Sonntag, 9. März 2014

„I’m gonna tell God everything“

Ende vorigen Jahres tauchte im Internet das Bild eines blutüberströmten weinenden Jungen auf. Bei dem Dreijährige, so informierten Bildunterschriften und Kommentare, handle es sich um ein Opfer des syrischen Bürgerkrieges, das bald nach der Aufnahme seinen Verletzungen erlegen sei. Seine letzten Worte, heißt es, seien gewesen: „Ich werde Gott alles sagen!“
Wem das nicht das Herz zerreißt, der hat keines.
Dabei ist es völlig gleichgültig, ob die Geschichte stimmt. Es genügt, dass man sich vorstellen kann, dass sie wahr ist. Ein Kind in höchster Not, voller Schmerzen und Todesangst, ist sich völlig sicher, dass es, wenn es tot sein wird, bei Gott sein wird, und dann wird es die ganze Welt wegen ihrer Schlechtigkeit anklagen.
Herzzerreißend.
Gott werde den Tod des kleinen Jungen rächen, meinen manche, die das Foto im Netz kommentiert haben. Aber führt Vergeltung zu Gerechtigkeit? Neues Leid, und sei es die Höllenpein der Verdammten, hebt altes Leid nicht auf. Es muss noch etwas anderes geben als Rache und den Wunsch danach. Der Satz des kleinen Jungen verlangt nach mehr.
Viele Menschen nehmen die Tatsache, dass es Leid in der Welt gibt, zum Anlass, das Dasein Gottes zu bezweifeln oder zu bestreiten. Wie kann ein Gott, so fragen sie, der angeblich gut und allmächtig ist, all das Böse zulassen, das Menschen widerfährt?
Mir geht es gerade umgekehrt. Gerade die unbestreitbare Tatsache, dass es Leid gibt, spricht für mich für die Notwendigkeit Gottes, dafür, dass er vollkommen gut und dass bei ihm nichts unmöglich ist.
Was Gott zulässt, ist der freie Wille des Menschen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten (die allerdings beschränkt sein können), können wir uns für oder gegen etwas entscheiden, können handeln, wie wir wollen. Handlungen haben aber Folgen. Sorgte Gott dafür, dass menschliches Handeln folgenlos bliebe, schaffte er damit die Wirklichkeit und letztlich den freien Willen des Menschen ab. Wenn es gleichgültig wäre, wie wir uns entscheiden, weil immer nur Gutes dabei herauskommen kann, wären unsere Entscheidungen sinnlos. Gott will aber, dass die Menschen das Gute wählen. Unerfreulicherweise nützen sie allerdings ihre Freiheit oft widmungswidrig zum Bösen.
Die Folgen sind bekannt. Nicht nur unsere eigenen Handlungen jedoch, sondern auch die Handlungen anderer haben für uns Folgen. Zwar gibt es gewiss viel Gutes, das man uns tut, doch sind wir immer auch in die Sünden anderer verstrickt und verstricken andere in unser eigenes böses Tun. Und darum, und nicht weil Gott versagt hätte, ist die Welt, wie sie ist.
Zu Recht also klagt der sterbende kleine Junge uns vor dem Richterstuhl Gottes an. Wir alle, jeder auf seine Weise, sind mitschuldig an seinem Leiden und seinem Tod und an dem Leiden und Sterben so vieler anderer. Wie kommen wir aus dieser Schuld heraus? Wer bewahrt uns vor den bösen Folgen unserer Handlungen? Können wir uns selbst aus der Verstrickung in die Schlechtigkeit der Welt befreien?
Und gesetzt selbst, wir würden umkehren, unser Leben völlig umkrempeln und nicht nur bessere, sondern sogar vollkommen gute Menschen werden; gesetzt auch, es gelänge — was ich mir wünsche, woran ich aber nicht glaube — das Zusammenleben der Menschen in Zukunft so zu gestalten, dass niemandem mehr Unrecht zugefügt wird; gesetzt also, die Welt würde irgendwann zu einem fortan besseren Ort, so bliebe eben doch die Tatsache, dass es einmal Unrecht und Schlechtigkeit gegeben hat.
Selbst wenn also jeder, der lebt, glücklich ist, weder Demütigung noch Schmerz, weder Ausbeutung noch Einsamkeit, weder Krankheit noch — was ich mir nicht vorstellen kann und auch nicht für wünschbar halte — den Tod kennt, so bliebe doch die unbestreitbare Tatsache, dass Menschen gelitten haben und gestorben sind.
Kann man sich damit abfinden? Ich kann es nicht. Nicht im Namen eines irdischen Paradieses und nicht auf Grund sonst einer Vertröstung. Ich will keine leeren Versprechungen, ich will Wirklichkeit. Ich will, dass am Ende alles gut ist, davon gehe ich nicht ab. Die Vorstellung hingegen, all das Leid, das es gibt und gegeben hat, bleibe in Ewigkeit übrig, all die Toten blieben tot und das wär’s dann, erscheint mir unerträglich grausam.
Brächte es denn wirklich einer derjenigen, die nicht an das ewige Leben glauben, über sich, dem unter Schmerzen sterbenden Jungen ins Gesicht zu sagen: Bald bist du tot und dann gibt es dich nicht mehr. Nicht mehr und nie wieder. Und alles, was du erlitten hast, ist sinnlos. Wäre das nicht unmenschlich? Völlig menschenwirdrig?
Ich habe nie geleugnet, dass mein Glaube an die Notwendigkeit Gottes ein Schwäche ist, nämlich das völlige Unvermögen, die Endgültigkeit des Totseins und die Unaufgehobenheit des Gelittenhabens zu akzeptieren. Aber nicht jede Schwäche ist etwas Schlechtes. Diese hier verweist auf eine Grenze, nämlich die, an der das Menschen Mögliche endet, aber noch lange nicht erreicht und bei weitem nicht erfüllt ist, was Menschen zusteht. Was meiner festen Überzeugung nach zu sein hat, geht über das hinaus, was Menschen tun können. Den Rest muss Gott übernehmen.
Darum vertraue ich nicht auf den Zorn, sondern auf die Barmherzigkeit Gottes. „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“, sagte der sterbende Jesus zu dem Mitmenschen, der neben ihm gekreuzigt wurde. Er hat es, daran glaube ich, auch zu dem kleinen Jungen gesagt, dessen Foto und letzte Worte um Welt gegangen sind. Und ich kann nicht glauben, dass er nicht Wort gehalten hat.

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