünstigenden Systems erschwindelt und erpresst hat.
Die meisten Menschen haben sich ― regional und global ― mit dieser Lage abgefunden. Auch die, die nicht von ihr profitieren und nie von ihr profitieren werden. Es gibt eben Reiche und Arme und irgendwas Dazwischen. Die meisten Menschen wollen einfach nur in Ruhe gelassen werden und ihr Leben leben. Einige möchten außerdem gern den Umstand, dass es reiche und arme Länder gibt, insofern für sich nutzen, dass sie aus ihrer armen Heimat in reiche Länder migrieren, um dort hart zu arbeiten und zu etwas zu kommen, was ihnen dort, wo sie herkommen, verwehrt wird: ein erträgliches Auskommen. Ihre Migration ist einerseits ein Beitrag zum Wohlstand der Reichen, insbesondere wenn sie „illegal“ ins Land kommen und wie rechtlose Sklaven behandelt werden können. Wobei „Illegalität“ keine Naturgegebenheit ist, sondern vom Staat nach Gutdünken festgelegt wird. Andererseits eine gute Gelegenheit, die Abstiegsängste und die Fremdenfeindlichkeit der eigenen Mittelschichten zu mobilisieren und gegen Schwächere zu kanalisieren. Das funktioniert meistens. Nur selten bildet sich dagegen Widerstand.
Die Unruhen in Los Angeles kamen zu Stande, weil unter der faschistischen Regierung der USA die „Einwanderungsbehörde“ (in Wahrheit eine Einwanderungsverhinderungsbehörde, eine Deportationsbehörde) brutal, zum Teil gesetzwidrig und jedenfalls unmenschlich Jagd auf vermeintliche „Illegale“ machte. Dagegen bildete sich sehr wohl Widerstand. Verfolgte, deren Angehörige und besorgte Bürger gingen auf die Straße, um gegen Unrecht und Grausamkeit zu protestieren. Das demokratische und gewaltfreie Demonstrieren ließ sich die Behörde aber nicht gefallen und ging gewaltsam dagegen vor. Die Regierungszentrale eskalierte. Das war eine gern genutzte Gelegenheit für manche, ihre Wut auf ein repressives, diskriminierendes und ausbeuterisches System und ihre beschissenen Lebensverhältnisse durch Randalieren und Vandalieren auszudrücken. Damit bekamen die Anbeter der Staatsgewalt erst recht die Bilder, die sie haben wollten. Und die Gewaltschraube bekam ein paar Drehungen mehr.
Die Protestierer von Los Angeles oder anderswo LA sind keine Aufständischen. Ihr Protest ändert auch nichts an den Verhältnissen, er ist nur eine Bekundung von Anstand und Verzweiflung. Was inmitten einer gleichgültigen und in weiten Teilen bösartigen Gesellschaft schon sehr viel ist.
Friedlicher Protest beruft sich heutzutage in den USA auf Recht und Gesetz, in einer historischen Situation, in der nicht Recht und Gesetz von der Regierung missachtet. Das ist einerseits ein sinnvolles Mittel, die demokratische Usurpation des Staates durch undemokratische Kräfte zurückzuweisen, andererseits völlig untauglich, um die Zurückweisung wirkungsvoll zu machen. Die Faschisten hören nicht auf Stimmen der Vernunft, Logik, Moral usw. Sie sprechen nur die Sprache der Gewalt (nebst all ihren Lügen) und vermutlich kann nur Gewalt sie stoppen. Wie soll eine moralisch, kulturell, religiös völlig verwahrloste und verderbte Gesellschaft, in der die Hälfte der Leute einem debilen Clown mit tyrannischen Gelüsten anhängt, anders als durch einen Bürgerkrieg sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, ihrem Konsumismus, ihrem Hedonismus, ihrer geistigen Leere herausarbeiten?
Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede hier nicht der Gewalt das Wort und auch nicht irgendeiner Straftat. Ich rede vielmehr der Abschaffung des Staates das Wort und der Abschaffung des Kapitalismus. Ich befürworte gewaltfreie Lösungen, weil die Mittel dem Ziel entsprechen müssen. Blutige Umstürze etablieren neue blutige Regimes, weiter nichts.
Aber ich sehe nicht, wo in den USA eine wirksame Gewaltfreiheit herkommen soll, die sich von Stillhalten und Wegschauen anders als bloß durch Gesänge, selbstbeschriftete Kartons und Internet-Memes unterscheidet. Der Staat und die, die sich seiner bedienen können, sind jederzeit nicht nur gewaltbereit, sondern setzen längst Gewalt ein. Derzeit wieder mit besonderem Nachdruck. Dass das dumm ist ― weil eine Masse von Unterdückten unproduktiver und nach außen gefährdeter ist als ein Gemeinwesen freier Bürger mit gesicherten Rechten ―, steht außer Frage, heißt aber nicht, dass es nicht durchgesetzt wird. Was soll dazu die Alternative sein? Wahlen? Eine Wahl hat den widerwärtigen Narren zweimal ins Amt gehoben. Wer soll die, die die Macht dazu haben, daran hindern, durch Aushebelung der Verfassung ein drittes Mal zu inszenieren ― ein Gericht? hahaha … ― oder irgendeine andere völlig unmögliche Galionsfigur einzusetzen? Einsicht, Gewissen, Anstand und die Einhaltung von Spielregeln scheiden also aus. Nochmals: Was ist die Alternative zum Quasifaschismus, der Faschismus zu werden droht?
Ich weiß es nicht.
Der Zustand des Systems ist grauenhaft. Aber vor allem ist das System selbstgrauenhaft. Der Form nach Demokratie, dem Inhalt nach Ausbeutung und Verblödung und Zerstörung der Lebensgrundlagen aller. Bevor das nicht von allen, die aktiv gegen Missstände vorgehen wollen, begriffen wird, sehe ich kaum eine Chance, wie die Missstände beseitigt werden sollen, besonders nicht der eine Missstand, der die Ursache der anderen ist: die Herrschaft von Menschen über Menschen.
Bilder von bespuckten und beworfenen Bütteln und brennende Fahrzeugen mögen rebellische Herzen höher schlagen lassen. Sie illustrieren allerdings nur die Machtlosigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Staat, der aller seiner Untertanen Feind ist und der „wir“ nicht sind und besser auch keinesfalls sein wollen sollten. 

Montag, 9. Juni 2025

Leute (32)

Jemand, den ich nicht kenne, war in Neapel, und man sagt mir, die Person sei mit der Nachricht zurückgekommen, die Stadt sei schmutzig. Das ärgert mich. Schmutzig, laut, arm, chaotisch usw.,  all diese Klischees, die vermutlich ebenso wahr wie bedeutungslos sind, kennt man die nicht schon, bevor man hinreist? Wozu Neapel besuchen, wenn man sich nicht für die Stadt interessiert? Wenn man nichts über sie weiß und offenschtlich nicht mehr wissen will, als ein Tourist eben beim durchtrampel einer Stadt an Nebensächlichem mitbekommt und missversteht. Ich ärgere mich also nicht darüber, dass Neapel verleumdet würde, denn ich halte mich dank Malaparte, Bellavista e tutti quanti für einigermaßen zum Mitwisser gemacht. Ich ärgere mich vielmehr darüber, dass andere dorthin reisen, die ignorant und borniert sind, die es nicht verdient hanen, ja völlig unwürdig sind, die Wirklichkeit dieser Stadt zu erfahren, während mir, der ich so gebildet und aufnahmefähig bin, auf absehabre Zeit und vielleicht für immer die Mittel fehlen werden, nach Neapel zu reisen. Was für ein Unrecht!

Sonntag, 8. Juni 2025

Notiz über Literatur

Wenn einer schriebe, Kalkutta liege an der Seine und Paris am Ganges, dann ist das völlig in Ordnung, es stellt sich allenfalls die Frage: In welcher? In der einen Ordnung und in einer anderen nicht. Die Entscheidung, welche er wählt oder ob er gar Unordnung vorzieht, wird man dem Schreibenden überlassen müssen, es ist ja sein Text, in dem das steht. Warum sollte denn Geographie, wie sie herkömmlicherweise gelehrt wird, der Maßstab der Literatur sein? Warum sollte nicht, wer kann und will, eine alternative Geographie behaupten dürfen? Man nennt das Fiktion und sollte es von der Faktenhuberei unterscheiden, die manche zur Kunst erheben wollten. Das möglichst akribisch Nachbeten einer vermeintlichen Realität (Regnete es am Tag der Schlacht von Waterloo? Von wann bis wann und wie viel? Was hatte Napoleon gefrühstückt? Musste er noch aufs Klo?) ist nicht an sich sinnvoll, es müsste, wie alles Geschriebene es muss, seine Sinnhaftigkeit im Zusammenhang der sprachlichen Gestaltung erst unter Beweis stellen. Oder diesen Beweis aus guten Gründen schuldig bleiben, auch das kann zulässig sein. Was stimmt oder nicht, unterliegt in der schönen Literatur anderen Regeln, Absichten und Erfordernissen als in der Geschichtsschreibung. Wer nur sagen will, wie es gewesen ist, ist in der Belletristik fehl am Platze. Er muss schon etwas können, das es sinnvoll macht, so tu tun, als sei etwas so gewesen oder anders. Wer also erzählen möchte, Napoleon sei damals während starken Schneefalls auf einem lahmenden Einhorn ungefrühstückt aufs Schachtfeld geritten, möge das tun, wenn er weiß (oder immerhin vermuten kann), was er da tut, und wäre auch das, was er tut, zur Erfüllung des Wunsches gemacht, zu verstören und in die Irre zu führen. Warum er jemanden dorthin bringen will (in die Irre), was er sich davon verspricht und was er von einem Rückweg hält, darf ganz ihm überlassen bleiben, derlei Tun und Machen ist jedenfalls nicht von vorn herein weniger berechtigt als das Anliegen, überpüfbare Rekonstruktion und eindringliche Information zu geben. Aber auch nicht unbedingt mehr. Weshalb Reflexion und Offenlegen der Gründe gerade dann nicht schaden wird, wenn ohnehin schon Illusion als Sinn und Zweck des Schreibens auuscheidet, also ein Text sich ebenso gut gleich selbst kommentieren kann. Wie es übrigens seit jeher recht häufig Sitte ist, sonderlich in dem Zeitalter, das man das moderne nennen möchte. Erfindung und deren Aufdeckung nehmen dem Lesevergnügen nichts, wenn anders dieses nicht vor allem darin bestehen soll, das Lesen und mit ihm das Geschriebene zu vergessen und einzutauchen in unechte Wirklichkeit. Im gewöhnlichen Umgang sind „alternatve Fakten“ einfach Lügen und also böse. In der Schönen Literatur aber ist alles erlaubt, was gut gemacht ist; oder so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Alles, außer eben das: Den Unterschied von Fiktionen und Fakten vergessen machen zu wollen, weil das zu unkritischer Haltung erzieht und also böse ist.

Samstag, 7. Juni 2025

In eigener Sache: Neues Blog

Ab sofort gibt es von mir ein neues Blog: Nackter Wahnsinn. Unter der Adresse https://nackter-wahnsinn.blogspot.com veröffentliche ich dort bellestristische Prosa-Texte. Zunächst habe ich nur solche aus diesem Blog hier übernommen, fortan werden dort neue Texte (und alte aus anderen Zusammenhängen) zu lesen sein.

Donnerstag, 5. Juni 2025

Leute (31)

Vor Jahren stritt ich mit X., einem Verleger, Übersetzer, Autor, ob Edmund Whites Genet-Biographie ganz grässlich und nur für dumme Amerikaner geschrieben sei (so X.) oder aber ein Meisterwerk der Biographik und eines der besten Bücher über Jean Genet, wenn nicht gar das beste überhaupt (so ich).
 
Am 3. Juni verstarb Edmund White. Sein Genet-Buch und manch anderes von ihm hat mich über dreißig Jahre lang begleitet. Ich bin ihm dankbar. Er ruhe in Frieden.

Mittwoch, 4. Juni 2025

Glosse CXXXVI

Befasst man sich intensiver mit dem Text, dann bieten die Form der formalen Gestaltung sowie die (...) Hier steige ich aus, der Satz muss erst einmal ohne mich zu Ende gehen. Was mich aus der Bahn wirft: Für mich sind Form und Gestalt Synonyme; andere können das gerne anders sehen, sie mögen mir ihre Gründe bitte in einer Fremdsprache erklären. Mir ist also ein Rätsel, was eine formale Gestaltung sein soll und wie sie sich unterscheidet von, ja was, einer nichtformalen Gestaltung? Einer stofflichen Gestaltung? Und wieso hat die Gestaltung, formal oder nicht, besonders aber, wenn ausdrücklich formal, auch noch eine Form? Oder geht es bei solchem Wortgeklingel nur um eine möglichst inhaltsarme, aber vokabelreiche Rede? Um so das Vorurteil zu bestätigen, dass Literaturwissenschaftler nicht gut schreiben können?

Glotze

Ich mochte es nie, wenn jemand vom Fernsehen als der Glotze sprach. Ob einer gern fernsieht oder nicht, muss jeder selber wissen, ob er es tut oder lässt, darf jeder selbst entscheiden. Aber das Fernsehen durch einen solchen Ausdruck abzuwerten und sich seiner dann doch zu bedienen (oder sich davon bedienen zu lassen), das erschien mir immer als Heuchelei.
Bedauerlich finde ich es aber vor allem, dass mit dem abschätzigen Ausdruck „Glotze“ schon das Fernsehen belegt worden ist, wo er doch heute so gut gebraucht werden könnte, um das Mobiltelephon zu bezeichnen. Lässt sich da nichts machen? Der Wortgebrauch scheint mir ohnehin stark rückläufig, übers Tefau zu meckern in der Internetära zudem weitgehend obsolet. Vielleicht darf man den Ausdruck also als bereits wieder frei geworden betrachten und somit auf besagtes Gerät anwenden.
Denn der Umgang mit diesem ist, soweit ich sehe, genau das: ein Glotzen. Manche sagen: ein Starren, auch das stimmt, aber vom „Handy“ als „Starre“ zu reden, wäre dann wohl doch zu abseitig.
Warum aber nicht „Glotze“? Es wird geglotzt, es wird gewischt, wieder geglotzt, getippt, wieder geglotzt und so weiter und so fort, das kann eine kleine Ewigkeit so gehen, manchmal auch nur ein paar Sekunden, dafür aber immer alle paar Minuten.
Nur selten noch wird geschwatzt. Zu oft, an der Lästigkeit gemessen, wenn es öffentlich geschieht, im Ganzen aber doch seltener, als der Begriff des Telephons vermuten ließe. Es gibt sogar, höre ich und habe es selbst bei einigen bemerkt, Fortgeschrittene, die gar nicht mehr mit dem Mobiltelephon telephonieren. Sie tippen nur noch, was sie zu sagen haben.
Es geht also ums Glotzen, Glotzen, Glotzen, und darum wäre Glotze so ein passender Ausdruck. Ich rate dringend dazu, ihn zu verwenden. Und wäre es auch nur in der pseudanglisierten Form „Glotzy“.

Dienstag, 3. Juni 2025

Ist die Natur an sich sinnfrei?

„Die Natur an sich ist sinnfrei.“ Woher weiß das der Mensch, der das schreibt? Woher kennt er die Natur „an sich“? ― Was man unter Natur verstehen will, mag verschieden sein, aber vielleicht kann man sich ja auf dieses Minimum einigen: Natur ist, was Menschen nicht gemacht haben. Das scheint auch für die zitierten Satz (auf Grund von dessen hier ausgeblendetem Kontext) plausibel.
Wie also gewinnt man Erkenntnisse über das nicht von Menschen Gemachte „an sich“? Um es einmal mehr zu sagen: Es gibt keine menschliche Erkenntnis, die nicht Erkenntnis eines Menschen wäre (wenigstens eines). Was und wie etwas also ist, insofern es nicht Gegenstand der Wahrnehmung, der Erkenntnis, der Rede ist, darüber kann nichts Sinnvolles gesagt, das kann nicht gewusst, das kann nicht wahrgenommen werden. Selbstverständlich kann ich sagen, wie etwas aussieht, das ich jetzt gerade nicht sehe, denn ich kann es früher gesehen haben oder mich auf Beschreibungen anderer verlassen. Aber wie etwas aussieht, das nie jemand gesehen (oder sich vorgestellt hat), ist unmöglich zu sagen.
Trotzdem wird über derlei geredet. Man spricht von „Natur an sich“, was ja wohl heißen soll: Natur, so wie sie ist, auch wenn niemand sie wahrnimmt. Der zitierte Satz geht sogar noch darüber hinaus und behauptet, etwas über Natur, wie sie ist, unabhängig von menschlicher Wahrnehmung und Deutung (Sinnzuschreibung), sagen zu können.
Nun ist freilich die „sinnfreie Natur an sich“ ein hölzernes Eisen, will sagen: ein sinnlosen Ausdruck, ein sich selbst widersprechender Begriff. Denn dass etwas „sinnfrei“ ist, kann ich ja nur sagen, wenn ich etwas darüber weiß; dann ist es aber nicht mehr „an sich“, sondern auf diese oder jenes Weise etwas für mich. Zumal man von „Sinnfreiheit“ (oder „Sinnhaftigkeit“, wenn das das Gegenstück ist) nur innerhalb einer Hermeneutik reden kann. So wie man ja auch nur innerhalb von Kulturen von Natur redet. In der Natur kommt Natur nicht vor, es ist ein menschlicher, immer schon mit Bedeutungen ausgestatteter (und insofern niemals sinnfreier) Begriff.
Aber auch wenn ich der Meinung bin, dass „Natur an sich“ kein sinnvoller Ausdruck ist (wegen des logischen und epistemologischen Widerspruchs, die Nichtgegenständlichkeit von etwas zum Gegenstand machen zu wollen), so ist es doch meiner Auffassung nach kein sinnfreier. Der Sinn solcher Redeweise scheint nämlich zu sein, einen Seinsbezirk zu behaupten, der der menschlichen Deutung zunächst einmal vorausliegt und nicht von Sinnstiftungsakten konstituiert wird. Eine „reine Natur“ also, die nachträglich Deutungen unterzogen wird.
Nun sollte man aber bedenken, dass dieses Narrativ der Nachträglichkeit selbst nachträglich ist und nur innerhalb einer bereits hermeneutisch verfassten Praxis vorkommen kann. Anders gesagt: die „sinnfreie Natur an sich“ ist ein mit Sinn aufgeladenes Kulturprodukt. Und nichts weiter. Ob das, wovon keine Rede sein kann (weil es dann schon nicht mehr an sich wäre, sondern eben Gegenstand menschlicher Rede), existiert oder nicht und in welchem Sinne, kann nicht gesagt werden. Oder vielmehr, es kann gesagt werden, aber nur als bloße Spekulation und Fiktion, nicht in der Art von überprüfbaren Aussagen zu Tatsachen.
Der Sinn und Zweck der Rede von der „sinnfreien Natur an sich“ ist also eine Intervention innerhalb des hermeneutischen Feldes. Es wird etwas postuliert, Natur, und dann mit einer Deutung ausgestattet („ist sinnfrei“), die sich nicht nur von selbst versteht, sondern, zu Ende gedacht, höchst widersprüchlich und nur dann verständlich ist, wenn es nicht als „wertfreie Tatsachenbehauptung“ genommen, sondern als Aufforderung verstanden wird: Es gibt Natur und sie hat keinen Sinn.
Beweisen lässt sich der Satz nicht. Denn wer überblickte erstens das Gesamt dessen, was die so und so verstandene Natur ist? Was, wenn er etwas übersehen hätte oder Sinn dort verborgen ist, wo er ihn nicht sehen wollte? Und wer könnte zweitens so aus Natur und Kultur heraustreten (ohne sich mitzunehmen …), dass er das An-Sich dieser Totalität erfasste? Niemand kann das. Im Gegenteil, Wirklichkeitsbetrachtung ist nur als sinnvolle Handlung denkbar, mögen die Ergebnisse auch falsch oder absurd sein, als menschliche Handlung also, die Anlass, Umstände, Gelegenheit, Geschichte, Absichten, Bedingungen usw. hat. Nicht nur kann nichts über „Natur an sich“ gewusst werden, weil Natur als bewusst gemachte und in ihrem Sosein gewusste notwendig „Natur für jemanden“ ist, sondern auch eine „sinnfreie Natur“ kann kein Erkenntnisgegenstand sein, weil alle Erkenntnis darauf aus ist, sinnvoll zu sein (und sonst keine Erkenntnis wäre).
Die Sinnfreiheit der Natur ist also eher ein Mythos, den man hinnehmen soll, als eine Erkenntnis, die man überprüfen kann. Zeigen lässt sich jedoch, dass es überhaupt Sinn gibt. Wenn aber irgendetwas Sinn hat, und jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass dem so ist, dann hat im Grunde alles Sinn. Denn sonst müsste man ja annehmen, dass zwar etwas Sinn hat, aber das Sinnhaben selbst sinnlos („sinnfrei“) ist. Das wäre aber seinerseits nicht sinnvoll, sondern absurd. Es ist aber eben offensichtlich nicht absurd, sondern sinnvoll, dass etwas Sinn hat.
Man darf also sagen: Das nicht von Menschen Gemachte, woher immer es stammt, was auch immer es bedeutet und wozu immer es verpflichtet (oder berechtigt), es ist jedenfalls nur innerhalb der Sinnfülle zugänglich, die zu den Bedingungen des menschlichen Daseins gehört. Sinn wird den Dingen und Verhältnissen nämlich nicht (oder nicht immer nur) übergestülpt, er wird ihnen vor allem auch entnommen, er ist im Umgang mit der Wirklichkeit erfahrbar. Ich gehe so weit zu sagen, dass das menschliche Dasein ganz wesentlich Sinnerfahrung ist. (Nur dadurch sind Erfahrungen von Sinnlosigkeit als Lebenskrisen oder Kulturzustand überhaupt möglich.)
Dass „Natur“ als solche also keineswegs a priori und notwendigerweise sinnfrei ist, bedeutet andererseits selbstverständlich nicht, dass der Sinn von etwas, das man der Natur zurechnet, immer zugänglich ist und erfasst werden kann und wird. Was der Sinn und vor allem, was der letzte Sinn ist, ist eine andere Frage als die, ob etwas überhaupt Sinn hat. Sehr wohl kann die Sinnhaftigkeit von etwas natürlich Verstandenem erkannt werden, ohne dass darum der Sinn „der Natur“ schlechthin erfasst werden müsste. Womöglich verlässt aber das Nachdenken darüber den Bereich der Philosophie und tritt auf den der Theologie über. daran ist nichts Ehrenrühriges. Auch die Philosophie hat ihre Grenzen und auch jenseits dieser Grenzen kann es Wahrheit geben, der man sich dann eben anders als philosophisch anzunähern hätte.

Montag, 2. Juni 2025

Notiz zur Zeit (251)

Ob das eine gute Wahl war? Ein Präsident, der nicht viel mehr können wird, als der Regierung dazwischenzufunken: Macht das Polen stark und unabhängig? Schützt es vor Bedrohungen? Antwortet es auf Herausforderungen? Dass so viele nicht eine Zukunft wählen, sondern den Wunsch nach einer Vergangenheit, die es nie gab, zeigt, wie gering die politische Phantasie bei den Leuten ist und wie groß die Lust an Abwertung anderer und der Kultivierung angeblicher Ängste, die in Wahrheit nur berechtigte Zweifel daran sind, ob man wirklich so großartig ist, wie man gerne wäre. Im Nachbarland zeigt gerade eine ganze Nation, was modernes Heldentum ist. Die Hälfte der Polen aber hat sich bei dieser Wahl als angeberische und rückständige Angsthasen erwiesen.

Leute (30)

Dass die Leute so gern X. zitieren (und also womöglich gelesen haben), ist mir ebenso unverständlich wie die Texte von X. selbst. 

Mittwoch, 28. Mai 2025

Notiz zur Zeit (250)

Freispruch im dritten Anlauf. Ich hadere nicht mit dem Oberlandesgericht. Ich hadere nicht einmal mit Kurz. Ich hadere mit den Leuten, die dieses dreiste Ekel damals wählten. Und ihm immer noch die Stange halten.

Indem das jetzt im Oberwasser sein Schauschwimmen vollführt, versucht es vergessen zu machen, dass noch andere Verfahren anhängig sind, mit erheblicheren Anklagen und empfindlicheren Strafen.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, welches Übermaß an Schamlosigkeit, Eigennützigkeit, Bedenkenlosigkeit den Schmierlapp kennzeichnet, sein Umgang mit der Justiz zeigt ihn hieb- und stichfest als den peinlichen Egomanen, der er ist.

Warum wählen die Leute Soziopathen, die versprechen, die Armen ärmer und die Reichen (und sich selbst) reicher zu machen? Weil sie, die nicht reich sind, sich mit den Reichen identifizieren? Weil sie so, mit einer Art von Abwehrzauber, den eigenen Abstieg verhindern wollen? Aus Lust am Bösen?

Montag, 26. Mai 2025

Unterwegs (23)

Am Nebentisch fragt eine Frau: „Der Gemischte Salat, ist das nur Blattsalat?“ Ich bewundere den Kellner dafür, nicht geantwortet zu haben: „Aber selbstverständlich, signora, wir nennen ihn nur gemischt, weil wir Öl und Essig darangeben.“

Samstag, 24. Mai 2025

Notiz zur Zeit (249)

So geht das nicht! So ein Püppchen der Unterhaltungsindustrie darf doch nicht einfach sagen, was es denkt. Und damit auch noch Recht haben.
Alle, vom Bundespräsidenten abwärts, waren darum sofort zu Ordnungsrufen bereit.
Und das Püppchen gab zu, im Unrecht zu sein.
Uff, fast hätte man auf die Idee kommen können, in Österreich dürfe irgendwer, und sei es ein jüngst umjubeltes Produkt des gezielt unpolitischen Bespaßungsgewerbes, Israel kritisieren und Völkermord verurteilen. Nein, das darf selbstverständlich niemand. Es geht schließlich um „Musik“, nicht um Wahrheit, Anstand, Menschlichkeit.

Sonntag, 18. Mai 2025

Unterwegs (22)

Im Drogeriemarkt. Ich meinte, im Nachbargang in einiger Entfernung einen alten Mann zu hören, der seiner Begleitung irgendetwas erzählte. Nähergekommen erwies sich der alte Mann aber als uralte Frau, die in ein unendliches, unverständliches, tief gemurmeldtes Selbstgespräch eingesponnen war. Ein paar Schritte entfernt sang inzwischen eine junge Frau vor sich hin. Nun, was hätte ich da tun sollen? Um auch etwas zum Wahnsinn beizutragen, fing ich an, Gedichte zu rezitieren: Es war einst ein König in Thule, gar treu bis an das Grab, dem sterbend seine Buhle einen goldnen Becher gab usw.

Unterwegs (21)

Im Kaffeehaus. Etwa 90 Prozent des Lärms gehen meiner Einschätzung nach auf schnatternde, zwitschernde, gackernde, gurrende, tirilierende, krächzende, kollernde Frauen zurück. Und einen schrillen jungen Mann (von jenseits des Weißwursteräquators), der seinem unscheinbaren und unhörbaren Verlobten und irgendwelchen sprachlosen Bekannten oder Verwandten allerhand zu erzählen hat.

Samstag, 17. Mai 2025

Leute (29)

Es mag ja sein, dass X., wie man mir vorschwärmt, druckreif spricht. Mein Problem ist eher, dass er noch nie etwas Relevantes zu sagen hatte.

Freitag, 16. Mai 2025

Kein Krieg „bricht aus“

Ich ärgere mich immer, wenn vom Ausbruch eines Krieges die Rede ist. Kriege brechen nicht aus wie Vulkane, sie sind keine Naturereignisse, sondern sie werden von Menschen gemacht, die das auch lassen könnten. Oft werden sie geplant und also mit Vorbedacht begonnen. Man kann meinetwegen von Kriegsbeginn sprechen, aber Kriegsausbruch ist, trotz dem passenden Mitklang von Gewaltsamkeit, ein unpassendes, ein dummes Wort. Man sollte sich bewusst dagegen entscheiden.

Dienstag, 13. Mai 2025

„Kultur“ im postkulturellen Zeitalter

Ja ja, stimmt schon, man sollte den „Spiegel“ nicht lesen. Aber irgendwie geriet ich an die Onlineversion, als ich mal eben rasch im Netz die Schlagzeilen des heutigen Tages überfliegen wollte. Und dann wunderte ich mich doch, dass da nichts aus dem Bereich zu finden war, den man früher einem Feuilleton zugeordnet hätte. Ich suchte ― und fand die Rubrik „Kultur“ und darin folgende aktuelle Schlagzeilen:
„Schlechte Quoten: RTL beendet Raab-Show ‘Du gewinnst hier nicht die Million“;
„Urteil in Frankreich: Schauspieler Gérard Depardieu wegen sexueller Gewalt schuldig gesprochen“;
„Protestschreiben gegen Intendanten: Neue Vorwürfe gegen Hamburger Ballettchef Demis Volpi“;
„Neue Streamingserie: Jude Law und Andrew Garfield spielen ‘Siefgried & Roy’“;
„’Aus Gründen des Anstands’: Filmfestival von Cannes verbietet zu viel nackte Haut auf rotem Teppich“;
„Prozessauftakt in New York: Zeuge spricht über Sean Combs ‘teuflischen Blick’“.
Nennt mich erzkonservativ und vorvorgestrig, aber wenn das „Kultur“ ist, dann will ich nicht wissen, was Unterhaltungskommerz, Publikumsverarschung und Lüsternheitsökonomie ist.

Sonntag, 11. Mai 2025

Was verböte ein AfD-Verbot?

Ohne jeden Zweifel, die AfD ist widerwärtig und gefährlich. So etwas wie diese Partei für moralisch Zurückgebliebene gehört verboten. Man kann das auch im Politvokabular der Herrschenden formulieren: Die AfD ist gesichert rechtsextremistisch.
Aber gesetzt selbst, es gelänge, die Quasinazitruppe vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen, was wäre damit erreicht? Die AfD wäre nicht mehr wählbar und verunzierte nicht mehr die Parlamente. (Vielleicht auch nicht mehr die Talkshows, weil sie ja dann keine Macht mehr darstellte)
Aber das änderte nichts daran, dass Millionen Wahberechtigter die AfD gewählt haben und es, ohne Verbit wieder tun würden. Ein Parteverbot änderte also nichts an der Bereitschaft gesichert Rechtsextremen oder, wie ich sagen würde: Naioiden, die Stimme zu geben. Ein Verbot änderte nichts an Nationalismus, Rassismus, Klassismus.
Im Gegenteil, was jetzt in der AfD gleichsam kristallisiert ist, hätte dann wieder gute Chancen in anderen Parteien, die ja auch nationalistsche, rassistische, klassistische Anteile haben, noch stärker zu werden.
Oder glaubt jemand daran, dass, um ein paat Beispiele zu nennen, ein AfD-Verbot den Klassenkampf von oben beendete? Die Ausländer-raus-Phantasien über Zurückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen? Den Hass der Neoliberalen auf notwendige ökologisch durchdachte Mapßnahmen, die sie nicht zur Profitsteigerung missbrauchen können? 
Das wird nicht passieren. darum wäre ein Verbot der AfD zwar theoretisch richtig. Faktisch aber müsste man die AfD-Wäjlerinnen und Wähler verbieten. Und alle, die ihnen nach dem Munde stinken.

Notiz zur Zeit (248)

Die hohe Zeit der Dummschwätzer und Möchtegernbescheidwisser (beiderlei Geschlechts). Weil kaum einer von den Kunden etwas vom Thema versteht, kann man über alles, was die Kirche betrifft, irgendwelchen Blödsinn erzählen.
 
Wenn einer sich Leo XIV. nennt, dann hat er ja offensichtlich dreizehn Vorgänger dieses Namens und nicht nur einen. Wer sagt, dass die Namenswahl nur mit dem letzten zu tun hat? 
 
Leo XIII. schrieb übrigens nicht nur Sozialenzykliken (darin er u. a. gegen Sozialismus wetterte), sondern er hatte auch das längste bisherige Pontikfikat und war 68, als er es begann. Warum reden die Deuter der Namenswahl nicht darüber?
 
Schwarze Schuhe oder rote? Auch da will man etwas hineingeheimnisse und dann augurisch lächelnd herauslesen. Als ob die Lederfarbe irgendetwas anderes als ein gewisses Traditionsbewusstsein verriete. Ein Papst ist jedenfalls kein Diskalzeat, aber wenn er Gummistiefel oder Jesuslatschen trüge, wäre auch das seine Sache und kein Politikum.
 
Übrigens kostete die rote Fußbekleidung der Päpste Johannes Pauls II. und Benedikts XIII. weder die Kirchensteuerzahler (beiderlei Geschlechts) noch die Kirchenoberhäupter selbst auch nur einen roten Heller. Es handelte sich nämlich um Geschenke des Schuhmachers Adriano Stefanelli aus Novara. Ein Paar für den Sommer, eines für den Winter. Kein Reklamegag, versteht sich, denn Stefanelli hat genug gute Kunden, sondern ein Akt der Liebe zu Papst und Kirche.

Franz trug bekanntlich seine alten Latschen weiter, weil er fußmarode war und meinte, nur die würden im passen. Wahrscheinlich sind Maßschuhe und Einlagen in Argentinien unbekannt.
 
Aber Franz war ja so bescheiden! Die Päpste vor ihm badeten bekanntlich alle in goldenen Badewannen voller Eselsmilch und frühstückten in Essig aufgelöste Perlen. Ach nein, das war Kleopatra VII. Weil die angeblichen Experten anscheinend nichts über den Lebensstil der Päpste vor Franz wissen, scheinen sie annehmen zu wollen, sie hätten privat irgendwie ein Luxusleben geführt. Das Gegenteil war der Fall.

Franzens Residieren im potthässlichen Gästehaus Santa Marta erzeugte höhere Kosten, als wenn er wie seine Vorgänger im sehr schlichten päpstlichen Appartement im Apostolischen Palast gewohnt und gearbeitet hätte. Aber der Mann hatte weder Geschmack noch Sinn für Tradition noch Verantwortungsbewusstsein. Für Fototermine usw. musste er ja dann ohnehin wieder in den Palast gekarrt werden.
 
Aber er war ja so zugänglich und nah an den Menschen! War er das? Franz ist der einzige Papst, von dem es Filmaufnahmen davon gibt, wie er jemanden schlägt.
 
Die ersten Filmaufnahmen eines Papstes zeigen übrigens Leo XIII.

Samstag, 10. Mai 2025

Also doch: Blei zu Gold

Jahrhundertelang wurde den Menschen eingebläut, dass Alchymisten Dummköpfe und Charlatane gewesen seien, weil sie versucht hätten, aus unedlen Metallen edle herzustellen, was gar nicht möglich sei, da ein Element nicht zu einem anderen werden könne. Nun haben die Naturwissenschaftler sich und ihr Dogmas selnst widerlegt am. Den teilchenphysikalischen Forschern der Organisation européenne pour la recherche nucléaire (CERN) ist es bei ihren sündteuren Herumpfuschereien mit Materie gelungen, aus Blei Gold werden zu lassen. Für sehr kurze Zeit und in ungemein kleiner Menge, aber immerhin.
Die Alchymisten hatten also im Prinzip Recht, ihre Gegner Unrecht. Aber die Gralshüter der modernen Ideologie sind schlechte Verlierer. Denn von Seiten des CERN wird gestänkert: „Der Traum der mittelalterlichen Alchemisten ist zwar technisch gesehen wahr geworden, aber ihre Hoffnungen auf Reichtum haben sich wieder einmal zerschlagen.“
Von „wieder einmal“ kann keine Rede sein, und nur wer von Alchymie keine Ahnung hat, hängt immer noch dem Klischee von der Goldmacherei zur „schnellen“ materiellen Bereicherung an. Nun, Physiker sind keine Historiker und in der Regel auch sonst ungebildete Tröpfe. Aber das können sie sich jetzt in ihre Annalen schreiben: Wir sind widerlegt, die Alchymisten hatten Recht.

Mittwoch, 7. Mai 2025

Scholz heißt jetzt Merz

So eine bundestägliche Bundeskanzlerwahl ist ein schöner Anlass, sich nur mit Nebensächlichkeiten zu befassen, die politische und ökonomische Realität aber zu ignorieren und stattdessen so zu tun, als gäbe es nichts Wichtigeres als einen selbst („Deutschland“) und die rasend interessante Frage, wer wen wählt und warum nicht.
Zugegeben, es war lustig mitzubekommen, dass Merz im ersten Wahlgang scheiterte. Das war das Mindeste, was er und seine Kumpane verdienten. Von irgendeiner politischen Relevanz ist es allerdings nicht. Eine schlechte Regierung wird nicht besser, wenn bei ihrer Installierung alles glatt geht. Und umgekehrt; wenn ein Wunder geschähe und diese Regierung entgegen ihrem Sinn und Zweck keine neoliberale Politik vorantriebe, wäre es auch egal, wie holprig ihr Häuptling damals ins Amt kam.
Überhaupt nicht lustig hingegen war es, sich dem Tefaujournalismus auszusetzen. Weil die Herrschaften von Union und SPD wohl mit Wichtigerem befasst waren, holte man ― ich geriet zum Glück nur zufällig, kurz und beiläufig an solche Sendungsschnipsel und weiß also eigentlich nicht, wie repräsentativ sie wirklich waren ― AfD-Zombies vor Kameras und Mikrofone. Mit anderen Worten: Man bot gerade denen eine Bühne, von deren Partei man gestern und vorgestern noch sehr ausführlich berichtet hatte, der Verfassungsschutz schätze sie als „gesichert rechtsextrem“ ein. Wie denn nun? Öffentlich-rechtliche Verpflichtung auf freiheitlich-demokratische Grundordnung oder zwanglose Plaudereien mit Nazis?
Dass man den Unterhaltungs- oder doch Erregungswert des rechten Gesindels zu schätzen weiß, hat man über viele Jahre durch Talkshow-Einladungen und anderen Mist bis zum Überdruss bewiesen. Dass das die Nazitruppe überhaupt erst groß und scheinbar „normal“ gemacht hat, darf man vermuten. Wer kennte denn Weidel und Konsorten überhaupt, wenn deren widerwärtigen Visagen nicht dauernd über Bildschirme flimmerten und in gebührenfinanzierten Formaten ihren widerwärtigen, dummen und bösartigen Müll in die Köpfe der Leute stopfen dürften? ― Und das soll jetzt trotz „gesichert rechtsextrem“ so weitergehen?
Dass Merz schließlich doch noch zum Bundeskanzler gewählt wurde, ist erschreckenderweise beruhigend. Aber nur, weil weiterer Herumwählerei zuzuschauen (und dazu die substanzlose Berichterstattung aufgedrängt zu bekommen), und das womöglich tage- und wochenlang, schlechterdings unerträglich gewesen wäre. Freilich, wer deutscher Bundeskanzler ist, ist ähnlich bedeutsam wie die Zahl der in Schanghai umfallenden Reissäcke. Die Politik, für die so jemand stehen darf, ist schon gemacht. Details mögen variieren. Besser wird nichts. Und weniges deshalb schlechter, weil der Frontmann Merz und nicht April oder Dezember heißt.
Merzens und eines jeden anderen Kanzlers Macht ist durch seine Bereitschaft begrenzt, sich der Macht der Lobbys und Konzerne zu unterwerfen. Aber darüber zu reden und über den beschissenen Zustand der Welt, statt über Formalien der Geschäftsordnung, wäre ja laaangweilig.

Krieg und die Unmoral der Neutralität

Wenn irgendwo auf der Welt irgendwer gegen irgendwen Krieg führt, dann geht mich das etwas an, dann betrifft das auch mich, dann hat das auch mit mir zu tun, dann ist das auch ein Krieg gegen mich. So wie niemand wirklich frei ist, wenn nicht alle frei sind, so lebt auch niemand in Frieden, wenn nicht jeder in Frieden leben darf.
Zugegeben, das scheint eine völlig abstrakte Haltung zu sein. Denn eine Sache ist es, dem Krieg unmittelbar ausgesetzt zu sein; eine andere, sich vom Schreibtisch aus über ihn zu empören, ihn zu beklagen, ihn zu verwerfen. Eines ist es, beschossen und bombardiert zu werden und Stunden in Luftschutzkellern verbringen zu müssen, fliehen zu müssen und allerhand Einschränkungen und Entbehrungen erfahren zu müssen; ein anderes, eigentlich nichts zu entbehren und im Gegenteil die Muße zu haben, darüber nachzudenken, zu sprechen, zu schreiben. Eines ist es, Angehörige und Freunde zu verlieren, Hab und Gut zu verlieren und eine gesicherte Zukunft; ein anderes irgendwo in Sicherheit und Bequemlichkeit darüber zu hören, zu lesen und Bilder zusehen.
Trotzdem, ich kann nicht anders. Ich bin gegen den Krieg, gegen jeden, aber wenn er nun einmal stattfindet, kann ich nicht neutral sein, ich muss Partei ergreifen, für die Opfer sowieso und jedenfalls für die Angegriffenen und Verteidiger gegen den Aggressor und seine expliziten und impliziten Komplizen und Propagandisten. Das scheint mir ethisch geboten (und nicht nur gefühlsmäßig erforderlich), wenn ich es denn ernst nehme, dass jeder meiner Mitmenschen dasselbe Recht auf Leben und Wohlergehen hat wie; zumal wenn er sich nichts anderes „zu Schulden“ hat kommen lassen als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Ich gehöre nicht zu denen, die mit Erleichterung und sogar einer gewissen Selbstzufriedenheit sagen können: Das ist deren Krieg, uns geht das zum Glück nichts an. Es geht mich sehr wohl etwas an, weil mich ein solches Wir der Verschonten, Herausgehaltenen, scheinbar Unbeteiligten nicht interessiert; ich verachte es sogar. Wenn das Haus meines Nachbarn brennt usw. Und selbst wenn es der Nachbar in einer anderen Stadt und einem anderen Land lebt. Der Brand muss gelöscht und weitere Brände müssen verhindert werden. Punkt.
Es gibt Staaten, die erklären sich für neutral, und viele ihrer Untertanen haben das längst in ihr komfortables Selbstverständnis integriert. Doch sagen wir so: Belgien war auch neutral und wurde in zwei Weltkriegen von den Deutschen überrannt und besetzt. Die Schweiz ist traditionell neutral, was sie noch nie gehindert hat, an Kriegen zu profitieren. Österreichs Neutralität war immer ein Witz. Rundum von NATO-Staaten (und der Schweiz und Liechtenstein) umgeben, die seine Sicherheit de facto garantieren (und die Neutralität bei Bedarf missachten), verstand es sich zu Ostblockzeiten immer als westlich und kann seit dreißig Jahren als Teil des unierten Europas gar nicht anders, als dessen Bedrohtheit zu teilen, egal, wie vielfältig die ökonomischen Interesse auch mit dem östlichen Aggressor verbandelt sein mögen.
Ein moralisches Individuum kann ohnehin nicht neutral sein. Und will das auch nicht. Es muss und will Unrecht als Unrecht benennen und das tun, wozu es Gelegenheit und Möglichkeit hat, Unrecht abzustellen. Sonst handelt es selbst falsch und ist Teil dessen, wogegen es zu sein hätte.
Die wirksamen Möglichkeiten mögen für die meisten Menschen gering sein und die Umstände oft ungünstig. Das ändert nichts an der Verpflichtung. Unerlaubt ist es jedenfalls, sich zu freuen, dass es einem selbst nicht so schlecht ergeht wie anderen, wenn man eigentlich mit diesen anderen solidarisch zu sein und irgendetwas zu tun hätte, um ihnen zu helfen.

Montag, 5. Mai 2025

Lüge oder Ehrlichkeit

Nicht der ist ein Lügner, der die Unwahrheit sagt, sondern der, der sie sagen will oder dem es gleichgültig ist, ob das, was er sagt, wahr ist oder unwahr. Denn der Lügner ebenso wie der Ehrliche kann sich irren. Während dieser aber ehrlich ist, auch wenn er Unwahres sagt, ist jener auch dann ein Lügner, wenn er Wahres sagt, es aber für Unwahres hält (oder es ihm egal ist, ob es Wahres oder Unwahres ist.
Ein Beispiel. Einer wird nach dem Weg gefragt. Er gibt redlich Auskunft: dort entlang, dann rechts, dann links. Doch er irrt sich, der Weg führt erst links dann rechts. Weil er im Irrtum war, aber nicht in die Irre schicken wollte, sondern es unwissentlich tat, hat nicht gelogen, obwohl er Unwahres gesagt hat. Ein anderer, der nach dem Weg gefragt wird, will aus Bosheit falsche Auskunft geben, ist aber fälschlich der Meinung, die richtige Antwort laute: erst rechts, dann links, und sagt darum: erst links, dann rechts. Obwohl er also die Wahrheit gesagt hat, hat er doch gelogen. 
Lüge und Ehrlichkeit haben keinen außermoralischen Sinn, es sind ausschließlich moralische Begriffe. Wahrheit und Unwahrheit sind im Unterschied dazu epistemologische oder ontologische Begriffe. Der Unterschied ist bedeutend. Ein Lügner kann Wahres sagen, wie gezeigt wurde, und ein Ehrlicher Unwahres; worauf es ethisch betrachtet ankommt, sind nicht die Sachverhalte, sondern das Verhältnis von Sagen, Sagenwollen und Wissen.
Ehrlichkeit ist der Wille zur Wahrheit. Wer den nicht hat, der lügt. Darum lügt auch der, den der Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit, von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit gleichgültig lässt.
Es gibt Lügner, die gar nicht mehr wissen, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht, weil sie so oft gelogen haben, dass ihnen die Fähigkeit zur Aufrichtigkeit abhanden gekommen ist. Sie vermögen sich selbst so nachhaltig zu belügen, dass sie sogar glauben können, sie seien ehrlich, wenn sie eigentlich wissen, dass sie lügen.
Wer spricht, ohne damit den Anspruch auf Wahrhaftigkeit zu verbinden, missbraucht die Sprache; wenn hier einmal von Spaß, Ironie, theatralischer Rede usw. abgesehen darf. Sprache als Sprechen von jemandem zu jemandem ist wesentlich wahre Rede, soll und will es sein. Das wissentliche und absichtsvolle Sagen von Unwahrem untergräbt die Voraussetzungen von Kommunikation und damit das menschliche Miteinander überhaupt.
Die Gleichgültigkeit demgegenüber, ob das, was man sagt, wahr ist, ist böse. Darum ist sie von jeher Kennzeichen nicht nur individueller Immoralität, sondern auch von Herrschaft. Gesagtes ist dabei Mittel zum Zweck, ob es wahr oder unwahr ist, spielt keine Rolle, entscheidend ist die Wirkung. Wenn es der Durchsetzung und Erhaltung von Herrschaft dient, ist es zweckmäßig, also „gerechtfertigt“: der Führer, die Partei, Karl Marx usw. hat immer Recht, auch wenn das, was heute gesagt wird, dem widerspricht, was gestern gesagt wurde. Gerade diese Unsicherheit, ob das, was heute unbedingt (und unter Strafandrohung) als wahr zu gelten hat, auch morgen noch wahr sein darf, gehört zu den Herrschaftsmitteln. Nicht der Untertan ist im Besitz der Wahrheit, sondern die Herrschenden, sie verfügen darüber nach Belieben, sie erfinden neue Wahrheiten und löschen alte aus, niemand kann sich auf etwas Wahres berufen, das nicht erlaubt ist, alles kann auch ganz anders sein, nur das bleibt gleich: Dass darüber, was wahr ist, die Obrigkeit bestimmt.
Lüge ist in jedem Fall Beitrag zu Herrschaft, nämlich „mindestens“ zur Herrschaft der Sünde. (Die Grundlage und Folge aller Herrschaft von Menschen über Menschen ist.) Wer lügt, kündigt dem, den er belügt, die Mitmenschlichkeit auf, er setzt dessen Recht auf Wahrheit außer Kraft oder verletzt es, er ignoriert die Würde des anderen und verweigert ihm die Ebenbürtigkeit. Geht das über individuelles Fehlverhalten hinaus und verfestigt sich zu gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen das Sagen von Unwahrem „normal“ ist und erwartet wird oder sogar erzwungen ― Reklame, Politik, Szientismus ―, dann ist Lüge systemrelevant geworden. Ein auf Sünde gegründetes System aber ist durch und durch böse und muss vernichtet werden.

Sonntag, 4. Mai 2025

Wärme und Kälte oderTemperatur?

Einer schreibt: „Dass verschiedene Menschen ein und dieselben Person oder Situation unterschiedlich wahrnehmen, ist eine Binsenweisheit. Das gilt, um ein Beispiel zu nennen, auch für die beiden Patienten, die kurz nacheinander in meine Praxis kamen. Der erste setzte sich, angezogen mit einem Pullover, in den Sessel, stand wieder auf, holte seine Lederjacke vom Garderobenständer und sagte: ‘Hier ist es mir zu kalt.’ Der zweite kam in einem T-Shirt, darüber ein leichtes Blouson, und antwortete auf meine Frage, ob es ihm hier nicht zu kalt sei: ‘Nein, es ist warm genug.’ / Beide sprachen eine objektiv identische Situation an, die sie subjektiv ― offenbar sehr verschieden ― erlebten.“
Damit scheint gemeint zu sein, dass die Raumtemperatur eine objektive Tatsache ist ― immerhin ist sie mittels eines Thermometers messbar und in Grad Celsius (oder Fahrenheit oder Réaumur usw.) angebbar ―, während das Empfinden von Wärme oder Kälte etwas Subjektives und, wenn schon nicht Willkürliches, so doch eher Zufälliges, von unbestimmten Faktoren Abhängiges sei.
Diese Sicht der Dinge ist eine erlernte und keineswegs selbstverständliche. Man könnte auch umgekehrt in der Thermometer-Temperatur ein von Subjekten konstruiertes Artefakt sehen, mit dem zwar irgendwie eine Realität dargestellt werden soll, das aber vor allem eine eigene Realität zu konstituieren hilft; während es sich bei der jeweils wahrgenommen Wärme oder Kälte um eine reale Erfahrung handelt, die kommuniziert und in Beziehung zu den Erfahrungen anderer gesetzt werden kann.
Die Menschen der Moderne haben gelernt, ihre Empfindungen an den Vorgaben der Messinstrumente, genauer gesagt: an der Interpretation der Messwerte auszurichten. Wenn es 30 Grad hat, muss einem heiß sein, wenn es Minusgrade hat, muss man frieren. Als es noch keine Thermometer gab oder diese nicht verbreitet waren, kam man allerdings auch zurecht.
Anders gesagt: Die Vorstellung, dass es eine objektive Temperatur gibt, die messbar ist und die nicht von subjektivem Empfinden abhängt, ist eine Idee, die nur Subjekte haben. In einer subjektlosen Welt aus lauter Objekten (wenn es eine solche gäbe und geben könnte) käme derlei nicht vor.
Wenn also Menschen sagen, es sei ihnen warm oder kalt, reagieren sie nicht auf eine objektive Situation, sondern umgekehrt: die thermometrische „Objektivität“ wird von der realen Situation, die von den Menschen erfahren werden kann, abstrahiert und in mathematische Form (Zahlen als Messwerte) gebracht. Aber eine Wärme- oder Kälteerfahrung ist etwas ganz anderes als eine physikalische Temperaturmessung.
Dem physikalistischen Weltbild zu Folge ist Temperatur etwas Objektives, das subjektiv verschieden erlebt wird. Will sagen, etwas hat die und die Temperatur, unabhängig davon, ob das jemandem warm oder kalt vorkommt. Diese Idee ist nicht falsch, aber sie stimmt eben nur innerhalb eines bestimmten Weltbildes (einer Ideologie, könnte man auch sagen). Begreift man hingegen Wirklichkeit als etwas Gegebenes, dann muss man bedenken, dass es nichts Gegebenes geben kann, das nicht jemandem gegeben würde. Um zu verstehen, was das Gegebene ist, muss man die Gegebenheitsweisen berücksichtigen, die zugleich Aufnahmeweisen derer sind, für die etwas als gegeben gilt.
Versteht man die oben zitierte Situation (einem ist kalt, einem ist warm, obwohl das Thermometer vermutlich dieselbe Temperatur zeigt) so, dass eine „identische Objektivität“ (dieselben Messwerte) verschieden gedeutet wird, so verfehlt man das Wesentliche: Jede Deutung ist Deutung durch einen Deutenden; hätten beide darin übereingestimmt, dass es in der Praxis warm oder dass es kalt ist, wäre das keine Bestätigung der „Objektivität“ gewesen, sondern eine zufällige Gleichheit von Empfindungen, die wie auch immer zu Stande kam.
Hat denn nun der Recht, dem kalt war, oder der, dem warm war? Müsste das nicht, wenn Temperatur etwas Objektives zu sein hat, entscheidbar sein? Oder spricht man nicht in Wahrheit von zwei verschiedenen Arten von Wirklichkeit: Empfinden und Messung?
Eines ist es zu sagen: „Mir ist kalt“, ein anderes: „Hier ist es kalt“. Letzteres besagt ja vermutlich: „Mir ist kalt und jedem anderen muss hier auch kalt sein“. Das Messen der Temperatur erlaubt keinen dieser Sätze. Eine Zahl besagt nichts darüber, wie sie empfunden werden muss.
Insofern haben die beiden Patienten also nicht die objektive Temperatur in der Praxis subjektiv verschieden interpretiert, sondern sie sprachen von ihrer jeweils eigenen, auf ihre Subjektivität bezogenen Objektivität. Sie teilten eine Erfahrung mit, nicht die Deutung eines Messwerts. In ihre Erfahrung geht aber ihre Befindlichkeit und ihre Geschichte ein. Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Empfindlichkeiten.
Dass einer, der Patienten behandelt, dies mit einer verkorksten Metaphysik tut, in der er abstrakte Objektivität mit realer Verwechselt, könnte man bedenklich finden. Aber liegt dieser autoritäre Gestus ― „ich weiß besser als du, was objektiv real und was bloße subjektive Einbildung ist“ ― nicht dem ganzen Psychogeschwätz zu Grunde?

Balken & Splitter (114)

Typisch protestantisch Verlogenheit: Einen „evangelischen Kirchentag“ kann es nicht geben. In den Evangelien steht nämlich nichts von einem Kirchentag.
 
In der BRD wird gerade eine miese Regierung durch eine noch mieser ersetzt. Soll noch einer sagen, Wahlen könnten nichts verändern.
 
Die künftige schwarzrote Regierung will den Achtstundentag, der 1918 eingeführt worden war, abschaffen. Wer wählt nur immer diese Leute?
 
Das ewige Lied der Sozialdemokraten: Wir würden ja, aber man lässt uns nicht. Aber wird sind immerhin das kleinere Übel. Man könnte freilich auch sagen: Sie sind das hinreichende Übel, das das Fass des großen Übels zum Überlaufen bringt.

Donnerstag, 1. Mai 2025

Unterwegs (20)

Auf meinem Weg zum Mödlinger Bahnhof überholen mich zwei weibliche Jugendliche. Die eine schwatzt gerade aufgeregt etwas von einer „Banane, die zum Tischört" wurde (wenn ich richtig gehört habe), die andere antwortet mit einem spitzen Gekreisch: „Oh, Gott!“ Der Satiriker, der ich ja auch bin, reagiert darauf unwillkürlich mit spitzem Gekreisch: „Oh, Gott!“ Gerade in diesem Augenblick überholen mich ein Mann und eine Frau, vielleicht die Eltern wenigstens eines der Mädchen, scheinen zu meinen, ich hätte gegrüßt, und grüßen verwirrt zurück: „Grüß Gott!“

Dienstag, 29. April 2025

Vermutungen über Groll

Sie hatten sich eingerichtet, sie waren zurechtgekommen, sie hatten mitgemacht.
Sie hatten getan, was von ihnen verlangt worden war. Was alle getan hatten.
Man kann nicht einmal sagen, sie hätten sich abgefunden, denn es gab nichts, womit sie sich hätten abfinden müssen. Es schienen ihnen alles selbstverständlich. Es war, wie es war. Man musste das Beste daraus machen.
Und dann sagte man ihnen plötzlich, das sei falsch gewesen. Sie hätten sich falsch verhalten. Sie hätten besser nicht mitgemacht. Sie hätten sich besser nicht eingerichtet, nicht angepasst.
Die, auf die sie früher gehört hatten, seien die Falschen gewesen. Keine guten. sondern Verbrecher.
Ihre mickrigen Leben, mit denen sie ganz zufrieden waren, ja auf die sie sogar ein bisschen stolz waren, seien unter völlig falschen Voraussetzungen gelebt worden und darum nichts mehr wert.
Und plötzlich nutzte ihnen ihre Angepasstheit nichts. War ihnen sogar im Wege. Sie mussten umlernen. Eine neue Angepasstheit musste her. Aber das war gar nicht so einfach. Sie sollten anderes glauben und anders handeln, aber sie fühlten noch wie bisher. Sie hatten sich wohlgefühlt. Wieso war das jetzt etwas Schlechtes?
Die im Westen hatten einfach Glück. Die brauchten nicht umzulernen. Sie konnten bei ihrer vertrauten Angepasstheit bleiben. Ihre Erfahrungen, ihre Überzeugungen, ihre Wünsche galten weiterhin. Ihr Verhalten behielt seinen Wert.
Dabei hatten die sich den Kapitalismus so wenig ausgesucht wie die im Osten den Sozialismus. Er war ihnen passiert. Sie hatten sich damit identifiziert, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und nicht Besseres einfiel.
Im Westen wie im Osten war es dasselbe: Die Geschichte hatte ein System über sie verhängt, das war alles. Wurde ein System durch ein anderes ersetzt, hatte man Pech gehabt. Dann wurde man zum Verlierer. Eben noch hatte man alles richtig gemacht, und dann war plötzlich alles falsch.
Das war nicht nur eine Kränkung des Selbstwertgefühls, auch eine des Zugehörigkeitsgefühls. Wir waren wir. Jetzt sollen wir niemand mehr sein? Warum also nicht allem zum Trotz bleiben, wer man war?
Was gewesen war, war gewesen, und ob das Neue wirkliche besser war? Es war einem doch gut gegangen. Man hatte sich ausgekannt. Nun war alles anders. Nichts stimmte mehr. Daran waren andere schuld, man selbst hatte schließlich nichts getan, um alles durcheinander zu bringen. Man man selbst hätte ewig so weitermachen können wie früher.
Wie es heute ist, ist schwer zu ertragen. Man müsste irgendwem die Rechnung präsentieren können. Der Zahltag muss kommen.

Montag, 28. April 2025

Sonntag, 27. April 2025

Notiz zur Zeit (247)

Ein toter Papst ist ein guter Papst: Dass darf man daraus schließen, dass die Lobeshymnen auf den jüngst verschiedenen Pontifex geradezu überschnappen. Während zu seinen Lebzeiten keine Rede davon sein konnte, dass Politiker auf ihn gehört oder Gläubige seinewegen die Kirchen gefüllt hätten, wird jetzt pber ihn geradezu Phantastisches erzählt. Nahbar sei er gewesem von großer Einfachheit, ein Freund der Armen und des Friedens.
Ach ja, wer erinnert sich nicht, wie unterm Pontifikat vom Franzl  der Welthunger und die Weltarmut beseitigt wurden und alle Kriege endeten!
Im Ernst: es mag ja sein, dass der Papst schöne Dinge gesagt hat, richtige und wichtige sogar, aber was hat er eigentlich getan? Was bewirkt? Da sieht es doch recht mager aus. Außer einem Herumfuhrwerken an internen Strukturen (die lächerliche Umbenennung fast aller kurialen Institutionen in Dikasterien zum Beispiel) und fragwürdigen Personalentscheidungen gibt es da wenig.
Ein entschiedenes Eintreten für  die unverzerrte Lehre der Kirche: Fehlanzeige. Das Anstellen liturgischer Wildwüchse und ein Rückkehr zu guten Trditionen: Fehlanzeige. Zurückweisung der Machtansprüche von Frauen und Laien und Hervorhebung des Wertes der weihepriesterlichen Hierarchie: Fehlanzeige. Stattdessen hockte in dem hässlichen Gästehaus Santa Marta und erweckte den Eindruck, als brauche die katholische Kirche Reformen (um endlich prorestantisch zu werden), aber er sei zu dumm oder zu schwach, um sie mit Schwung einzuführen, weshalb er es wdersprüchlich ungeschickt und tröpfchenweise tat.
Und politisch? Große Themen, große Worte, mäßiges Medienecho und null Effekt. Nicht, dass einem Papst große Machtmittel zur Verfügung ständen. Und die wenigen, die er hat, das ist klar, muss er vorsichtg einsetzen, um nicht blank darzustehen und die Gläubigen nicht schutzlos repressiven Reaktionen auszusetzen. Aber man kann nicht gleichzeitig das soziale und ökologische Unrecht des Kapitalismus kritisieren und dann mit Politikern plaudern, die genau dieses Unrecht forcieren. Da solche Begegnungen bloß symbolischen Charakter haben (Bildchen fürs Internet) und den Politikern wurscht ist, was der Papst dabei redet, könnte man derlei auch ersatzlos streichen. 
Und weshalb nicht scharf Stellung beziehen vor demokratischen Wahlen? Katholiken mit guten Gründen verbieten, den Ehebrecher, Lügner, Betrüger und Verfolger der Armen Donald Trump zu wählen? Die Kiche habe sich in Politik nicht einzumischen? Dann ist sie wertlos. Gebt dem Kaiser, was des Kasers ist, meinetwegen, aber Gott zu geben, was Gottes ist, muss, wenn es einem damit ernst ist, auch bedeuten, politische Entscheidungen am Willen Gottes zu messen. 
Kurzum, ich habe von diesem Papst nie viel gehalten. Zu unintelligent und ungebildet, zu willkürlich und unbedacht schien er mir, dazu diese grässliche Sprache (durch kolonialspanischen Akzent gelähmtes Italienisch), diese aufgesetzte Bescheidenheit, dieses mangelnde Sensibilität gegenüber Traditionellem und Schönem, dieses dämliche Grinsen und die unterschwellige Aggressivität - alles nicht mein Fall. Musste es ja auch nicht sein. Um solchen Hierarchen nicht zu unterstehen, habe ich mich ja schon vor Jahrzehnten abkoppelt von dieser Kirche, die sich nicht ernst nimmt und die man in weiten Teilen (und eben in diesem Fall an der Spitze) nicht ernst nehmen kann. 
Franz war ein Symptom für vieles, woran der mystische Leib Christi krankt. Anpassung an den Zeitgeist wird keine Heilung bringen, sie ist vielmehr die Ursache. Möge der nächste Bischof von Rom zur Lösung gehören, nicht zum Problem.

Mittwoch, 23. April 2025

Aufgeschnappt (bei Rainer Maria Rilke)

Aber wie das Geld in die Welt gekommen ist und was es will, kann ich nicht verstehen und bin diesem Kampfe nicht gewachsen.

Dienstag, 22. April 2025

Literatur als Gesellschaftskritik, was sonst?

Ich könnte nie mit der Motivation von Gesellschaftskritik ein Buch schreiben. Gesellschaftskritik, das ist viel zu dürr und trocken und eindimensional. Und irgendwie zu dumm. (A. Krauß)
Außer diesen Sätzen, die mir irgendwie aus den Nebeln des Internets zufielen, habe ich nichts von Frau K. gelesen, und das wird hoffentlich auch so bleiben. Von solchen dämlichen Autorinnen möchte ich nämlich eigentlich nicht einmal wissen, dass sie existieren. Leider interessiere ich mich aber für Literatur, und obwohl ich von meinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nichts halte und mich bemühe, deren literarische Produktion weitgehend zu ignorieren, rutscht in meinem bescheidenen einschlägigen Medienkomsum ab und zu solcher Quatsch doch durch und verschmutzt meine Wahrnehmung. Um die Intoxikation durch derlei übermäßige Unintelligenz loszuwerden, muss ich jetzt ein wenig dagegen anschreiben.
Ich sag mal so: Wer nicht vorhat, ein Buch zu schreiben, um die Gesellschaft, in der er sich befindet, zu kritisieren, sollte bitte überhaupt nicht schreiben. Da kommt dann sonst nur das übliche Unterhaltungs-, Entspannungs- und Ablenkungszeug heraus, das das Feld beherrscht und die Kanäle verstopft.
Wer hingegen Literatur als Kunst auffasst, setzt sie notwendigerweise gegen das, was ist. Dazu muss er gar nicht wissen, dass das tatsächlich Gesellschaftskritik ist. Freilich, wer darüber mittels geeigneter Begriffe nachdächte, käme darauf. Und auch kundigen Leser und Leserinnen sollte es eigentlich aufgefallen sein. Denn was wären, um nur ein fast willkürliches Dutzend wichtiger Werke der Neuzeit zu nennen, „Don Quijote“ oder „Tristram Shandy“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder „Ulysses“, „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder „Der Prozess“, „Der Zauberberg“ oder „1984“, „Naked Lunch“ oder „Die Strudelhofstiege“, „Archipel GULag“ oder „Petrolio“ ― was also wären alle diese „Bücher“, wenn nicht Gesellschaftskritik? Nämlich (keineswegs dürre, trockene, eindimensionale und dumme) Auseinandersetzungen mit Geschichte und Gegenwart der real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Man kann aber natürlich auch Kochbücher und Krimis oder irgendwas mit Drachen, Vampiren und auf Einhörnen reitenden außerirdischen Feen schreiben und lesen …
Ein Schriftsteller, der seinen Beruf ernst nimmt und nicht bloß einen Job erledigt, schreibt über das, was ist, was nicht sein soll, was sein soll. Wenn er das nun allerdings affirmativ täte, wäre es banal, langweilig und uninteressant. Also schreibt er, um das wenigste zu sagen, explizit oder implizit problematisierend. Bereits das ist, in weitem Sinne, Gesellschaftskritik.
Aber man kann sogar noch tiefer ansetzen: Wer schreibt, erzeugt sprachliche Ereignisse, die mit schon bestehenden sprachlichen Ereignissen korrespondieren. Das ist eine etwas abstrakte Weise zu sagen: Wer Literatur produziert, so originell, innovativ und gegebenenfalls sprachverformend und sprachzertrümmernd er auch vorgehen mag, arbeitet immer mit Sprache, also etwas, das andere schon gestaltet haben, etwas, dessen Regeln und Bedeutungen, wie auch immer er sie erweitert, bricht oder abändert, ihm vorgegeben sind. Arbeit mit und an und durch Sprache aber, die nicht bloß halb bewusstloses Plappern ist, ist unweigerlich Gesellschaftskritik. Weil in der Sprache die expressiven und kommunikativen Verhaltensweisen nachklingen und sich als wiederholbar ankündigen, die nicht weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen als beispielsweise das Herstellen, Verkaufen und Kaufen von Waren. Wer wie spricht (oder eben schreibt und geschrieben wird), gehört ebenso zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wie Einkommensverteilungen, Bildungschancen und Freizeitvergnügen. Sprache zu verwenden bedeutet, sich gesellschaftlich zu betätigen. Sprache bewusst, gestaltend und gegen das bloß Bestehende zu verwenden bedeutet, Gesellschaft zu kritisieren.
Damit wird Literatur nicht zu Gesellschaftskritik umdefiniert oder zu etwas, was sie nicht ist, „nobilitiert“. Sondern es wird hier bloß das Unvermeidliche festgestellt: Es ist unmöglich, ernst zu nehmende Literatur zu produzieren, die nicht in einem für sie charakteristischen Sinn Gesellschaftskritik wäre. Wer das nicht will ― und das sind vermutlich leider viele ―, sollte besser die Griffel von der Feder oder Tastatur lassen. Aber wer schriebe dann den ganzen Dreck, mit dem der Buchhandel die Massen abfüttert?

Montag, 21. April 2025

Polemik gegen eine Rezension

In einer Rezension lese ich diese Sätze (einer Rezensentin über eine Autorin): Sie bekennt sich zu Judith Butlers These: „Im säkularen Recht aktualisiert sich die religiöse Figur göttlicher Autorität in säkularer Gestalt.“ Diese Deutung liegt nicht nur quer zu den politischen Ideen der Aufklärung. Sie liegt auch quer zu deren (wie immer auch unvollkommener) Institutionalisierung in liberalen Verfassungsstaaten.
Das mag sein wie es wolle, die Frage ist aber doch, ob die These (sei sie von Butler oder sonstwem) richtig oder falsch ist. Dass sie die Rezensentin empört, ist hingegen belanglos.
Moderne Moral und modernes Recht gründen gerade nicht in ‚außerweltlichen‘ göttlichen Geboten.
Das hat ja auch niemand gesagt, sondern (in der von der Rezensentin zitiertern Formulierung) geradezu das Gegenteil. Nebenbei bemerkt sind religiöse Gebote niemals „außerweltlich“, sondern immer „innerweltlich“ gegeben und auf „innerweltliches“ Handeln bezogen. Die Säkularisierung des Rechts nun bedeutet gerade den Verlust einer „Gründung“ (Begründung) in göttlichem Gebot. Was seit Menschengedenken selbstverständlich war, dass nämlich außer dem von Menschen gesetzten und von Menschen vereinbarten noch anderes, sogar übergeordnete Recht anerkannt werden müsse, das göttliche oder natürliche Recht, schaffte die neuzeitliche Verweltlichung selbstherrlich ab und setzte den unbedingten Vorrang des von Menschen gemachten Rechts durch, dessen Willkür freilich durch seine angebliche Vernunftnotwendigkeit oder seine Begründetheit durch einen rein imaginären Gesellschaftsvertrag verschleiert wurde.
Sie (moderne Moral und modernes Recht, St. B.) gründen im kollektiven menschlichen Wollen.
Nein, tun sie selbstverständlich nicht. Egal, ob es ein Fürst ist, der Recht setzt, oder demokratisch installierte Institutionen, erst kommt die Setzung, dann das Wollen. Logisch ist es ja auch gar nicht anders möglich: Die Leute könne nicht beschließen, eine Demokratie sein zu wollen, solange sie keine sind. Das „kollektive Wollen“ ist ein Popanz, den interessierte Kreise herumreichen, um der Masse der fremdbestimmten einzureden, sie hätten sich ihre Regierung und das Regiertwerden ja schließlich selbst ausgesucht ― und müssten sich also auch daran halten.
Und sie (Moral und recht, St. B.) sind nicht nur weitere (subtilere) Varianten gesellschaftlichen Zwanges.
Selbstverständlich sind sie genau das. Was denn sonst? Wer hätte es sich den ausgesucht, in einer Demokratie zu leben, in der erstens inkompetente Idioten, weil sie in der Mehrheit sind, inkompetente Idioten wählen, die Politik simulieren; und zweitens, in einem System zu leben, in dem diese Vorspiegelung der „Volksherrschaft“ („kollektives Wollen“) die Herrschaft der wirklich Mächtigen, deren Interesse an Profitmaximierung alles bestimmt, wo nicht unsichtbar, so doch unantastbar macht?
Demokratien sind nicht unbedingt weniger repressiv als Diktaturen, der von ihnen ausgeübte Zwang ist nur subtiler und besser zur Verinnerlichung geeignet. Man muss schon Kröten schlucken, um lächerlichen Diktatoren zu glauben, dass sie weise sind. Der weit verbreitete Glaube, die Stimmenmehrheit erlaube es, über andere zu bestimmen, ist nur eine zivilisierte Form der Anerkennung des Rechts des Stärkeren (das bekanntlich keines ist). Populismus ist ein wesentliches Element des Faschismus. und Demokratie ist nichts anderes als institutionell gezähmter Populismus.
Sie (Moral und Recht, St. B.) sind auch eine Emanzipation von auferlegten Zwängen: Letztlich sollen die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten nur Gesetzen gehorchen müssen, als deren Autoren sie sich selbst verstehen können.
Das ist lächerlich. Das ist die übliche Lüge. Nur umgekehrt wird ein Schuh daraus. Man will die Leute dazu bringen, sich freiwillig den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen, indem man ihnen einredet, sie selbst könnten sie sich ja ausgedacht haben. Ja, sie hätten es im Grunde saogr. Dabei wird klammheimlich vorausgesetzt, dass „die Mitglieder demokratischer Rechtsstaaten“ nur solches Recht sich ausdenken wollen können dürfen, das ohnehin (und zwar ganz ohne ihre Autorschaft) besteht. Wenn einer versuchte (einzeln oder als Kollektiv), Vorschriften zu ignorieren, weil er die Autorschaft derselben zurückweist ― „das will ich nicht“ ―, bekommt er es mit der staatlichen Zwangsgewalt zu tun, die sich kein bisschen dafür interessiert, ob der Delinquent sich als Autor der Gesetze versteht oder nicht, sondern die geltendes Recht durchsetzt. Basta.
Normativ steht die Garantie der Freiheit und Autonomie der Person im Zentrum.
Was für ein Quatsch. Erstens ist wohl „Individuum“ gemeint, denn Person im juristischen Sinne kann beispielsweise auch eine Aktiengesellschaft oder ein Stiftungsvermögen sein. Zweitens geht es beim säkularen Recht des Staates nicht um Freiheit und Autonomie, sondern der Staatszweck ist es, die Reichen reicher werden zu lassen und alle anderen in Schach zu halten. Dass sie frei und autonom wären, redet man den Leuten lediglich ein. Niemand aber ist frei, wenn er im Kapitalismus leben und seinen Unterhalt durch Einspeisung seiner Arbeitskraft in ein System der Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung erlangen muss. Ja, es gib Abstufung der Repression, es gibt Unterschiede der Gängelung, Bevormundung, Unterdrückung. Käfighaltung und Freilandhaltung sind nicht dasselbe. Aber im Supermarkt zwischen mehreren Dutzend von der Lebensmittelindustrie zusammengebrauten Yoghurtsorten wählen zu müssen (für Besserverdiener: zwischen den urigen Anbieterinnen auf dem Bauernmarkt zu flanieren), ist keine Freiheit. Es ist Konsumvertrottelung. Toleranz ist gut fürs Geschäft. Wenn die Leute sich wegen ihrer Überzeugungen und Vorlieben die Köpfe einschlagen, produzieren und konsumieren sie nicht so fleißig, wie wenn ihnen die Lebensweisen ihrer Mitmenschen ziemlich egal (oder eine ablenkende virtuelle Aufregung) und für sie nur bestimmend ist, was einflussreiche Vorbilder besitzen und verkörpern. Warum sonst wären die Konsumentscheidungen der Leute einander im Prinzip (je nach Milieus und Potenzial) so verdammt ähnlich? Weil im Grunde jeder dasselbe will? Oder nicht deshalb, weil die Autonomie bloßer Schein und die Steuerung des Begehrens, Wünschens und Wollens die tatsächliche Realität ist? Weil sie meistens nicht mit Schlägen, Tritten und Einkerkerungen arbeitet, ist die Entfremdung und Entmächtigung in den liberalen Konsumgesellschaften doch nicht weniger effektiv als in offenen Diktaturen (sogar effizienter).
Dieser Freiheit sind durch gleiche Freiheitsrechte aller anderen, durch Folgenverantwortung und durch die in modernen Wohlfahrtsstaaten auferlegten Pflichten zu Solidarität und Gemeinwohlorientierung Grenzen gezogen.
Meine Güte, als ob prämoderne Gesellschaften nicht wesentlich stärker von gemeinschaftlicher Fürsorge geprägt gewesen wären als die anonymen, von beziehungslosem Nebeneinander durchdrungen Lebensweisen in der Moderne! Der moderne Wohlfahrtsstaat ist ja bloß der bürokratische Ersatz für die durch Säkularisierung zerstörte Gemeinschaftlichkeit, Fürsorglichkeit und „Solidarität“. Und wenn es tatsächlich ums Gemeinwohl ginge und nicht um Ausbeutung und asoziale Bereicherung, dürfte die Politik in kapitalistischen Gesellschaften nicht so aussehen, wie sie nun einmal aussieht.
Das liberale Dogma zudem, nach dem meine Freiheit durch die der anderen (und deren legitime Ansprüche) eingeschränkt wird, ist völliger Blödsinn. Deine Freiheit bedingt meine und meine deine, Freiheit ist Ermöglichung und schränkt nicht ein. Freiheit ist ein gesellschaftliches Verhältnis und kein individueller Status. Diese Schrebergärtnerperspektive soll die Leute nur vom Begreifen von Zusammenhängen abhalten. Deren wichtigster ist: Die Freiheit eines jeden ist die Bedingung auch meiner Freiheit.
Ich habe das zur Rede stehende Buch noch nicht gelesen und kann trotzdem sehen, dass die zitierte Besprechung ideologischer Blödsinn ist. Daraus folgt übrigens nicht, dass das Buch das nicht ist.Aber anscheinend verteigt ist, im Unterschied zur Rezension, nicht den kapitalistisch-liberalistischen status quo.

Leute (28)

Mein Studienkollege X. war Alkoholiker. Einige Male gelang es ihm, der irgendwie einen Narren an mir gefressen hatte, meine Gutmütigkeit und mein Verantwortungsbewusstsein auszunützen und sich nach irgendeinem studentischen Treffen sturzbetrunken von mir, der ich wohl auch nicht mehr völlig nüchtern war, zu ihm nach Hause bringen zu lassen. Bei einer dieser (zum Glück seltenen9 Gelegenheiten nötigte er mich, noch eine Weile zu bleiben, und holte dann unvermittelt oben vom Schrank eine Schachtel herunter und stellte sie vor mich auf den Tisch. Darin war ein Dildo. Nun erzählte mir X. unaufgefordert von seiner Vorliebe für Analsex und dass es nicht einfach sei, Frauen dazu zu bekommen, ihm, wie er es nenne, „ein Zäpfchen zu geben“. Er habe auch schon versucht, sich von einem Mann ficken zu lassen, aber da er nun einmal nur auf Frauen stehe, sei das nicht das Richtige gewesen. Das wollte ich alles gar nicht wissen und sah dann zu, dass ich bald wegkam. Bis heute weiß ich nicht, ob er mich bloß verblüffen und provozieren wollte, was ihm beides nicht gelang, oder ob er womöglich eine gewisse Hoffnung hegte, sein schwuler Bekannter werde ihn mit dem Gummischwanz ficken. Wenn dem so war, bereue ich es bis heute nicht, ihn enttäuscht zu haben.

Samstag, 19. April 2025

Passion, umgeschrieben

Dass in den Erzählungen vom Leiden und Sterben unseres Herrn und Erlösers der Pöbel „Kreuzige ihn!“ schreit (in den biblischen Texten oder in Vertonungen), deuten heutzutage manche pflichtschuldig als „Ausdruck des kirchlichen Antijudaismus, der dem späteren Antisemitismus den Boden bereitet hat“. Will sagen: Millionen von Menschen wurden vergast, weil antike Autoren (die übrigens der selbstverständlich längst pflichtschuldig bestrittenen Überlieferung nach selbst Israeliten/Judäer waren) besagte Rufe frei erfunden haben.
Denn historisch gesehen (jedenfalls nach der pflichtschuldiger Umarbeitung der Geschichte) war es ganz bestimmt umgekehrt: Die zufällig vorbeikommenden Leute, die gar nicht von der pharisäischen und sadduzäischen Führung angestachelt wurden, riefen: „Tu ihm nichts, o Pilate, dass ist doch unser lieber Rabbi Jehoschua, der ja bloß ein Reformjudentum will und keineswegs von sich sagt, er sei Gottes Sohn!“
Schuld waren am Justizmord also dann die Römer. Ärgerlich, ja skandalös, dass in der Folge die betrügerischen Jünger des Nazareners auch noch seine Auferstehung erfunden haben (wo doch jeder weiß, dass der Mann die Kreuzigung überlebte ― übrigens als einziger Fall in der Geschichte römischer Hinrichtungen ― und dann später nach Kaschmir auswanderte). Da war’s dann vorbei mit Reformjudentum, und das Christentum wurde zur antisemitischen Sekte.
So muss es zumindest sehen, wer seine Pflicht gegenüber dem Zeitgeist erfüllen will, demgemäß Schwarz Weiß ist, Lüge Wahrheit und Ungeist Aufklärung.

Zeitgeistgeschwätz zum „Zwangszölibat“

Herr Grünwidl, derzeit Diözesanadminstator für das Erzbistum Wien, spricht sich in einem Interview für einen freiwilligen Priesterzölibat und gegen einen „Zwangszölibat“ aus. „Ich sehe nicht ein, dass es notwendig ist, zölibatär zu leben, um Priester zu sein. Das sehen wir ja aus unseren Schwesterkirchen, den orthodoxen Kirchen und auch bei den Pfarrerinnen und Pfarrern der evangelischen Kirche, dass es durchaus möglich ist, mit Familie eine seelsorgliche pastorale Aufgabe zu übernehmen.“
Stimmt, die Weltpriester der orthodoxen Kirchen (und übrigens auch der katholischen Ostkirchen, die Grünwidl nicht erwähnt, obwohl er in Österreich deren zuständigen Ortsbischof vertritt) können vor der Priesterweihe heiraten. Mönche aber selbstverständlich nicht, und aus dem Mönchtum stammen die Bischöfe. Es gibt also auch in den Ostkirchen einen „Zwangszölibat“, aber eben nicht für alle. ― Die Protestanten fallen als Vergleichsobjekte völlig aus, sie haben kein Weihepriestertum und kein Ehesakramtent. Ihre Vereinigungen sind auch gar keine Kirchen.
Grünwidls „Ich sehe nicht ein“ ist einmal mehr eine diese inkompetenten Äußerungen schlecht ausgebildeter, überheblicher Kleriker, die offensichtlich gar nicht übersehen, was sie mit ihrem Geschwätz anrichten.
Was soll ein „freiwillger“ Zölibat sein? Wie wirkte ein Priester, der nicht heiratet, auf die Leute in dieser Zeit? Mit dem kann doch was nicht stimmen, würde es heißen. Ist er pervers, schwul, pädophil? Nicht heiraten ist doch nicht normal.
Und wer Ehe sagt, sagt heutzutage auch Scheidung. Zivilrechtlich geschiedene Priester, das fehlt noch! Was kommt dann als Nächstes? „Wiederverheiratung“? Viel Vergnügen damit.
Grünwidl tut seiner Kirche mit unüberlegten Äußerungen keinen Gefallen. Im Gegenteil, er schadet ihr nach Kräften, indem er dem Zeitgeist huldigt, statt die überlieferte und wohlbegründete Haltung der Kirche zu verteidigen. Das erweckt den Eindruck, der Zölibat stehe offiziell zur Diskussion. Und das, obwohl Grünwandl überhaupt kein Argument gegen den obligatorischen Zölibat anführt. Er sagt bloß: „Es gab in der Kirche eine lange Zeit, in der es das Zölibat als Verpflichtung nicht gegeben hat.“ Stimmt nicht. Jesus war unverheiratet. Mönche und Nonnen waren immer schon Zölibatäre. Und was die Weltkleriker betrifft, da will Grünwidl plötzlich tausend Jahre und mehr zurück? Warum? Weil der Zeitgeist das so will?
Selbstverständlich faselt Grünwindl auch was von Priestermangel. Um es klar zu sagen: Wenn der geforderte Zölibat einen Mann daran hindert, sich für den priesterlichen Dienst zu entscheiden, dann weiß er sich eben nicht wirklich berufen oder entscheidet sich gegen die Berufung. Traurig, aber das ist dann halt so. verantwortlich muss man dafür wohl die kirchen-, priester- und keuschheitsfeindliche gesellschaftliche Stimmung machen, zu der Grünwidl mit seinem Gerede einen bescheidenen Teil beiträgt.
Aber gibt es überhaupt einen Priestermangel in der katholischen Kirche? Weltweit steigt Jahr für Jahr die Zahl der Geweihten. Nur Europa schwächelt. Aber herrscht dort Mangel? Rechnen wir nach: Zur Erzdiözese Wien gehören (2021) rein registratorisch 1.156.923 Katholikinnen und Katholiken. Es gibt (2020) 616 Priester (dazu 492 Ordenspriester). Das ergäbe 1.878 Katholiken je Priester (mit Ordenspriestern 1.044). Nur sind ja nicht alle Registrierten tatsächlich aktive Kirchenmitglied. Nimmt man die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher zum Maßstab, die bei höchstens zehn Prozent liegt, kommt man auf 190 bis 100 Gläubige pro Kleriker. Ist das wenig? Ist das ein Mangel? Wenn man freilich ein umfangreiches Verwaltungs-, Unterhaltungs- und Repräsentationsangebot aufrecht erhalten will, statt sich endlich als Katakomben-Kirche gegen den Mainstream zu positionieren … ― Mag übrigens sein, dass die Protestanten keinen Mangel an Pastoren und Pastorinnen haben; aber denen laufen, in Österreich und der BRD, die Gläubigen ja noch schneller davon als bei den Katholiken …
Es steht zu hoffen, dass weder Grünwidl noch irgendein anderer klerikaler Dummschwätzer der nächste Erzbischof von Wien wird. denn dann würde ich es sehr bedauern, aus dieser sich selbst nicht ernst nehmenden Kirche nicht austreten zu können. Weil ich genau wegen solcher Leute schon vor Jahren ausgetreten bin.