Oh weh, die demonstrieren ja gar nicht friedlich. Na, da muss der Staat natürlich eingreifen. Um uns alle zu schützen.
Des braven, demokratischen Bürgers Herz rutscht in die Hose, wenn er von Gewaltausbrüchen hört, wo alles friedlich und zivilisiert zugehen sollte. Die gewöhnliche Vorstellung ist die: Es gibt ein Grundrecht auf Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit und zusammen ergeben sie das Recht auf Protest in der Öffentlichkeit. Wenn es friedlich zugeht. Wenn aber Polizisten (und Militärs) attackiert werden, Geschäft geplündert, Barrikaden errichtet und Autos und andere Wertgegenstände angezündet werden, dann ist der Spaß vorbei und der Ernst des Lebens muss wieder zuschlagen. Selber schuld, warum haben diese Leute (mit denen man nichts zu tun hat und haben will) nicht öediglich friedlich demonstriert, sondern sich für Gewalt und Zerstörung entschieden, das ist gegen das Gesetz und spielt nur denen in die Hände, die die Proteste unterdrücken wollen, was sie jetzt selbstverständlich müsse, mit Gewalt, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.
Darin steckt ein Denkfehler, der so offensichtlich und grundlegend ist, dass er tatsächlich den Angelpunkt der Argumentation ausmacht: Warum sollten die, gegen deren Untaten protestiert wird, festlegen dürfen, in welcher Form das getan werden darf und in welcher nicht. Es ist vernünftig, darüber zu diskutieren, welche Protestformen vernünftig sind und welche Folgen sie haben. Aber den Staat und seine Gesetze vorschreiben zu lassen, wer wie wann wo gegen das staatliche Verbrechertum auftreten darf, ist absurd.
Nun kommt gewiss sofort der Protest: Aber der Staat, das sind doch wir alle, und Gesetze braucht es für ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben, ohne Vorschriften herrschte Anarchie!
Erstens: Anarchie (Herrschaftslosgkeit) herrscht nicht. Gemeint ist Durcheinander,. Zweitens: Anarchie ist nicht Unordnung, sondern vernünftig geordnetes Zusammenleben auf der Grundlage der Zustimmung und Mitwirkung jedes Einzelnen. Also genau das, was Frieden und Gewaltlosigkeit garantiert, im Unterschied zum System der Nationalstaaten und multinationalen Imperien, die innen und außen Kriege führen und äußerst destruktiv und unordentlich sind. Und drittens: Selbstverständlich kommt zunächst nichts Gutes dabei heraus, wenn systematisch-institutionelle Gewalt mit spontaner und privater Gewalt beantwortet wird. Wenn, anders gesagt, irgendwelche Protestgruppen sich aufführen, als wären sie jetzt mal kurz ein bisschen an der Macht und dürften nach Belieben (also hasserfüllt und ressentimentgeladen) über Menschen und Dinge verfügen.
Es ist aber doch so: Die Gewalt geht von den Verhältnissen aus. Was auch immer da und dort irgendwelche Protestierende gelegentlich an kriminellen Akten begehen, ist Reaktion darauf und nichts im Vergleich zu dem, was Staat und Wirtschaftsordnung den Leuten andauernd antun. Es sind nicht irgendwelche Demonstranten, gewalttätig oder nicht, die für all die Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen, für Umweltzerstörung und Unterdrückung, für Armut und Konsumwahn, für Verdummung und Unterhaltungsmüll verantwortlich sind, die es auf der Welt gibt. Verantwortlich ist die Weltwirtschaftsordnung, die von den Nationalstaaten geschützt wird. Während die Reichen weltweit nachweislich immer reicher werden, bleiben die Armen arm und alle dazwischen müssen Wohlverhalten an den Tag legen, wenn sie ein bisschen Wohlstand für sich abzweigen und nicht in die Mittellosigkeit abrutschen wollen.
Es geht übrigens nicht darum, dass halt die Reichen ein bisschen von ihrem Reichtum abgeben sollen, um die Armen ein bisschen weniger arm zu machen. Es geht darum, dass der real existierende Reichtum ungerechtfertigt ist, dass er auf Raub beruht (Privat-Eigentum) und auf Entrechtung. Diese Art von privatisierten, unproduktivem Reichtum gäbe es nicht, wenn nicht den Vielen etwas weggenommen würde und den Wenigen gegeben. Reich wird ja nicht, wer hart, schwer und viel dafür arbeitet, das ist eine Lüge; reich ist vielmehr und immer reicher wird, wer Reichtum geerbt oder innerhalb eine ihn begünstigenden Systems erschwindelt und erpresst hat.
Die meisten Menschen haben sich ― regional und global ― mit dieser Lage abgefunden. Auch die, die nicht von ihr profitieren und nie von ihr profitieren werden. Es gibt eben Reiche und Arme und irgendwas Dazwischen. Die meisten Menschen wollen einfach nur in Ruhe gelassen werden und ihr Leben leben. Einige möchten außerdem gern den Umstand, dass es reiche und arme Länder gibt, insofern für sich nutzen, dass sie aus ihrer armen Heimat in reiche Länder migrieren, um dort hart zu arbeiten und zu etwas zu kommen, was ihnen dort, wo sie herkommen, verwehrt wird: ein erträgliches Auskommen. Ihre Migration ist einerseits ein Beitrag zum Wohlstand der Reichen, insbesondere wenn sie „illegal“ ins Land kommen und wie rechtlose Sklaven behandelt werden können. Wobei „Illegalität“ keine Naturgegebenheit ist, sondern vom Staat nach Gutdünken festgelegt wird. Andererseits eine gute Gelegenheit, die Abstiegsängste und die Fremdenfeindlichkeit der eigenen Mittelschichten zu mobilisieren und gegen Schwächere zu kanalisieren. Das funktioniert meistens. Nur selten bildet sich dagegen Widerstand.
Die Unruhen in Los Angeles kamen zu Stande, weil unter der faschistischen Regierung der USA die „Einwanderungsbehörde“ (in Wahrheit eine Einwanderungsverhinderungsbehörde, eine Deportationsbehörde) brutal, zum Teil gesetzwidrig und jedenfalls unmenschlich Jagd auf vermeintliche „Illegale“ machte. Dagegen bildete sich sehr wohl Widerstand. Verfolgte, deren Angehörige und besorgte Bürger gingen auf die Straße, um gegen Unrecht und Grausamkeit zu protestieren. Das demokratische und gewaltfreie Demonstrieren ließ sich die Behörde aber nicht gefallen und ging gewaltsam dagegen vor. Die Regierungszentrale eskalierte. Das war eine gern genutzte Gelegenheit für manche, ihre Wut auf ein repressives, diskriminierendes und ausbeuterisches System und ihre beschissenen Lebensverhältnisse durch Randalieren und Vandalieren auszudrücken. Damit bekamen die Anbeter der Staatsgewalt erst recht die Bilder, die sie haben wollten. Und die Gewaltschraube bekam ein paar Drehungen mehr.
Die Protestierer von Los Angeles oder anderswo LA sind keine Aufständischen. Ihr Protest ändert auch nichts an den Verhältnissen, er ist nur eine Bekundung von Anstand und Verzweiflung. Was inmitten einer gleichgültigen und in weiten Teilen bösartigen Gesellschaft schon sehr viel ist.
Friedlicher Protest beruft sich heutzutage in den USA auf Recht und Gesetz, in einer historischen Situation, in der nicht Recht und Gesetz von der Regierung missachtet. Das ist einerseits ein sinnvolles Mittel, die demokratische Usurpation des Staates durch undemokratische Kräfte zurückzuweisen, andererseits völlig untauglich, um die Zurückweisung wirkungsvoll zu machen. Die Faschisten hören nicht auf Stimmen der Vernunft, Logik, Moral usw. Sie sprechen nur die Sprache der Gewalt (nebst all ihren Lügen) und vermutlich kann nur Gewalt sie stoppen. Wie soll eine moralisch, kulturell, religiös völlig verwahrloste und verderbte Gesellschaft, in der die Hälfte der Leute einem debilen Clown mit tyrannischen Gelüsten anhängt, anders als durch einen Bürgerkrieg sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, ihrem Konsumismus, ihrem Hedonismus, ihrer geistigen Leere herausarbeiten?
Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede hier nicht der Gewalt das Wort und auch nicht irgendeiner Straftat. Ich rede vielmehr der Abschaffung des Staates das Wort und der Abschaffung des Kapitalismus. Ich befürworte gewaltfreie Lösungen, weil die Mittel dem Ziel entsprechen müssen. Blutige Umstürze etablieren neue blutige Regimes, weiter nichts.
Aber ich sehe nicht, wo in den USA eine wirksame Gewaltfreiheit herkommen soll, die sich von Stillhalten und Wegschauen anders als bloß durch Gesänge, selbstbeschriftete Kartons und Internet-Memes unterscheidet. Der Staat und die, die sich seiner bedienen können, sind jederzeit nicht nur gewaltbereit, sondern setzen längst Gewalt ein. Derzeit wieder mit besonderem Nachdruck. Dass das dumm ist ― weil eine Masse von Unterdückten unproduktiver und nach außen gefährdeter ist als ein Gemeinwesen freier Bürger mit gesicherten Rechten ―, steht außer Frage, heißt aber nicht, dass es nicht durchgesetzt wird. Was soll dazu die Alternative sein? Wahlen? Eine Wahl hat den widerwärtigen Narren zweimal ins Amt gehoben. Wer soll die, die die Macht dazu haben, daran hindern, durch Aushebelung der Verfassung ein drittes Mal zu inszenieren ― ein Gericht? hahaha … ― oder irgendeine andere völlig unmögliche Galionsfigur einzusetzen? Einsicht, Gewissen, Anstand und die Einhaltung von Spielregeln scheiden also aus. Nochmals: Was ist die Alternative zum Quasifaschismus, der Faschismus zu werden droht?
Ich weiß es nicht.
Der Zustand des Systems ist grauenhaft. Aber vor allem ist das System selbstgrauenhaft. Der Form nach Demokratie, dem Inhalt nach Ausbeutung und Verblödung und Zerstörung der Lebensgrundlagen aller. Bevor das nicht von allen, die aktiv gegen Missstände vorgehen wollen, begriffen wird, sehe ich kaum eine Chance, wie die Missstände beseitigt werden sollen, besonders nicht der eine Missstand, der die Ursache der anderen ist: die Herrschaft von Menschen über Menschen.
Bilder von bespuckten und beworfenen Bütteln und brennende Fahrzeugen mögen rebellische Herzen höher schlagen lassen. Sie illustrieren allerdings nur die Machtlosigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Staat, der aller seiner Untertanen Feind ist und der „wir“ nicht sind und besser auch keinesfalls sein wollen sollten.