Mittwoch, 28. Mai 2025

Notiz zur Zeit (250)

Freispruch im dritten Anlauf. Ich hadere nicht mit dem Oberlandesgericht. Ich hadere nicht einmal mit Kurz. Ich hadere mit den Leuten, die dieses dreiste Ekel damals wählten. Und ihm immer noch die Stange halten.

Indem das jetzt im Oberwasser sein Schauschwimmen vollführt, versucht es vergessen zu machen, dass noch andere Verfahren anhängig sind, mit erheblicheren Anklagen und empfindlicheren Strafen.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, welches Übermaß an Schamlosigkeit, Eigennützigkeit, Bedenkenlosigkeit den Schmierlapp kennzeichnet, sein Umgang mit der Justiz zeigt ihn hieb- und stichfest als den peinlichen Egomanen, der er ist.

Warum wählen die Leute Soziopathen, die versprechen, die Armen ärmer und die Reichen (und sich selbst) reicher zu machen? Weil sie, die nicht reich sind, sich mit den Reichen identifizieren? Weil sie so, mit einer Art von Abwehrzauber, den eigenen Abstieg verhindern wollen? Aus Lust am Bösen?

Montag, 26. Mai 2025

Unterwegs (23)

Am Nebentisch fragt eine Frau: „Der Gemischte Salat, ist das nur Blattsalat?“ Ich bewundere den Kellner dafür, nicht geantwortet zu haben: „Aber selbstverständlich, signora, wir nennen ihn nur gemischt, weil wir Öl und Essig darangeben.“

Samstag, 24. Mai 2025

Notiz zur Zeit (249)

So geht das nicht! So ein Püppchen der Unterhaltungsindustrie darf doch nicht einfach sagen, was es denkt. Und damit auch noch Recht haben.
Alle, vom Bundespräsidenten abwärts, waren darum sofort zu Ordnungsrufen bereit.
Und das Püppchen gab zu, im Unrecht zu sein.
Uff, fast hätte man auf die Idee kommen können, in Österreich dürfe irgendwer, und sei es ein jüngst umjubeltes Produkt des gezielt unpolitischen Bespaßungsgewerbes, Israel kritisieren und Völkermord verurteilen. Nein, das darf selbstverständlich niemand. Es geht schließlich um „Musik“, nicht um Wahrheit, Anstand, Menschlichkeit.

Sonntag, 18. Mai 2025

Unterwegs (22)

Im Drogeriemarkt. Ich meinte, im Nachbargang in einiger Entfernung einen alten Mann zu hören, der seiner Begleitung irgendetwas erzählte. Nähergekommen erwies sich der alte Mann aber als uralte Frau, die in ein unendliches, unverständliches, tief gemurmeldtes Selbstgespräch eingesponnen war. Ein paar Schritte entfernt sang inzwischen eine junge Frau vor sich hin. Nun, was hätte ich da tun sollen? Um auch etwas zum Wahnsinn beizutragen, fing ich an, Gedichte zu rezitieren: Es war einst ein König in Thule, gar treu bis an das Grab, dem sterbend seine Buhle einen goldnen Becher gab usw.

Unterwegs (21)

Im Kaffeehaus. Etwa 90 Prozent des Lärms gehen meiner Einschätzung nach auf schnatternde, zwitschernde, gackernde, gurrende, tirilierende, krächzende, kollernde Frauen zurück. Und einen schrillen jungen Mann (von jenseits des Weißwursteräquators), der seinem unscheinbaren und unhörbaren Verlobten und irgendwelchen sprachlosen Bekannten oder Verwandten allerhand zu erzählen hat.

Samstag, 17. Mai 2025

Leute (29)

Es mag ja sein, dass X., wie man mir vorschwärmt, druckreif spricht. Mein Problem ist eher, dass er noch nie etwas Relevantes zu sagen hatte.

Freitag, 16. Mai 2025

Kein Krieg „bricht aus“

Ich ärgere mich immer, wenn vom Ausbruch eines Krieges die Rede ist. Kriege brechen nicht aus wie Vulkane, sie sind keine Naturereignisse, sondern sie werden von Menschen gemacht, die das auch lassen könnten. Oft werden sie geplant und also mit Vorbedacht begonnen. Man kann meinetwegen von Kriegsbeginn sprechen, aber Kriegsausbruch ist, trotz dem passenden Mitklang von Gewaltsamkeit, ein unpassendes, ein dummes Wort. Man sollte sich bewusst dagegen entscheiden.

Dienstag, 13. Mai 2025

„Kultur“ im postkulturellen Zeitalter

Ja ja, stimmt schon, man sollte den „Spiegel“ nicht lesen. Aber irgendwie geriet ich an die Onlineversion, als ich mal eben rasch im Netz die Schlagzeilen des heutigen Tages überfliegen wollte. Und dann wunderte ich mich doch, dass da nichts aus dem Bereich zu finden war, den man früher einem Feuilleton zugeordnet hätte. Ich suchte ― und fand die Rubrik „Kultur“ und darin folgende aktuelle Schlagzeilen:
„Schlechte Quoten: RTL beendet Raab-Show ‘Du gewinnst hier nicht die Million“;
„Urteil in Frankreich: Schauspieler Gérard Depardieu wegen sexueller Gewalt schuldig gesprochen“;
„Protestschreiben gegen Intendanten: Neue Vorwürfe gegen Hamburger Ballettchef Demis Volpi“;
„Neue Streamingserie: Jude Law und Andrew Garfield spielen ‘Siefgried & Roy’“;
„’Aus Gründen des Anstands’: Filmfestival von Cannes verbietet zu viel nackte Haut auf rotem Teppich“;
„Prozessauftakt in New York: Zeuge spricht über Sean Combs ‘teuflischen Blick’“.
Nennt mich erzkonservativ und vorvorgestrig, aber wenn das „Kultur“ ist, dann will ich nicht wissen, was Unterhaltungskommerz, Publikumsverarschung und Lüsternheitsökonomie ist.

Sonntag, 11. Mai 2025

Was verböte ein AfD-Verbot?

Ohne jeden Zweifel, die AfD ist widerwärtig und gefährlich. So etwas wie diese Partei für moralisch Zurückgebliebene gehört verboten. Man kann das auch im Politvokabular der Herrschenden formulieren: Die AfD ist gesichert rechtsextremistisch.
Aber gesetzt selbst, es gelänge, die Quasinazitruppe vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen, was wäre damit erreicht? Die AfD wäre nicht mehr wählbar und verunzierte nicht mehr die Parlamente. (Vielleicht auch nicht mehr die Talkshows, weil sie ja dann keine Macht mehr darstellte)
Aber das änderte nichts daran, dass Millionen Wahberechtigter die AfD gewählt haben und es, ohne Verbit wieder tun würden. Ein Parteverbot änderte also nichts an der Bereitschaft gesichert Rechtsextremen oder, wie ich sagen würde: Naioiden, die Stimme zu geben. Ein Verbot änderte nichts an Nationalismus, Rassismus, Klassismus.
Im Gegenteil, was jetzt in der AfD gleichsam kristallisiert ist, hätte dann wieder gute Chancen in anderen Parteien, die ja auch nationalistsche, rassistische, klassistische Anteile haben, noch stärker zu werden.
Oder glaubt jemand daran, dass, um ein paat Beispiele zu nennen, ein AfD-Verbot den Klassenkampf von oben beendete? Die Ausländer-raus-Phantasien über Zurückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen? Den Hass der Neoliberalen auf notwendige ökologisch durchdachte Mapßnahmen, die sie nicht zur Profitsteigerung missbrauchen können? 
Das wird nicht passieren. darum wäre ein Verbot der AfD zwar theoretisch richtig. Faktisch aber müsste man die AfD-Wäjlerinnen und Wähler verbieten. Und alle, die ihnen nach dem Munde stinken.

Notiz zur Zeit (248)

Die hohe Zeit der Dummschwätzer und Möchtegernbescheidwisser (beiderlei Geschlechts). Weil kaum einer von den Kunden etwas vom Thema versteht, kann man über alles, was die Kirche betrifft, irgendwelchen Blödsinn erzählen.
 
Wenn einer sich Leo XIV. nennt, dann hat er ja offensichtlich dreizehn Vorgänger dieses Namens und nicht nur einen. Wer sagt, dass die Namenswahl nur mit dem letzten zu tun hat? 
 
Leo XIII. schrieb übrigens nicht nur Sozialenzykliken (darin er u. a. gegen Sozialismus wetterte), sondern er hatte auch das längste bisherige Pontikfikat und war 68, als er es begann. Warum reden die Deuter der Namenswahl nicht darüber?
 
Schwarze Schuhe oder rote? Auch da will man etwas hineingeheimnisse und dann augurisch lächelnd herauslesen. Als ob die Lederfarbe irgendetwas anderes als ein gewisses Traditionsbewusstsein verriete. Ein Papst ist jedenfalls kein Diskalzeat, aber wenn er Gummistiefel oder Jesuslatschen trüge, wäre auch das seine Sache und kein Politikum.
 
Übrigens kostete die rote Fußbekleidung der Päpste Johannes Pauls II. und Benedikts XIII. weder die Kirchensteuerzahler (beiderlei Geschlechts) noch die Kirchenoberhäupter selbst auch nur einen roten Heller. Es handelte sich nämlich um Geschenke des Schuhmachers Adriano Stefanelli aus Novara. Ein Paar für den Sommer, eines für den Winter. Kein Reklamegag, versteht sich, denn Stefanelli hat genug gute Kunden, sondern ein Akt der Liebe zu Papst und Kirche.

Franz trug bekanntlich seine alten Latschen weiter, weil er fußmarode war und meinte, nur die würden im passen. Wahrscheinlich sind Maßschuhe und Einlagen in Argentinien unbekannt.
 
Aber Franz war ja so bescheiden! Die Päpste vor ihm badeten bekanntlich alle in goldenen Badewannen voller Eselsmilch und frühstückten in Essig aufgelöste Perlen. Ach nein, das war Kleopatra VII. Weil die angeblichen Experten anscheinend nichts über den Lebensstil der Päpste vor Franz wissen, scheinen sie annehmen zu wollen, sie hätten privat irgendwie ein Luxusleben geführt. Das Gegenteil war der Fall.

Franzens Residieren im potthässlichen Gästehaus Santa Marta erzeugte höhere Kosten, als wenn er wie seine Vorgänger im sehr schlichten päpstlichen Appartement im Apostolischen Palast gewohnt und gearbeitet hätte. Aber der Mann hatte weder Geschmack noch Sinn für Tradition noch Verantwortungsbewusstsein. Für Fototermine usw. musste er ja dann ohnehin wieder in den Palast gekarrt werden.
 
Aber er war ja so zugänglich und nah an den Menschen! War er das? Franz ist der einzige Papst, von dem es Filmaufnahmen davon gibt, wie er jemanden schlägt.
 
Die ersten Filmaufnahmen eines Papstes zeigen übrigens Leo XIII.

Samstag, 10. Mai 2025

Also doch: Blei zu Gold

Jahrhundertelang wurde den Menschen eingebläut, dass Alchymisten Dummköpfe und Charlatane gewesen seien, weil sie versucht hätten, aus unedlen Metallen edle herzustellen, was gar nicht möglich sei, da ein Element nicht zu einem anderen werden könne. Nun haben die Naturwissenschaftler sich und ihr Dogmas selnst widerlegt am. Den teilchenphysikalischen Forschern der Organisation européenne pour la recherche nucléaire (CERN) ist es bei ihren sündteuren Herumpfuschereien mit Materie gelungen, aus Blei Gold werden zu lassen. Für sehr kurze Zeit und in ungemein kleiner Menge, aber immerhin.
Die Alchymisten hatten also im Prinzip Recht, ihre Gegner Unrecht. Aber die Gralshüter der modernen Ideologie sind schlechte Verlierer. Denn von Seiten des CERN wird gestänkert: „Der Traum der mittelalterlichen Alchemisten ist zwar technisch gesehen wahr geworden, aber ihre Hoffnungen auf Reichtum haben sich wieder einmal zerschlagen.“
Von „wieder einmal“ kann keine Rede sein, und nur wer von Alchymie keine Ahnung hat, hängt immer noch dem Klischee von der Goldmacherei zur „schnellen“ materiellen Bereicherung an. Nun, Physiker sind keine Historiker und in der Regel auch sonst ungebildete Tröpfe. Aber das können sie sich jetzt in ihre Annalen schreiben: Wir sind widerlegt, die Alchymisten hatten Recht.

Mittwoch, 7. Mai 2025

Scholz heißt jetzt Merz

So eine bundestägliche Bundeskanzlerwahl ist ein schöner Anlass, sich nur mit Nebensächlichkeiten zu befassen, die politische und ökonomische Realität aber zu ignorieren und stattdessen so zu tun, als gäbe es nichts Wichtigeres als einen selbst („Deutschland“) und die rasend interessante Frage, wer wen wählt und warum nicht.
Zugegeben, es war lustig mitzubekommen, dass Merz im ersten Wahlgang scheiterte. Das war das Mindeste, was er und seine Kumpane verdienten. Von irgendeiner politischen Relevanz ist es allerdings nicht. Eine schlechte Regierung wird nicht besser, wenn bei ihrer Installierung alles glatt geht. Und umgekehrt; wenn ein Wunder geschähe und diese Regierung entgegen ihrem Sinn und Zweck keine neoliberale Politik vorantriebe, wäre es auch egal, wie holprig ihr Häuptling damals ins Amt kam.
Überhaupt nicht lustig hingegen war es, sich dem Tefaujournalismus auszusetzen. Weil die Herrschaften von Union und SPD wohl mit Wichtigerem befasst waren, holte man ― ich geriet zum Glück nur zufällig, kurz und beiläufig an solche Sendungsschnipsel und weiß also eigentlich nicht, wie repräsentativ sie wirklich waren ― AfD-Zombies vor Kameras und Mikrofone. Mit anderen Worten: Man bot gerade denen eine Bühne, von deren Partei man gestern und vorgestern noch sehr ausführlich berichtet hatte, der Verfassungsschutz schätze sie als „gesichert rechtsextrem“ ein. Wie denn nun? Öffentlich-rechtliche Verpflichtung auf freiheitlich-demokratische Grundordnung oder zwanglose Plaudereien mit Nazis?
Dass man den Unterhaltungs- oder doch Erregungswert des rechten Gesindels zu schätzen weiß, hat man über viele Jahre durch Talkshow-Einladungen und anderen Mist bis zum Überdruss bewiesen. Dass das die Nazitruppe überhaupt erst groß und scheinbar „normal“ gemacht hat, darf man vermuten. Wer kennte denn Weidel und Konsorten überhaupt, wenn deren widerwärtigen Visagen nicht dauernd über Bildschirme flimmerten und in gebührenfinanzierten Formaten ihren widerwärtigen, dummen und bösartigen Müll in die Köpfe der Leute stopfen dürften? ― Und das soll jetzt trotz „gesichert rechtsextrem“ so weitergehen?
Dass Merz schließlich doch noch zum Bundeskanzler gewählt wurde, ist erschreckenderweise beruhigend. Aber nur, weil weiterer Herumwählerei zuzuschauen (und dazu die substanzlose Berichterstattung aufgedrängt zu bekommen), und das womöglich tage- und wochenlang, schlechterdings unerträglich gewesen wäre. Freilich, wer deutscher Bundeskanzler ist, ist ähnlich bedeutsam wie die Zahl der in Schanghai umfallenden Reissäcke. Die Politik, für die so jemand stehen darf, ist schon gemacht. Details mögen variieren. Besser wird nichts. Und weniges deshalb schlechter, weil der Frontmann Merz und nicht April oder Dezember heißt.
Merzens und eines jeden anderen Kanzlers Macht ist durch seine Bereitschaft begrenzt, sich der Macht der Lobbys und Konzerne zu unterwerfen. Aber darüber zu reden und über den beschissenen Zustand der Welt, statt über Formalien der Geschäftsordnung, wäre ja laaangweilig.

Krieg und die Unmoral der Neutralität

Wenn irgendwo auf der Welt irgendwer gegen irgendwen Krieg führt, dann geht mich das etwas an, dann betrifft das auch mich, dann hat das auch mit mir zu tun, dann ist das auch ein Krieg gegen mich. So wie niemand wirklich frei ist, wenn nicht alle frei sind, so lebt auch niemand in Frieden, wenn nicht jeder in Frieden leben darf.
Zugegeben, das scheint eine völlig abstrakte Haltung zu sein. Denn eine Sache ist es, dem Krieg unmittelbar ausgesetzt zu sein; eine andere, sich vom Schreibtisch aus über ihn zu empören, ihn zu beklagen, ihn zu verwerfen. Eines ist es, beschossen und bombardiert zu werden und Stunden in Luftschutzkellern verbringen zu müssen, fliehen zu müssen und allerhand Einschränkungen und Entbehrungen erfahren zu müssen; ein anderes, eigentlich nichts zu entbehren und im Gegenteil die Muße zu haben, darüber nachzudenken, zu sprechen, zu schreiben. Eines ist es, Angehörige und Freunde zu verlieren, Hab und Gut zu verlieren und eine gesicherte Zukunft; ein anderes irgendwo in Sicherheit und Bequemlichkeit darüber zu hören, zu lesen und Bilder zusehen.
Trotzdem, ich kann nicht anders. Ich bin gegen den Krieg, gegen jeden, aber wenn er nun einmal stattfindet, kann ich nicht neutral sein, ich muss Partei ergreifen, für die Opfer sowieso und jedenfalls für die Angegriffenen und Verteidiger gegen den Aggressor und seine expliziten und impliziten Komplizen und Propagandisten. Das scheint mir ethisch geboten (und nicht nur gefühlsmäßig erforderlich), wenn ich es denn ernst nehme, dass jeder meiner Mitmenschen dasselbe Recht auf Leben und Wohlergehen hat wie; zumal wenn er sich nichts anderes „zu Schulden“ hat kommen lassen als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Ich gehöre nicht zu denen, die mit Erleichterung und sogar einer gewissen Selbstzufriedenheit sagen können: Das ist deren Krieg, uns geht das zum Glück nichts an. Es geht mich sehr wohl etwas an, weil mich ein solches Wir der Verschonten, Herausgehaltenen, scheinbar Unbeteiligten nicht interessiert; ich verachte es sogar. Wenn das Haus meines Nachbarn brennt usw. Und selbst wenn es der Nachbar in einer anderen Stadt und einem anderen Land lebt. Der Brand muss gelöscht und weitere Brände müssen verhindert werden. Punkt.
Es gibt Staaten, die erklären sich für neutral, und viele ihrer Untertanen haben das längst in ihr komfortables Selbstverständnis integriert. Doch sagen wir so: Belgien war auch neutral und wurde in zwei Weltkriegen von den Deutschen überrannt und besetzt. Die Schweiz ist traditionell neutral, was sie noch nie gehindert hat, an Kriegen zu profitieren. Österreichs Neutralität war immer ein Witz. Rundum von NATO-Staaten (und der Schweiz und Liechtenstein) umgeben, die seine Sicherheit de facto garantieren (und die Neutralität bei Bedarf missachten), verstand es sich zu Ostblockzeiten immer als westlich und kann seit dreißig Jahren als Teil des unierten Europas gar nicht anders, als dessen Bedrohtheit zu teilen, egal, wie vielfältig die ökonomischen Interesse auch mit dem östlichen Aggressor verbandelt sein mögen.
Ein moralisches Individuum kann ohnehin nicht neutral sein. Und will das auch nicht. Es muss und will Unrecht als Unrecht benennen und das tun, wozu es Gelegenheit und Möglichkeit hat, Unrecht abzustellen. Sonst handelt es selbst falsch und ist Teil dessen, wogegen es zu sein hätte.
Die wirksamen Möglichkeiten mögen für die meisten Menschen gering sein und die Umstände oft ungünstig. Das ändert nichts an der Verpflichtung. Unerlaubt ist es jedenfalls, sich zu freuen, dass es einem selbst nicht so schlecht ergeht wie anderen, wenn man eigentlich mit diesen anderen solidarisch zu sein und irgendetwas zu tun hätte, um ihnen zu helfen.

Montag, 5. Mai 2025

Lüge oder Ehrlichkeit

Nicht der ist ein Lügner, der die Unwahrheit sagt, sondern der, der sie sagen will oder dem es gleichgültig ist, ob das, was er sagt, wahr ist oder unwahr. Denn der Lügner ebenso wie der Ehrliche kann sich irren. Während dieser aber ehrlich ist, auch wenn er Unwahres sagt, ist jener auch dann ein Lügner, wenn er Wahres sagt, es aber für Unwahres hält (oder es ihm egal ist, ob es Wahres oder Unwahres ist.
Ein Beispiel. Einer wird nach dem Weg gefragt. Er gibt redlich Auskunft: dort entlang, dann rechts, dann links. Doch er irrt sich, der Weg führt erst links dann rechts. Weil er im Irrtum war, aber nicht in die Irre schicken wollte, sondern es unwissentlich tat, hat nicht gelogen, obwohl er Unwahres gesagt hat. Ein anderer, der nach dem Weg gefragt wird, will aus Bosheit falsche Auskunft geben, ist aber fälschlich der Meinung, die richtige Antwort laute: erst rechts, dann links, und sagt darum: erst links, dann rechts. Obwohl er also die Wahrheit gesagt hat, hat er doch gelogen. 
Lüge und Ehrlichkeit haben keinen außermoralischen Sinn, es sind ausschließlich moralische Begriffe. Wahrheit und Unwahrheit sind im Unterschied dazu epistemologische oder ontologische Begriffe. Der Unterschied ist bedeutend. Ein Lügner kann Wahres sagen, wie gezeigt wurde, und ein Ehrlicher Unwahres; worauf es ethisch betrachtet ankommt, sind nicht die Sachverhalte, sondern das Verhältnis von Sagen, Sagenwollen und Wissen.
Ehrlichkeit ist der Wille zur Wahrheit. Wer den nicht hat, der lügt. Darum lügt auch der, den der Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit, von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit gleichgültig lässt.
Es gibt Lügner, die gar nicht mehr wissen, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht, weil sie so oft gelogen haben, dass ihnen die Fähigkeit zur Aufrichtigkeit abhanden gekommen ist. Sie vermögen sich selbst so nachhaltig zu belügen, dass sie sogar glauben können, sie seien ehrlich, wenn sie eigentlich wissen, dass sie lügen.
Wer spricht, ohne damit den Anspruch auf Wahrhaftigkeit zu verbinden, missbraucht die Sprache; wenn hier einmal von Spaß, Ironie, theatralischer Rede usw. abgesehen darf. Sprache als Sprechen von jemandem zu jemandem ist wesentlich wahre Rede, soll und will es sein. Das wissentliche und absichtsvolle Sagen von Unwahrem untergräbt die Voraussetzungen von Kommunikation und damit das menschliche Miteinander überhaupt.
Die Gleichgültigkeit demgegenüber, ob das, was man sagt, wahr ist, ist böse. Darum ist sie von jeher Kennzeichen nicht nur individueller Immoralität, sondern auch von Herrschaft. Gesagtes ist dabei Mittel zum Zweck, ob es wahr oder unwahr ist, spielt keine Rolle, entscheidend ist die Wirkung. Wenn es der Durchsetzung und Erhaltung von Herrschaft dient, ist es zweckmäßig, also „gerechtfertigt“: der Führer, die Partei, Karl Marx usw. hat immer Recht, auch wenn das, was heute gesagt wird, dem widerspricht, was gestern gesagt wurde. Gerade diese Unsicherheit, ob das, was heute unbedingt (und unter Strafandrohung) als wahr zu gelten hat, auch morgen noch wahr sein darf, gehört zu den Herrschaftsmitteln. Nicht der Untertan ist im Besitz der Wahrheit, sondern die Herrschenden, sie verfügen darüber nach Belieben, sie erfinden neue Wahrheiten und löschen alte aus, niemand kann sich auf etwas Wahres berufen, das nicht erlaubt ist, alles kann auch ganz anders sein, nur das bleibt gleich: Dass darüber, was wahr ist, die Obrigkeit bestimmt.
Lüge ist in jedem Fall Beitrag zu Herrschaft, nämlich „mindestens“ zur Herrschaft der Sünde. (Die Grundlage und Folge aller Herrschaft von Menschen über Menschen ist.) Wer lügt, kündigt dem, den er belügt, die Mitmenschlichkeit auf, er setzt dessen Recht auf Wahrheit außer Kraft oder verletzt es, er ignoriert die Würde des anderen und verweigert ihm die Ebenbürtigkeit. Geht das über individuelles Fehlverhalten hinaus und verfestigt sich zu gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen das Sagen von Unwahrem „normal“ ist und erwartet wird oder sogar erzwungen ― Reklame, Politik, Szientismus ―, dann ist Lüge systemrelevant geworden. Ein auf Sünde gegründetes System aber ist durch und durch böse und muss vernichtet werden.

Sonntag, 4. Mai 2025

Wärme und Kälte oderTemperatur?

Einer schreibt: „Dass verschiedene Menschen ein und dieselben Person oder Situation unterschiedlich wahrnehmen, ist eine Binsenweisheit. Das gilt, um ein Beispiel zu nennen, auch für die beiden Patienten, die kurz nacheinander in meine Praxis kamen. Der erste setzte sich, angezogen mit einem Pullover, in den Sessel, stand wieder auf, holte seine Lederjacke vom Garderobenständer und sagte: ‘Hier ist es mir zu kalt.’ Der zweite kam in einem T-Shirt, darüber ein leichtes Blouson, und antwortete auf meine Frage, ob es ihm hier nicht zu kalt sei: ‘Nein, es ist warm genug.’ / Beide sprachen eine objektiv identische Situation an, die sie subjektiv ― offenbar sehr verschieden ― erlebten.“
Damit scheint gemeint zu sein, dass die Raumtemperatur eine objektive Tatsache ist ― immerhin ist sie mittels eines Thermometers messbar und in Grad Celsius (oder Fahrenheit oder Réaumur usw.) angebbar ―, während das Empfinden von Wärme oder Kälte etwas Subjektives und, wenn schon nicht Willkürliches, so doch eher Zufälliges, von unbestimmten Faktoren Abhängiges sei.
Diese Sicht der Dinge ist eine erlernte und keineswegs selbstverständliche. Man könnte auch umgekehrt in der Thermometer-Temperatur ein von Subjekten konstruiertes Artefakt sehen, mit dem zwar irgendwie eine Realität dargestellt werden soll, das aber vor allem eine eigene Realität zu konstituieren hilft; während es sich bei der jeweils wahrgenommen Wärme oder Kälte um eine reale Erfahrung handelt, die kommuniziert und in Beziehung zu den Erfahrungen anderer gesetzt werden kann.
Die Menschen der Moderne haben gelernt, ihre Empfindungen an den Vorgaben der Messinstrumente, genauer gesagt: an der Interpretation der Messwerte auszurichten. Wenn es 30 Grad hat, muss einem heiß sein, wenn es Minusgrade hat, muss man frieren. Als es noch keine Thermometer gab oder diese nicht verbreitet waren, kam man allerdings auch zurecht.
Anders gesagt: Die Vorstellung, dass es eine objektive Temperatur gibt, die messbar ist und die nicht von subjektivem Empfinden abhängt, ist eine Idee, die nur Subjekte haben. In einer subjektlosen Welt aus lauter Objekten (wenn es eine solche gäbe und geben könnte) käme derlei nicht vor.
Wenn also Menschen sagen, es sei ihnen warm oder kalt, reagieren sie nicht auf eine objektive Situation, sondern umgekehrt: die thermometrische „Objektivität“ wird von der realen Situation, die von den Menschen erfahren werden kann, abstrahiert und in mathematische Form (Zahlen als Messwerte) gebracht. Aber eine Wärme- oder Kälteerfahrung ist etwas ganz anderes als eine physikalische Temperaturmessung.
Dem physikalistischen Weltbild zu Folge ist Temperatur etwas Objektives, das subjektiv verschieden erlebt wird. Will sagen, etwas hat die und die Temperatur, unabhängig davon, ob das jemandem warm oder kalt vorkommt. Diese Idee ist nicht falsch, aber sie stimmt eben nur innerhalb eines bestimmten Weltbildes (einer Ideologie, könnte man auch sagen). Begreift man hingegen Wirklichkeit als etwas Gegebenes, dann muss man bedenken, dass es nichts Gegebenes geben kann, das nicht jemandem gegeben würde. Um zu verstehen, was das Gegebene ist, muss man die Gegebenheitsweisen berücksichtigen, die zugleich Aufnahmeweisen derer sind, für die etwas als gegeben gilt.
Versteht man die oben zitierte Situation (einem ist kalt, einem ist warm, obwohl das Thermometer vermutlich dieselbe Temperatur zeigt) so, dass eine „identische Objektivität“ (dieselben Messwerte) verschieden gedeutet wird, so verfehlt man das Wesentliche: Jede Deutung ist Deutung durch einen Deutenden; hätten beide darin übereingestimmt, dass es in der Praxis warm oder dass es kalt ist, wäre das keine Bestätigung der „Objektivität“ gewesen, sondern eine zufällige Gleichheit von Empfindungen, die wie auch immer zu Stande kam.
Hat denn nun der Recht, dem kalt war, oder der, dem warm war? Müsste das nicht, wenn Temperatur etwas Objektives zu sein hat, entscheidbar sein? Oder spricht man nicht in Wahrheit von zwei verschiedenen Arten von Wirklichkeit: Empfinden und Messung?
Eines ist es zu sagen: „Mir ist kalt“, ein anderes: „Hier ist es kalt“. Letzteres besagt ja vermutlich: „Mir ist kalt und jedem anderen muss hier auch kalt sein“. Das Messen der Temperatur erlaubt keinen dieser Sätze. Eine Zahl besagt nichts darüber, wie sie empfunden werden muss.
Insofern haben die beiden Patienten also nicht die objektive Temperatur in der Praxis subjektiv verschieden interpretiert, sondern sie sprachen von ihrer jeweils eigenen, auf ihre Subjektivität bezogenen Objektivität. Sie teilten eine Erfahrung mit, nicht die Deutung eines Messwerts. In ihre Erfahrung geht aber ihre Befindlichkeit und ihre Geschichte ein. Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Empfindlichkeiten.
Dass einer, der Patienten behandelt, dies mit einer verkorksten Metaphysik tut, in der er abstrakte Objektivität mit realer Verwechselt, könnte man bedenklich finden. Aber liegt dieser autoritäre Gestus ― „ich weiß besser als du, was objektiv real und was bloße subjektive Einbildung ist“ ― nicht dem ganzen Psychogeschwätz zu Grunde?

Balken & Splitter (114)

Typisch protestantisch Verlogenheit: Einen „evangelischen Kirchentag“ kann es nicht geben. In den Evangelien steht nämlich nichts von einem Kirchentag.
 
In der BRD wird gerade eine miese Regierung durch eine noch mieser ersetzt. Soll noch einer sagen, Wahlen könnten nichts verändern.
 
Die künftige schwarzrote Regierung will den Achtstundentag, der 1918 eingeführt worden war, abschaffen. Wer wählt nur immer diese Leute?
 
Das ewige Lied der Sozialdemokraten: Wir würden ja, aber man lässt uns nicht. Aber wird sind immerhin das kleinere Übel. Man könnte freilich auch sagen: Sie sind das hinreichende Übel, das das Fass des großen Übels zum Überlaufen bringt.

Donnerstag, 1. Mai 2025

Unterwegs (20)

Auf meinem Weg zum Mödlinger Bahnhof überholen mich zwei weibliche Jugendliche. Die eine schwatzt gerade aufgeregt etwas von einer „Banane, die zum Tischört" wurde (wenn ich richtig gehört habe), die andere antwortet mit einem spitzen Gekreisch: „Oh, Gott!“ Der Satiriker, der ich ja auch bin, reagiert darauf unwillkürlich mit spitzem Gekreisch: „Oh, Gott!“ Gerade in diesem Augenblick überholen mich ein Mann und eine Frau, vielleicht die Eltern wenigstens eines der Mädchen, scheinen zu meinen, ich hätte gegrüßt, und grüßen verwirrt zurück: „Grüß Gott!“