Samstag, 16. April 2022

Nach mehr als sieben Wochen

„Keiner der Leute, die da entweder für Russland oder die NATO in den Krieg ziehen, ist dort freiwillig.“ Ich gebe zu, für solche Sätze verachte ich F. Es macht mich wütend, dass solcher Unsinn geäußert und vielleicht sogar geglaubt wird. Aber eigentlich sollte F. mir leid tun. Er ist ein armes Würstchen, gebeutelt von den Wendungen der ideologischen Richtung, der er gerade anhängt, als Marxist aber immer überzeugt von der völlig Richtigkeit seiner wechselnden Positionen, immer also autoritär. Und insofern sich treu bleibend.
Von der Realität lässt er sich dabei nicht irre machen. So war er von Anfang an für ein strenges Anti-Corona-Regime, egal, wie groß die Bedrohung durch das Virus wirklich war und ob die Maßnahmen, die ihm gar nicht scharf genug ausfallen konnten, etwas bewirkten oder nicht. Er war auch unbedingt fürs Impfen, alles andere schien im geradezu faschistisch. Dass er mit seiner Unterstützung des staatlichen Zwangs die Partei des Kapitals ergriff (Pharma-Konzerne, Bezos, Gates usw.) ignorierte er oder sah es womöglich „dialektisch“: Erst muss es mit dem Kapitalismus ganz schlimm kommen, dann treten die proletarischen Massen als Messias auf.
Schon 2014 übrigens sah F. im Euro-Maidan und dem Sturz der antieuropäischen, putinfreundlich Regierung der Ukraine durch eine zu Recht aufgebrachte, proeuropäische und demokratiewillige Bevölkerung einen vom Westen gesteuerten faschistischen Putsch. Auch hier beschäftigte er sich nicht mit der Wirklichkeit, wie sie etwa von Ukrainerinnen und Ukrainer erzählt wurde, sondern nur mit seinen Ressentiments und Vorurteilen. F. sieht die Welt wie Putin (und schon Stalins): Wer nicht für die Diktatur Russlands ist, ist ein Nazi.
Derzeit kann F. selbstverständlich den russländischen Angriffskrieg nicht verteidigen, das wäre zu abseitig, also verurteilt er ihn, aber er weiß allerhand Aber: Aber die aggressive Osterweiterung der NATO … aber das Hochrüsten der Ukraine … aber das Asow-Regiment …
So kommt es dann auch zu widerwärtigem Unsinn wie dem Eingangs zitierten Satz. Der selbstverständlich völliger Blödsinn ist. Russlands Soldaten werden zum Kriegführen gezwungen, aber aus der ganzen Ukraine (und aus anderen Ländern!) melden sich Männer und Frauen freiwillig an die Front. Sie kämpfen nicht für die NATO (und sind nicht dümmer als F. und durchschauen nicht wie er, dass hier die westliche Weltverschwörung ― Yankees? Plutokraten? Juden? Freimaurer? Katholiken? ― die Strippen zieht), um ihr Land, ihre Mitbürger, ihre Demokratie, ihre Freiheit, ihre Würde zu verteidigen.
Wäre es wirklich die NATO, die gegen Russland Krieg führte (Warum sollte sie das wollen? Warum sollte sie es, wenn sie es täte, nicht zugeben? Aus Angst vor Russland?), dann wäre der Krieg schon zu Ende und Moskau ausradiert. Putin säße allenfalls irgendwo in Sibirien im Bunker und überlegte, ob er sich erschießen oder noch nach China fliehen sollte. Das wäre freilicheine realistische sicht der Dinge und derlei interessiert F. nicht.
Nochmals: Niemand kämpft in der Ukraine für die NATO. Das ist ein irres Weltbild, geradezu krankhaft antiwestlich und damit faktisch pro Putin, der dieselben Lügen propagiert. Wie kann man solchen Quatsch glauben oder erfinden oder gut finden? Bei Typen wie F. habe ich immer das Gefühl, dass da ein bisschen Sehnsucht nach dem Großen Bruder im Spiel ist, eine Hoffnung, die Ex-Sowjetunion könnte doch noch als eurasischer Neobolschewismus wiederauferstehen. Auch das fände ich allerdings, wenn es denn stimmte, völlig armselig und verachtenswert.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen