Montag, 23. Juni 2025

Infantilpazifismus

In Mitteleuropa ist, scheint mir, eine Haltung weit verbreitet, die weniger eine solche als eine vielmehr bloße Gewohnheit ist. Weil man, seit man sich erinnern kann, anders als Millionen Menschen in der Welt (einschließlich der Nachbarn in Osteuropa, Südosteuropa usw.) von keinem Krieg mehr unmittelbar betroffen war ― wie schön weg war Vietnam oder Ruanda oder Libyen usw. ―, möchte man Krieg für etwas halten, mit dem an nichts zu tun haben möchte. Man lebt in einer mentalen und politisch-ökonomischem Komfortzone, einer Friedensblase, und jede Erinnerung daran, dass die Blase platzen und die Komfortzone zum Kampfgebiet werden könnte, wird empört zurückgewiesen.
Vokabeln wie „Aufrüstung“ und „Kriegstüchtigkeit“ lösen Schnappatmung aus. Dass die BRD sich sündteure Streitkräfte leistet, nimmt man irgendwie hin, dass diese weitgehend nicht einsatzfähig (eben verteidigungsbereit, kriegstüchtig) sind, hält man für kein Problem. Braucht man eh nicht. Kommt eh kein Krieg. Bloß nichts ins Militär investieren. Nützt nur den Rüstungskonzernen.
Der Denkfehler: Der Krieg ist nicht weit weg, er ist schon da. Dass in in ihm keine deutschen Soldaten und Soldatinnen, keine deutschen Zivilistinnen und Zivilisten sterben, bedeutet nicht, dass er nicht längst auch gegen die BRD geführt wird: etwa als Cyberkrieg. Oder als Propagandakrieg (wie das kriegsverbrecherische „Manifest“ der Ekel-Sozis so schön demonstriert).
Dass andere derzeit die Last des Krieges tragen, indem sie sterben und verwundet werden, indem sie ihrer Angehörigen beraubt und von Raketen und Drohnen terrorisiert werden, indem ihr Hab und Gut zerstört wird ― das empfinden viele in Mitteleuropa, die von ihrer Mitverantwortung für Krieg und Frieden nichts wissen wollen, bloß als lästig, sie nehmen ihre moralische Verpflichtung nicht ernst, dass gegen den Krieg zu sein, wenn dieser bereits stattfindet, nur bedeuten kann, ihn mit allen möglichen Mitteln zu führen und zu beenden. Man mag von „diplomatischen“ Mitteln träumen, Tatsache ist, dass alles Verhandeln und Beschwören bisher weder etwas genützt hat (und mit Sicherheit nichts nützen wird), sodass offensichtliche nur militärische Mittel Frieden schaffen können.
Wer also meint, in einer Demokratie zu leben, müsste sich öffentlich so äußern und müsste so wählen, dass sein Staat merkbar aufrüstet, die Angegriffenen wirkungsvoll unterstützt und in geeigneter Weise in den Krieg eingreift.
(Putin hat ausdrücklich dem Westen den Krieg erklärt. Angegriffen hat er die Ukraine. Wie zuvor auch Georgien usw. Hätte er Italien angegriffen, hätte der Westen militärisch reagiert. Haben die Ukrainerinnen und Ukrainer weniger Recht auf Leben als Italiener und Italienerinnen? Sind sie bloß Angehörige eines minderwertige Ostvolkes? Ist es das, was die sagen wollen, die meinen, man müsse die Konfrontation, die bereits stattfindet, unbedingt vermeiden und dürfe nicht „eskalieren“? Sterben nicht genug Menschen in diesem Krieg, ist es das? Müssten mehr sterben, damit der Westen massiv eingriffe?)
Die Realität zu leugnen und in einer Phantasiewelt zu leben, ist unverantwortlich. Sicher, man kann aus grundsätzlichen Erwägungen gegen jegliche Gewalt sein, auch wenn einen selbst und andere das Freiheit und Leben kostet. Das ist eine mögliche Haltung. Wer sie einnimmt, müsste sich allerdings eigentlich dem Staat verweigern, dessen Gewaltmonopol der fundamentalpazifistischen Haltung ja widerspricht, dürfte keine Steuern zahlen (auch keine indirekten), weil damit ja auch Gewalt finanziert wird, dürfte an Wahlen nicht teil- und keinerlei staatliche Leistungen annehmen. Wer tut das schon? ― Es gab da ein paar russische Sektierer, die vom Zaren blutig verfolgt wurden, aber auch wenn noch irgendwo in Kanada ein paar ihrer Nachfahren lebten, eine nennenswerten Einfluss auf das Weltgeschehen scheinen sie nicht auszuüben.
Gewohnheit (statt Haltung), Komfortzone, Blase: Wer sich der ethischen und, wenn er den Staat grundsätzlich bejaht, demokratischen Verantwortung verweigert, indem er auf alles Militärische der eigenen Seite allergisch reagiert und das militärische Agieren der anderen Seite sehenden Auges ignoriert oder wie ein Naturereignis hinnimmt, den kann man mit Fug und Recht infantil nennen. Es ist kindisch, das Schreckliche und Verbrecherische nicht wahr haben zu wollen ― und Krieg ist ein schreckliches Verbrechen! ― und das, was dagegen hülfe, abzulehnen.

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