Die repräsentative Mehrheitsdemokratie repräsentiert für gewöhnlich weder die Bevölkerung noch notwendig deren Mehrheit. Man nehmen zum Beispiel die BRD. Bei der letzten Parlamentswahl stimmten dort 18,5 Prozent der Wahlberechtigten für die CDU, die danach den Regierungschef stellen durfte. Sie koaliert seither mit der CSU (4,9 Prozent) und der SPD (13,5 Prozent). Alle drei Parteien wurden nur von 36,9 Prozent der Stimmberechtigten gewählt. Das soll eine Mehrheit sein?
Man behilft sich mit Tricks. Zum einen beträgt die Anzahl der gewählten Abgeordneten immer 100 Prozent, auch wenn sehr viel weniger Menschen zur Wahl gehen (und gültig wählen). Zum anderen erklärt man alle Stimmen für de facto ungültig, weil de jure wirkungslos, die für Parteien abgegeben wurden, die „zu klein“ sind und „das Parlament zersplittern“ würden. Merke: Repräsentiert wird nur, wer große und mittlere Parteien wählt …
Die Absurdität der sogenannten Fünf-Prozent-Hürde kann man sich leicht vor Augen führen: Wenn ein Dutzend Parteien jeweils 4,9 Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereinigten, wären das 58,8 Prozent ― und sie kämen doch nicht ins Parlament. (Eine Partei oder Koalition mit 21 Prozent ― bezogen auf eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent: mit 16,5 Prozent) hätte dann im Parlament die absolute Mehrheit.)
Aber das System ist nicht nur quantitativ nicht repräsentativ, sondern auch qualitativ nicht. Denn die wählbaren Kandidaten und Kandidatinnen werden nicht von den Wahlberechtigten bestimmt, sondern von den Parteien. (Auf die Absurdität der Wahlkreiskandidaten, die die Verhältniswahl „personalisieren“ sollen“, soll hier nicht weiter eingegangen werden, nur so viel: Dort ist als Vertreter des Wahlkreises gewählt, wer mehr Stimmen als die anderen bekommt, das könnte rein theoretisch heißen, dass der Kandidat mit zwei Prozent Stimmen gewählt ist, wenn alle anderen nur jeweils 1 Prozent bekommen. Dann hätten 98 Prozent den Kandidaten nicht gewählt und er würde doch Abgeordneter …)
Selbstverständlich bedeutet Repräsentatitivät nicht, dass das Parlament ein exaktes demographisches Abbild der Bevölkerung sein muss (statt überwiegend aus Juristen und Beamten zu bestehen). Es muss also der Prozentsatz der rothaarigen lesbischen Krankenschwestern buddhistischen Glaubens und mit Glasauge im Parlament nicht dem Prozentsatz der rothaarigen lesbischen Krankenschwestern buddhistischen Glaubens und mit Glasauge in der Bevölkerung entsprechen. Sondern Repräsentativität hätte zu bedeuten, dass die stimmberechtigte Bevölkerung wirklich von genau denen vertreten wird, von denen sie vertreten werden will und die sie tatsächlich gewählt hat.
Eine Entscheidung der Wahlberechtigten darüber, wer (welche Personen) sie vertreten soll, und nicht nur was (welche Parteien), hätte die Grundlage der Repräsentation zu sein. Was ist denn daran demokratisch, wenn Parteien vorgeben, wer im Parlament sitzen kann und wer nicht? Wen werden die Aufgestellten wohl letztlich vertreten: die von denen sie tatsächlich abhängen, die ihre Karrieren und ihr Einkommen bestimmen: oder die, von deren Vertrauen sie eigentlich abhängen sollten, die aber bezüglich Karriere und Einkommen nicht zu melden haben?
Außerdem ist es ja so: Die Parteien können die Angeordneten nahezu nach Belieben austauschen. Irgendwer tritt zurück, jemand anderes rückt nach. Wahlen nicht erforderlich.
Aber es besteht durch solche Hinterzimmerverfahren ― selbst wo Parteitage Listen absegnen, wurden diese meistens schon anderswo zusammengestellt ― nicht nur keine Festlegung auf ein (persönlich gewähltes) Personal, sondern auch keine Verpflichtung auf eine bestimmte Programmatik. Im Wahlkampf wird X gesagt, beim Regieren dann Y gemacht: Das gilt als normal. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, dass Parteien bekannt geben, was sie machen würden, wenn sie so könnten, wie sie wollten. Aber sie müssten, um sinnvoll wählbar zu sein, doch auch sagen, was sie bereit sind zu tun, wenn sie nicht so können, wie sie wollen. Dazu müssten sie vor der Wahl unter anderem auch sagen, mit wem sie nach der Wahl gegebenenfalls koalieren werden. Gerade das verweigern Politiker aber regelmäßig.
Es ist doch so: Das Wahlvolk soll der Politik einen Blankoscheck ausstellen. „Wählt uns erst mal, wir machen das dann schon für euch“: Das ist Entmündigung unter dem Vorwand der Volkswillens.
Man könnte also zusammenfassend sagen: Weil die indirekte, repräsentative Demokratie nicht wirklich repräsentativ ist, kann sie auch nicht demokratisch sein, und weil sie nicht demokratisch sein will, braucht sie auch nicht repräsentativ zu sein. Man muss nicht gleich ein staatsfeindlicher Anarchist sein ― wie ich es bin ―, um zu sehen, dass sehr viel mehr Repräsentativität und echte Demokratie möglich wäre, nämlich eine, die die Wahlberechtigten (deren übrigens mehr sein könnten durch den Nicht-Ausschluss großer Teile der „nichtdeutschen“ Wohnbevölkerung) ernst nähme, sie nicht entmündigte und ihnen nichts vorgaukelte.