Sonntag, 8. Juni 2025

Notiz über Literatur

Wenn einer schriebe, Kalkutta liege an der Seine und Paris am Ganges, dann ist das völlig in Ordnung, es stellt sich allenfalls die Frage: In welcher? In der einen Ordnung und in einer anderen nicht. Die Entscheidung, welche er wählt oder ob er gar Unordnung vorzieht, wird man dem Schreibenden überlassen müssen, es ist ja sein Text, in dem das steht. Warum sollte denn Geographie, wie sie herkömmlicherweise gelehrt wird, der Maßstab der Literatur sein? Warum sollte nicht, wer kann und will, eine alternative Geographie behaupten dürfen? Man nennt das Fiktion und sollte es von der Faktenhuberei unterscheiden, die manche zur Kunst erheben wollten. Das möglichst akribisch Nachbeten einer vermeintlichen Realität (Regnete es am Tag der Schlacht von Waterloo? Von wann bis wann und wie viel? Was hatte Napoleon gefrühstückt? Musste er noch aufs Klo?) ist nicht an sich sinnvoll, es müsste, wie alles Geschriebene es muss, seine Sinnhaftigkeit im Zusammenhang der sprachlichen Gestaltung erst unter Beweis stellen. Oder diesen Beweis aus guten Gründen schuldig bleiben, auch das kann zulässig sein. Was stimmt oder nicht, unterliegt in der schönen Literatur anderen Regeln, Absichten und Erfordernissen als in der Geschichtsschreibung. Wer nur sagen will, wie es gewesen ist, ist in der Belletristik fehl am Platze. Er muss schon etwas können, das es sinnvoll macht, so tu tun, als sei etwas so gewesen oder anders. Wer also erzählen möchte, Napoleon sei damals während starken Schneefalls auf einem lahmenden Einhorn ungefrühstückt aufs Schachtfeld geritten, möge das tun, wenn er weiß (oder immerhin vermuten kann), was er da tut, und wäre auch das, was er tut, zur Erfüllung des Wunsches gemacht, zu verstören und in die Irre zu führen. Warum er jemanden dorthin bringen will (in die Irre), was er sich davon verspricht und was er von einem Rückweg hält, darf ganz ihm überlassen bleiben, derlei Tun und Machen ist jedenfalls nicht von vorn herein weniger berechtigt als das Anliegen, überpüfbare Rekonstruktion und eindringliche Information zu geben. Aber auch nicht unbedingt mehr. Weshalb Reflexion und Offenlegen der Gründe gerade dann nicht schaden wird, wenn ohnehin schon Illusion als Sinn und Zweck des Schreibens auuscheidet, also ein Text sich ebenso gut gleich selbst kommentieren kann. Wie es übrigens seit jeher recht häufig Sitte ist, sonderlich in dem Zeitalter, das man das moderne nennen möchte. Erfindung und deren Aufdeckung nehmen dem Lesevergnügen nichts, wenn anders dieses nicht vor allem darin bestehen soll, das Lesen und mit ihm das Geschriebene zu vergessen und einzutauchen in unechte Wirklichkeit. Im gewöhnlichen Umgang sind „alternatve Fakten“ einfach Lügen und also böse. In der Schönen Literatur aber ist alles erlaubt, was gut gemacht ist; oder so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Alles, außer eben das: Den Unterschied von Fiktionen und Fakten vergessen machen zu wollen, weil das zu unkritischer Haltung erzieht und also böse ist.

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