Sonntag, 4. Mai 2025

Wärme und Kälte oderTemperatur?

Einer schreibt: „Dass verschiedene Menschen ein und dieselben Person oder Situation unterschiedlich wahrnehmen, ist eine Binsenweisheit. Das gilt, um ein Beispiel zu nennen, auch für die beiden Patienten, die kurz nacheinander in meine Praxis kamen. Der erste setzte sich, angezogen mit einem Pullover, in den Sessel, stand wieder auf, holte seine Lederjacke vom Garderobenständer und sagte: ‘Hier ist es mir zu kalt.’ Der zweite kam in einem T-Shirt, darüber ein leichtes Blouson, und antwortete auf meine Frage, ob es ihm hier nicht zu kalt sei: ‘Nein, es ist warm genug.’ / Beide sprachen eine objektiv identische Situation an, die sie subjektiv ― offenbar sehr verschieden ― erlebten.“
Damit scheint gemeint zu sein, dass die Raumtemperatur eine objektive Tatsache ist ― immerhin ist sie mittels eines Thermometers messbar und in Grad Celsius (oder Fahrenheit oder Réaumur usw.) angebbar ―, während das Empfinden von Wärme oder Kälte etwas Subjektives und, wenn schon nicht Willkürliches, so doch eher Zufälliges, von unbestimmten Faktoren Abhängiges sei.
Diese Sicht der Dinge ist eine erlernte und keineswegs selbstverständliche. Man könnte auch umgekehrt in der Thermometer-Temperatur ein von Subjekten konstruiertes Artefakt sehen, mit dem zwar irgendwie eine Realität dargestellt werden soll, das aber vor allem eine eigene Realität zu konstituieren hilft; während es sich bei der jeweils wahrgenommen Wärme oder Kälte um eine reale Erfahrung handelt, die kommuniziert und in Beziehung zu den Erfahrungen anderer gesetzt werden kann.
Die Menschen der Moderne haben gelernt, ihre Empfindungen an den Vorgaben der Messinstrumente, genauer gesagt: an der Interpretation der Messwerte auszurichten. Wenn es 30 Grad hat, muss einem heiß sein, wenn es Minusgrade hat, muss man frieren. Als es noch keine Thermometer gab oder diese nicht verbreitet waren, kam man allerdings auch zurecht.
Anders gesagt: Die Vorstellung, dass es eine objektive Temperatur gibt, die messbar ist und die nicht von subjektivem Empfinden abhängt, ist eine Idee, die nur Subjekte haben. In einer subjektlosen Welt aus lauter Objekten (wenn es eine solche gäbe und geben könnte) käme derlei nicht vor.
Wenn also Menschen sagen, es sei ihnen warm oder kalt, reagieren sie nicht auf eine objektive Situation, sondern umgekehrt: die thermometrische „Objektivität“ wird von der realen Situation, die von den Menschen erfahren werden kann, abstrahiert und in mathematische Form (Zahlen als Messwerte) gebracht. Aber eine Wärme- oder Kälteerfahrung ist etwas ganz anderes als eine physikalische Temperaturmessung.
Dem physikalistischen Weltbild zu Folge ist Temperatur etwas Objektives, das subjektiv verschieden erlebt wird. Will sagen, etwas hat die und die Temperatur, unabhängig davon, ob das jemandem warm oder kalt vorkommt. Diese Idee ist nicht falsch, aber sie stimmt eben nur innerhalb eines bestimmten Weltbildes (einer Ideologie, könnte man auch sagen). Begreift man hingegen Wirklichkeit als etwas Gegebenes, dann muss man bedenken, dass es nichts Gegebenes geben kann, das nicht jemandem gegeben würde. Um zu verstehen, was das Gegebene ist, muss man die Gegebenheitsweisen berücksichtigen, die zugleich Aufnahmeweisen derer sind, für die etwas als gegeben gilt.
Versteht man die oben zitierte Situation (einem ist kalt, einem ist warm, obwohl das Thermometer vermutlich dieselbe Temperatur zeigt) so, dass eine „identische Objektivität“ (dieselben Messwerte) verschieden gedeutet wird, so verfehlt man das Wesentliche: Jede Deutung ist Deutung durch einen Deutenden; hätten beide darin übereingestimmt, dass es in der Praxis warm oder dass es kalt ist, wäre das keine Bestätigung der „Objektivität“ gewesen, sondern eine zufällige Gleichheit von Empfindungen, die wie auch immer zu Stande kam.
Hat denn nun der Recht, dem kalt war, oder der, dem warm war? Müsste das nicht, wenn Temperatur etwas Objektives zu sein hat, entscheidbar sein? Oder spricht man nicht in Wahrheit von zwei verschiedenen Arten von Wirklichkeit: Empfinden und Messung?
Eines ist es zu sagen: „Mir ist kalt“, ein anderes: „Hier ist es kalt“. Letzteres besagt ja vermutlich: „Mir ist kalt und jedem anderen muss hier auch kalt sein“. Das Messen der Temperatur erlaubt keinen dieser Sätze. Eine Zahl besagt nichts darüber, wie sie empfunden werden muss.
Insofern haben die beiden Patienten also nicht die objektive Temperatur in der Praxis subjektiv verschieden interpretiert, sondern sie sprachen von ihrer jeweils eigenen, auf ihre Subjektivität bezogenen Objektivität. Sie teilten eine Erfahrung mit, nicht die Deutung eines Messwerts. In ihre Erfahrung geht aber ihre Befindlichkeit und ihre Geschichte ein. Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Empfindlichkeiten.
Dass einer, der Patienten behandelt, dies mit einer verkorksten Metaphysik tut, in der er abstrakte Objektivität mit realer Verwechselt, könnte man bedenklich finden. Aber liegt dieser autoritäre Gestus ― „ich weiß besser als du, was objektiv real und was bloße subjektive Einbildung ist“ ― nicht dem ganzen Psychogeschwätz zu Grunde?

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