Mittwoch, 7. Mai 2025

Krieg und die Unmoral der Neutralität

Wenn irgendwo auf der Welt irgendwer gegen irgendwen Krieg führt, dann geht mich das etwas an, dann betrifft das auch mich, dann hat das auch mit mir zu tun, dann ist das auch ein Krieg gegen mich. So wie niemand wirklich frei ist, wenn nicht alle frei sind, so lebt auch niemand in Frieden, wenn nicht jeder in Frieden leben darf.
Zugegeben, das scheint eine völlig abstrakte Haltung zu sein. Denn eine Sache ist es, dem Krieg unmittelbar ausgesetzt zu sein; eine andere, sich vom Schreibtisch aus über ihn zu empören, ihn zu beklagen, ihn zu verwerfen. Eines ist es, beschossen und bombardiert zu werden und Stunden in Luftschutzkellern verbringen zu müssen, fliehen zu müssen und allerhand Einschränkungen und Entbehrungen erfahren zu müssen; ein anderes, eigentlich nichts zu entbehren und im Gegenteil die Muße zu haben, darüber nachzudenken, zu sprechen, zu schreiben. Eines ist es, Angehörige und Freunde zu verlieren, Hab und Gut zu verlieren und eine gesicherte Zukunft; ein anderes irgendwo in Sicherheit und Bequemlichkeit darüber zu hören, zu lesen und Bilder zusehen.
Trotzdem, ich kann nicht anders. Ich bin gegen den Krieg, gegen jeden, aber wenn er nun einmal stattfindet, kann ich nicht neutral sein, ich muss Partei ergreifen, für die Opfer sowieso und jedenfalls für die Angegriffenen und Verteidiger gegen den Aggressor und seine expliziten und impliziten Komplizen und Propagandisten. Das scheint mir ethisch geboten (und nicht nur gefühlsmäßig erforderlich), wenn ich es denn ernst nehme, dass jeder meiner Mitmenschen dasselbe Recht auf Leben und Wohlergehen hat wie; zumal wenn er sich nichts anderes „zu Schulden“ hat kommen lassen als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Ich gehöre nicht zu denen, die mit Erleichterung und sogar einer gewissen Selbstzufriedenheit sagen können: Das ist deren Krieg, uns geht das zum Glück nichts an. Es geht mich sehr wohl etwas an, weil mich ein solches Wir der Verschonten, Herausgehaltenen, scheinbar Unbeteiligten nicht interessiert; ich verachte es sogar. Wenn das Haus meines Nachbarn brennt usw. Und selbst wenn es der Nachbar in einer anderen Stadt und einem anderen Land lebt. Der Brand muss gelöscht und weitere Brände müssen verhindert werden. Punkt.
Es gibt Staaten, die erklären sich für neutral, und viele ihrer Untertanen haben das längst in ihr komfortables Selbstverständnis integriert. Doch sagen wir so: Belgien war auch neutral und wurde in zwei Weltkriegen von den Deutschen überrannt und besetzt. Die Schweiz ist traditionell neutral, was sie noch nie gehindert hat, an Kriegen zu profitieren. Österreichs Neutralität war immer ein Witz. Rundum von NATO-Staaten (und der Schweiz und Liechtenstein) umgeben, die seine Sicherheit de facto garantieren (und die Neutralität bei Bedarf missachten), verstand es sich zu Ostblockzeiten immer als westlich und kann seit dreißig Jahren als Teil des unierten Europas gar nicht anders, als dessen Bedrohtheit zu teilen, egal, wie vielfältig die ökonomischen Interesse auch mit dem östlichen Aggressor verbandelt sein mögen.
Ein moralisches Individuum kann ohnehin nicht neutral sein. Und will das auch nicht. Es muss und will Unrecht als Unrecht benennen und das tun, wozu es Gelegenheit und Möglichkeit hat, Unrecht abzustellen. Sonst handelt es selbst falsch und ist Teil dessen, wogegen es zu sein hätte.
Die wirksamen Möglichkeiten mögen für die meisten Menschen gering sein und die Umstände oft ungünstig. Das ändert nichts an der Verpflichtung. Unerlaubt ist es jedenfalls, sich zu freuen, dass es einem selbst nicht so schlecht ergeht wie anderen, wenn man eigentlich mit diesen anderen solidarisch zu sein und irgendetwas zu tun hätte, um ihnen zu helfen.

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