Sonntag, 30. Juni 2024

Gegen Umverteilung (2)

Man kann sich das so vorstellen: Ein Diktator erlaubt einer kleinen Anzahl von Leuten, sich unter seiner Herrschaft auf Kosten der Allgemeinheit maßlos zu bereichern. Wenn der Diktator aber mal zusätzliches Geld braucht (obwohl er schon selbst eigentlich reichlich abschöpft), bittet er die Reichen zu Kasse. Damit es gerecht zugeht, sagt er.
Dieses Gleichnis ist nicht nur ein Gleichnis, es ist die Realität in vielen Diktaturen. Aber es ist eben auch ein Gleichnis. Darin stehen die Reichen für die Reichen, die Allgemeinheit für die Allgemeinheit, der Diktator für die Demokratie oder den Kapitalismus oder jedenfalls das herrschende politisch-ökonomische System und das Zur-Kasse-Bitten steht für die Umverteilung, gern in Form einer (imaginären) Milliardärssteuer.
Die ist ja eine der Lieblingsphantasien von Linkspopulisten, verzweifelten Sozialdemokraten und optimistischen Jungaktivisten. Das ginge doch, ein bisschen was vom Reichtum der Superreichen abzwacken, das merken die doch gar nicht. Und wenn doch, und sie wollen der Steuer ausweichen (eine Methode übrigens, mit der Superreiche gern noch superreicher werden; wenig bis gar keine Steuern zahlen), dann muss man das eben international machen. Muss doch möglich sein. Andere Staaten würden doch sicher auch gern ein bisschen was abhaben von den riesigen Vermögen. Unvorstellbar, dass es Staaten geben könnte, die Ausfluchtmöglichkeiten bieten, gar von Reichen regierte Steueroasen sein wollen.
Hm. Vielleicht realistischerweise doch? Egal.
Das ist nämlich gar nicht das Problem. Sicher, es wäre für Staaten angenehm, wenn Unternehmen und Einzelpersonen auch dann ihre gesetzlichen Steuer zahlten, wenn das sehr viel Geld ist. Denn das ist derzeit nicht der Fall, die „Normalbürger“ zahlen mehr oder minder brav, was sie müssen, die international Konzerne und die Milliardäre hingegen können sich teure Steuerberater leisten, die auf Vermeidung spezialisiert sind. Gibt es irgendeine Garantie, dass eine zusätzliche Reichensteuer, die anscheinend so wohltuende für viele Seelen klingt, nicht auch umgangen würde?
Aber wie gesagt, das Problem ist ein anderes. Es ist die Eigentumsverteilung selbst, die riesige Vermögen erzeugt und wachsen lässt. Reichensteuern doktern am Symptom, sie behandeln nicht die Krankheit.
Wenn man, so doch anscheinend die allgemeine Vorstellung, zu reich sein kann, sodass man zwangsweise vom Reichtum wieder etwas abgeben müssen sollte ― wie kam es überhaupt zu dem übertriebenen Reichtum? Der ist ja kein Zufall, kein Betriebsunfall, kein Lotteriegewinn. Jeder versteht, dass man nicht zum Milliardär, gar Multimilliardär wird, weil man so fleißig gearbeitet hat. Schon wer 100 Millionen hat, müsste in 50 Arbeitsjahren jährlich zwei Millionen „erarbeitet“ haben. Mit ehrlichen Mitteln geht das nicht. Hier kommt jetzt selbstverständlich mein immer zitiertes Sprichwort: Ein reicher Mann ist entweder ein Dieb oder der Sohn eines Diebes.
Das ist so. Und das soll so bleiben? Steuern ändern nichts am System, sie berichtigen keine Fehlentwicklung, sie schaffen keinen Missstand ab. Nicht die Umverteilung innerhalb der weiterbestehenden Eigentumsordnung kann das, sondern nur die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Am besten zugleich mit einer Abschaffung der der Ausbeutung von Mensch und Natur.

Sonntag, 23. Juni 2024

Warum wählen die Leute Rechtspopulisten?

Warm wählen Leute Rechtspopulisten? Sicher, Dummheit wird ein wichtiger Grund sein, aber dumm sind viele, doch nicht alle Dummen wählen ganz rechts. Man wird also wohl auch Niedertracht als Grund in Betracht ziehen müssen.
Rechtspopulisten sind ausschließlich destruktiv. Für keines der realen oder auch nur eingebildeten Probleme schlagen sie überhaupt irgendwelche Lösungen vor oder solche, die nicht bloß negativ sind: Sie sind, grob gesagt, gegen Migration, gegen europäische Integration, gegen Liberalität, gegen den Sozialstaat, gegen ökologischen Umbau. Alles soll so bleiben, wie es nie war, und alles Ungewohnte, alles Infragestellende, alles auf Grund von vernünftigen Überlegungen verbessern Sollende soll weg.
Nicht einmal die Vorliebe fürs Autoritäre ist auch nur formal positiv: Autoritär zu denken, zu reden und zu handeln bedeutet, jedes Bedenken, jede Berechtigung anderer beiseitezuschieben ― was übrigens letztlich immer auf Gewalt hinausläuft. (Der Übergang von angedrohter zu tatsächlicher Gewaltanwendung ist darum auch, meiner Meinung nach, der Übergang von Rechtspopulismus zu Faschismus.)
Warum wählen also die Leute solche Leute mit rein negativer Programmatik? Die nichts als verwaschene Versprechungen zu bieten, dass alles irgendwie besser werde, wenn man nur gegen dies da und das da vorgehe? Warum wählen sie Leute, die sie offensichtlich unter dem Vorwand, endlich in ihrem Namen zu sprechen, entmündigen, gängeln, ihrer Freiheitsrechte berauben wollen?
Weil die Rechtspopulisten gerade mit ihrer Negativität ein Angebot machen: Hassen zu dürfen! Die Rechtspopulisten sind stark darin, Gegner zu benennen und diese, zunächst mit Worten, irgendwann vielleicht mit Taten, als rechtlos, in ihren Anliegen unberechtigt, hinzustellen und ihr Verschwinden zu fordern und anzukündigen.
Das ist unpolitisch. Politik besteht keineswegs in der Unterscheidung von Freund und Feind, sondern in der Bereitschaft, Gegner nicht zu Feinden werden zu lassen, sondern Gemeinsames und für alle Seiten Hinnehmbares in institutioneller Form auszuhandeln. Politik setzt nicht, wie frühere Formen des Zusammenlebens, gemeinsame Abstammung und entsprechende Unter- und Überordnungsverhältnisse voraus, sondern gründet auf der Möglichkeit, auch mit Fremden gedeihlich zusammen zu leben, wenn die jeweils ausgehandelten und für gültig erklärten Normen akzeptiert werden.
Rechtspopulismus ersetzt Politik, zumindest rhetorisch, durch Affekte. Dabei spielen diffuse positive Affekte der Verbundenheit mit Vertrautem, Gewohnten, Eingebildetem („Heimat“, „Nation“, „Tradition“, „kulturelle Identität“ usw.) eine große Rolle, aber entscheidend sind die konkreten negativen Affekte: gegen Migranten, gegen „Eliten“, gegen Perverse, gegen geheime Mächte usw. ― In gewisser Weise sind die positiven Affekte nur die Kehrseite der negativen: Heimatliebe heißt Hass auf Fremde usw.
Zivilisierte Gesellschaften versuchen, Affekte zu privatisieren und das öffentliche Leben von parteilichen Leidenschaften in nicht sublimierter Form freizuhalten („Wahlkampf“ nicht als Kampf auf Leben und Tod, sondern als sportlicher Wettstreit z. B.). Für einen halbwegs gut erzogenen, halbwegs gebildeten Bürger wäre es undenkbar, seinen Hass gegen ganze Bevölkerungsgruppen, Menschentypen, tatsächliche oder eingebildete Feinde und deren Machenschaften öffentlich herauszuplärren. Das gälte als primitiv, unfein, unkonstruktiv.
Die Rechtspopulisten bieten an, sich gefahrlos dem Hass überlassen zu können, in dem jeweiligen Grad, der den eigenen Bedürfnissen entspricht, ohne an irgendwelche Folgen denken zu müssen: vom heimlichen Kreuz in der Wahlkabine über das öffentliche Bekenntnis bis zur Teilnahme an Massenaufmärschen ist alles drin. Jeder hasst, wie er will. Wir gemeinsam gegen all die anderen. Die werden schon sehen!
Das ist boshaft. Wer hassen will und dem anderen jede Berechtigung, gehört zu werden und Anliegen vorzubringen, abspricht, handelt niederträchtig und weiß das. Er schafft selbst die Kampfsituation, die die objektive Lage nicht hergibt. Es wird existenziell. Im Grunde geht es um Leben und Tod. „Die müssen sterben, damit wir leben können“ (meine Formel für Rassismus). Von der Anfeindung im Alltag führen dann nur wenige Stufen nach unten zur körperlichen Attacke, dem Wunsch nach Auslöschung. Kommt der Rechtspopulismus an die Macht, kann er sich staatlicher Mittel bedienen, um das zu verwirklichen. Das verspricht er. Jetzt ist sein Angebot noch affektiv, aber darin ist auch der Affekt des Genusses der (bei vielen eher unbestimmten) Vorstellung impliziert, dass den aufgeladenen Worten eines Tages brutale Taten folgen werden.
Rechtspopulismus ist der Wille zum Bösen und das Angebot, das Böse ebenfalls zu wollen, mitzuhassen, mitzuzerstören, mitzuvernichten. Dass das, so lange die liberale Demokratie noch besteht, zunächst nur rhetorisch stattfindet, in seiner Abgründigkeit also noch bei weitem sichtbar wird, stimmt schon, aber wer das rechtspopulistische Angebot an die Wählerinnen und Wähler zu Ende denkt, versteht, dass es bei Mord und Totschlag enden muss.
Weil sie das nicht zugeben würden, aber vielleicht doch heimlich ein bisschen wünschen dürfen wollen, darum wählen die Leute die Rechtspopulisten. Sie stellen sich dumm oder sind es, sie sind zwar nicht abgrundtief böse, aber zumindest so ein kleines bisschen boshaft. Doch der Weg des Bösen ist eine abschüssige Bahn, wer sie betritt, weiß nie, womit er endet.

Der Fremde muss weg!

Der Fremde ist der, der nicht hierher gehört, der also nicht hier sein soll und darum besser nicht hier wäre. Das ist die, nie so klar ausgesprochene, Einstellung, die allen hiesigen Debatten über „Migration“ zu Grunde liegt, egal, ob man ausreichende, aber gesteuerte. oder nur ganz wenig oder überhaupt keine Einwanderung will. Eben weil diese grundsätzliche Einstellung nie ausgesprochen wird ― außer als gegrölte Parole ―, gilt sie unangefochten und kann nicht in Frage gestellt werden.
Der Einwanderer ist der Fremde, der schon hier ist. Wäre der Fremde dort geblieben, wo er herkommt, gäbe es kein Problem, denn dort gehört er hin, hierhin nicht. Der Einwanderer ist also von vornherein der Unerwünschte, der Probleme schafft, weil er ein Problem ist.
Diejenigen, die für Massendeportationen schwärmen, unterscheiden sich im Prinzip nicht von denen, die Zuwanderung begrenzen und steuern wollen, die „im großen Stil abschieben“ wollen, die „Bleibeperspektiven“ wie Naturtatsachen behandeln statt wie Effekte änderbarer Gesetze, die Integration sagen und Assimilaton und wirtschaftliche Verwertbarkeit meinen. Die Grundhaltung ist dieselbe: Fremde sollen eigentlich nicht hier. Je weniger von ihnen, desto besser, die Unbrauchbaren, Störenden sollen auf jeden Fall weg.
Dass der Fremde (von den jeweils gemachte Gesetzen abgesehen) dasselbe Recht haben könnte, hier zu sein, wie der Einheimische, ist undenkbar. Hier ist hier, dort ist dort, hier sind wir, fremd ist fremd, der Unterschied muss sein. Auch wenn der Einheimische sonst nichts hat (und viele haben allerhand, einige sogar sehr viel), das kann ihm keiner nehmen, dass er ein Einheimischer und kein Fremder ist. Darauf stützt er sich, das kann er zum Dreh- und Angelpunkt seines Selbstverständnisses und in der Folge der Ablehnung des Verstehens anderer machen.
Dass, wenn man es rational betrachtet, kein einziges der realen Probleme, die die Einheimischen haben, gelöst wäre, wenn es keine Fremden mehr im Land gäbe, daran kann und will der nicht denken, der alle seine Probleme und die derer, die er für Seinesgleichen hält, im vermeintlichen Problem der Anwesenheit von Fremden bündelt und chiffriert.
Höhere Einkommen, niedrigere Lebenshaltungskosten, billigere Energie, bezahlbarer Wohnraum, bessere Infrastruktur, bessere Bildung, weniger Kriminalität, weniger Armut usw. usf., von wirksamer Klimapolitik gar nicht zu reden ― nichts davon ergäbe sich, wenn die Fremden verschwänden, zum Teil sogar das Gegenteil. Fremde verrichten notwendige Arbeit, zahlen Steuern und Abgaben (und bekommen aus dem Sozialsystem weniger heraus).
Aber es geht selbstverständlich gar nicht um eine Kosten-Nutzen-Rechnung, auch dem Fremdenfeind nicht. Er will die Fremden nicht hier haben, weil er einen schwachen Gegner will, gegen den er sein kann, ohne seine eigene Lage wirklich zu durchdenken und seine wirklichen Probleme und deren Ursachen angehen zu müssen. Er investiert Affekte, nicht Rationalität. Er ist, wovon auch immer, gekränkt und will seinen Groll pflegen. Dazu braucht er ein Opfer.
Der Fremde hat nicht das Recht, hier zu sein, also hat er eigentlich gar keine Rechte, denn wenn er, wie er sollte, verschwände, verschwänden auch alle angeblichen Rechte mit ihm. So sollte es sein. Insofern ist der Fremdenhass mit seinem Wunsch nach Rechtlosigkeit seines Opfers, ein Vorgriff auf den Zustand, den er erst herstellen will: Fremdenlosigkeit. Der Mensch ohne Rechte existiert eigentlich gar nicht, er ist fast schon weg, nur noch physisch anwesend, aber nicht als ansprechender und ansprechbarer Mensch, dem gegenüber man Verantwortung und Verpflichtung haben könnte. Dass da welche sind, die eigentlich nicht richtig hier sind, weil sie nicht das recht haben, hier zu sein, dieser Widerspruch muss aufgelöst werden, und sei es mit Gewalt.
Dass da welche sind, die nicht hier sein sollten, aber hier sind, erlaubt nicht nur den Individuen, Ressentiments zu pflegen, es lässt sich auch zur Anstachelung von Massen verwenden. Wobei das eine auf das andere zurückwirkt: Je mehr Fremde zum Thema gemacht werden (und ihr Verschwinden als Lösung propagiert wird), desto eher glauben die die Leute, dass da ein reales Problem mit realen Lösungen vorliegt. Weil aber aus verschiedenen Gründen niemand die unerwünschten Fremden zum Verschwinden bringen kann (etwa, weil sie Rechte haben, weil sie Nutzen bringen, weil internationale Verpflichtungen bestehen), ist und bleibt das Thema dauerhaft eines, das mobilisierende Ablenkung erlaubt.
Auch wer überhaupt keine Nachteile durch die Anwesenheit von Fremden je erlitten hat und kaum Fremde kennt, wird in unterschiedlichem Maße zustimmen, dass es zu viele sind und, wenn irgend möglich, nicht mehr werden dürfen, sondern sogar weniger werden sollten.
Wie ein Fremder ― der für sich selbst ja gar kein Fremder ist, er ist schließlich vertraut mit sich, spricht mindestens eine Sprache und hat Erfahrungen, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Wünsche, Ängste ― die Sache sieht, kommt fast nie zur Sprache, interessiert in den politischen Debatten, die die Einheimischen mit sich selbst führen, überhaupt nicht. Da er ein Problem ist, weil sein Hiersein ein Problem ist, ist das sein einziges Problem, und das kennt man, dazu gibt es nichts zu sagen, das setzt man voraus. Man will nichts von ihm wissen. Es geht allenfalls darum, ihn, wenn man ihn schon nicht loswird, möglichst nutzbringend einzusetzen, was er an Erfahrungen und Fähigkeiten mitbringt, ist nicht von Interesse, nur was mit ihm angefangen werden kann. Seine Existenz, bevor er ein Fremder wurde, ist belanglos, er zählt nur als der, der hier ist und dessen Vorhandensein nicht etwa er gestalten darf, sondern in Form von Rechten und Pflichten und Erwartungen reguliert werden muss.
Es genügt nicht, dass der Fremde, wie jeder im Geltungsbereich von Rechtsvorschriften, diesen unterworfen ist, er muss diese Unterwerfung auch ausdrücklich zu wollen behaupten und zudem außer den Normen auch noch die Werte, auf die jene angeblich zurückgehen und die sie ausdrücken, als allein richtig ausdrücklich anerkennen. Wehe, wenn nicht.
Mit dem Eintritt in die einheimische Rechtssphäre verliert der Fremde jedes Recht auf seine Herkunft, während sie ihm andererseits dauernd angehängt wird und in jedem Zusammenhang markiert werden muss. Seine Andersheit, die fraglos vorausgesetzt, in ihrer Besonderheit aber nicht erfragt wird, gilt als problematisch und wertlos. Was er denkt, was er glaubt, was er hofft, was er will, was er nicht will ― spielt keine Rolle (außer als Widerstand gegen seine Integration). Er soll wollen, was man von ihm erwartet: Sich innerhalb der Volkswirtschaft nützlich zu machen. Das aber folgerichtig nach Regeln, die ausschließen, dass der Fremde einfach sein eigenes Ding macht oder dass sich am Funktionieren des politischen, ökonomischen und kulturellen Systems etwas grundlegend und nachhaltig ändert.
Der hier befindlich Fremde ist also nur erträglich, wenn er „vereinheimisiert“ wird, angepasst, assimiliert, entfremdet.
Der Gedanke, dass jeder Mensch das Recht haben könnte, sich überall auf der Welt, in jeder ihm erreichbaren Gegend aufzuhalten und sich nach Wunsch und bei Gelegenheit dort niederzulassen und sich dabei zwar an die (gerechten) Gesetze halten, aber nicht die vorherrschende Ideologie übernehmen zu müssen, dieser Gedanke, der von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen ausgeht und sie auf ein Grundrecht ― nämlich: zu leben, zu existieren, da zu sein ― bezieht, ist undenkbar, wie es scheint.
Wem aber nützt die Ziehung von Grenzen und das Regime ihre Überschreitbarkeit und Unüberschreitbarkeit? Wem nützt es, die bewohnbare Welt in Herrschaftsgebiete aufzuteilen? Ist es gerecht, dass es Zonen des Wohlstands und Zonen der Armut und des Elends gibt, dass die Bewohner der reichen Gegenden von der Unterdrückung und Ausbeutung der anderen profitieren?

Sonntag, 9. Juni 2024

Warum man unbedingt wählen gehen soll

Wieder einmal verstehe ich die Leute nicht. Geht wählen, sagen sie, das ist wichtig. Geht unbedingt wählen. Selbst wenn ihr keine Partei wählt, sagen sie, sondern ungültig wählt, geht wählen. Wählen zu können, ist ein Privileg, sagen sie. Das muss man nützen. Die Demokratie muss geschützt werden, sagen sie.
Das ist doch absurd. Niemand würde sagen: Geh in den Supermarkt, auch wenn du dort nichts kaufen willst, kauf irgendwas, gib dein Geld aus, Hauptsache, der Supermarkt macht Umsatz und bleibt weiterhin bestehen. So zu reden wäre doch plemplem. Wenn ich keine der Waren des Supermarktes haben will, warum soll ich dann hingehen und irgendwas kaufen? Warum die Existenz des Supermarktes schützen, wenn ich ihn weder will noch brauche?
Ich bin ja gar nicht gegen Demokratie, das habe ich schon oft gesagt. Vor allem nicht, wenn die Alternative Diktatur heißt. (Ich bin ja nicht blöd.) Aber ich bin gegen diese Art von Demokratie, bei der die Leute verdummt und entmündigt werden, gegen ein politisches System, das vorne Mitbestimmung spielt und wo hinten Konzerne und Lobbys die Strippen ziehen.
Selbstverständlich gehen die Leute gern wählen und halten das sogar für eine moralische Pflicht. Es schmeichelt einfach ihrer Eitelkeit, dass sie gefragt werden, und die Illusion, dass sie, zumindest als Masse, irgendetwas entscheiden, erlaubt ihn, großzügig über die Realitäten hinwegzusehen.
Warum aber eine Auswahl zwischen Parteien treffen, von denen keine meinen Minimalanforderungen entspricht – als da wären: offene Grenzen; bedingungsloses Grundeinkommen; uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine; keine Geschäfte mit Diktaturen; radikale Umweltschutzmaßnahmen, auch wenn das Konsumverzicht und Profitminderung bedeutet –, warum ja sagen zu einem System, das als Veränderung nur den Aufstieg von Populisten erlaubt, ansonsten aber nur an einem Weiterso interessiert ist, bei dem mal die pseudokonservativen Pappnasen, mal die pseudoprogressiven Pappnasen Regierung spielen (die alle neoliberale Pappnasen sind)?
Das politische System ist falsch („der Supermarkt“), das einem eine Auswahl zwischen verschiedenen Falschheiten nahelegt („diese Scheißware oder jene Scheißware“) und die kaum wahrnehmbaren Unterschiede (bei wie gesagt neoliberaler Grundhaltung) medial zu Debatten aufbläht, die hohler sind als Luftballons.
Ganz grob gesagt: Es gibt nichts zu wählen, wenn das Angebot Scheiße ist, und ohne hin andere bestimmen, wer welche Scheiße fressen muss.
Wählen zu gehen ist also deshalb wichtig, weil man damit beweist, dass man die eigene Lage nicht begreift oder nicht wahr haben will oder ganz zufrieden damit ist, betrogen und ausgebeutet und verdummt und einer Politik unterworfen zu werden, die neben allem anderen auch die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Kein Wunder also, dass neben den Medienkammern in erster Linie auch Politiker und Politikerinnen vor Wahlen ein Trommelfeuer betreiben: Go vote! Go vote“ Go vote! Und ein paar Unmündige und Verhetzte gehen für den Quatsch sogar auf die Straße. Zusammen mit einigen von denen, die die Probleme dieser Welt verursachen (Wirtschaft), sich schützend vor die Verursacher stellen (Politik) und mit Tralala und Blablabal von alle dem Ablenken (Medien, Unterhaltungsindustrie). Ein groteskes Bild, wie die, die etwas ändern könnten, freudig dafür demonstrieren, dass sie das Weiterso und Schlimmergehtimmer wählen dürfen.
Was ist die Alternative? Das kommt darauf an, wer fragt. Eine Alternative zur Massendemokratie könnte die kleinteilige, sich subsidiäre föderierende Basisdemokratie sein. Das setze freilich andere Formen des Wohnens und Wirtschaftens usw. usf voraus. Oder vielmehr, die notwendigen Änderungen Änderungen der Weisen des Zusammenlebens müssten Hand in Hand mit veränderten Formen Entscheidungsfindung und Machtausübung (Herrschaftsvermeidung) gehen.
Zukunftsmusik? Utopie? Spinnerei? Ach, und das Jetzige ist besser?
Manche sagen ja, sehr raffiniert: Geht wählen und wählt demokratische Parteien, damit nicht die Rechtspopulisten (und horribile dictu Rechtsextremen) immer stärker werden. Tut mir leid, aber ich wurde schon mal von demokratischen Parteien regiert und ich muss sagen: Die waren das Problem, nicht die Lösung. Dass klitzekleine Unterschiede zwischen den Nichtrechtspopulisten und den Rechtspopulisten bestehen und ich diese von Grund auf verabscheue, macht jene für mich nicht wählbar. Gerade ihre Politik war und ist es ja, die den Aufstieg des Rechtspopulismus ermöglicht und gefördert hat. Ihre Fremdenfeindlichkeit, beispielsweise, mag gemäßigt und freundlich daherkommen, während der Rassismus von ganz rechts abgrundtief bösartig ist. In der Sache (nicht im Einzelfall) wollen sie dasselbe: Den Leuten nach dem Maul stinken, Ängste vor Überfremdung und Kriminalität schüren, deportieren („abschieben“), Grenzen der Wohlstandszone gegen arme Schlucker zementieren, kurzum, die draußen lassen oder wieder nach draußen schaffen, über deren Existenzrecht nicht diese, sondern eine nationalstaatlich-rassistisch inspirierte Bürokratie entscheidet. Und dem soll ich meine Stimme geben? Nein. Wenn daraufhin die Rechten kurz vorm Fackelzug zur Reichskanzlei stehen, dann finde ich das schrecklich, aber wenn es passiert, dann nicht, weil die nicht genug Leute „demokratisch“ gewählt haben, sondern weil diese Art von Demokratie ohnehin auf Populismus beruht, was in ruhigen Zeiten zur Beruhigung, in aufgeregten Zeiten aber eben zur Aufstachelung genutzt wird. Wenn irgendwann die ekelhaft Dummen in der Mehrheit sind, dann ist das eben so, ich bin ja sowieso nicht dafür, dass die Mehrheit entscheidet.
Es bleibt dabei: Wer wählen geht, ist mitschuldig an der Politik, die gemacht wird. Wer wählen geht, soll sich hinterher nicht beschweren, dass so und so gewählt wurde. Er hat ja eingewilligt, dass es so funktioniert, dass Demokratie Täuschung und Entrechtung zum Zwecke der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse (Ausbeutung, Zerstörung, Verblödung) ist.

Leute (3)

X. erzählte vor vielen Jahren im Nachruf auf den völlig unbedeutenden stalinistischen Parteischriftsteller Y., dass er als Jugendlicher zusammen mit anderen bei diesem zu Hause zu Gast gewesen sei und dessen Geschichten gelauscht habe. Y. habe vom Kommunismus gesprochen und dabei Pfeife geraucht. Den Geruch des Tabaks habe er, X,. als so angenehm empfunden, das er damals beschlossen habe, sich für Kommunismus zu interessieren. Das mag so gewesen sein oder eine putzige Phantasie. Jahrzehnte später noch kein kritisches Verhältnis zur eigenen unpolitischen Irrationalität zu haben, ist freilich ein Armutszeugnis. Wenn Lenin, Trotzki, Stalin, Mao und Pol Pot guten Tabak gepafft hätten, wären Massenmord und Unterdrückung eine gute Sache gewesen? Hätte sie stinkenden Knaster geraucht, dann hätte man den Bolschewismus in Frage stellen müssen?
Inzwischen ist X. auch schon tot. Unsere Freundschaft, wenn es denn eine war, war von ihm schon lange vorher beendet worden. Ich finde es ja traurig, dass mir, wenn ich an ihn denke, ausgerechnet sein dümmlicher Nachruf auf Y. einfällt. Aber was soll ich machen, seine Romane und seine Kurzprosa fand ich immer schon öde und ressentimental, ich mochte ihn weniger als Autor denn als witzigen, gebildeten und nach ein paar Vierteln gemütvollen Menschen. Aber auch das war dann eben irgendwann vorbei. Dass er auch intrigant und beleidigend sein konnte, Menschen für Zwecke benutzte, ignorierte ich lange. Heute ist es mir egal. Schlechte Texte aber bleiben mir lange in ärgerlich Erinnerung.
Herr Y. war mir übrigens von Grund auf unsympathisch, weil er gern „hintenherum“ Leute denunzierte, die seiner Meinung nach nicht auf Linie waren. Begegnet bin ich ihm nur ein einziges Mal, da war er ein wirrer, verbitterter alter Mann, der der Sowjetunion nachtrauerte und gern alle, die in irgendeinem Punkt andere Auffassungen vertraten als er, als „Kanalarbeiter“ bezeichnete. Was mir für einen Kommunisten doch ein ziemlich klassenfeindlicher Ausdruck zu sein schien.

Leute (2)

Um mir zu bestätigen, dass X. der Dummschwätzer ist, für den ich ihn seit langem halte, hätte sein Verlag ihn nicht mit „Was Zeitgenossenschaft bedeuten kann, ist seit Walter Benjamin nicht mehr so eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden“ bewerben müssen, mir hätte schon der vorangegangene Hinweis auf „sein stupendes Wissen über sämtliche Trends in Kunst, Kino, Fernsehen, Literatur, Musik, Theater, Theorie und Politik, das bis in die feinsten Verästelungen der Gegenkultur reicht“ genügt. Ich nehme an, „Gegenkultur“ ist das Codewort für Konformismus, und „Zeitgenosse“ bedeutet hier einfach intellektueller Komplize. Stupend!

Donnerstag, 6. Juni 2024

Anzug und Krawatte

Immer wenn ich jemanden in Anzug und Krawatte sehe, frage ich mich: Wer soll betrogen werden? Irgendetwas Unehrliches, zumnest Unechtes ist da doch im Gange, denke ich mir. Schließlich trägt man ein Kostüm nur, um zu verbergen, wer und was man ist, und darzustellen, was und wer man eigentlich nicht ist, aber anderen zeigen will, dass man es doch ist.
Anzug und Krawatte ist nichts praktisch und bequem und in den allermeisten Fällen auch nichts angenehm anzusehen. Zu viele billige Anzüge und grässliche Krawatten sind im Umlauf. Und was die hochpreisigen und maßgeschneiderten Sachen betrifft: Eine teure Lüge ist auch eine Lüge, meist sogar eine schlimmere als eine billige.
Wer wirklich ernst genommen werden will, soll sich mit Wort und Tat beweisen, er hätte es dann nicht nötig, das anerzogene Bedürfnis der Leute nach „Seriosität“ zu befriedigen. Doch der Code funktioniert und wird weiter funktionieren. Sender und Empfänger sind da eines Sinnes.
Anzug und Krawatte sind freilich keine Uniformen. Ich spreche da lieber von Äquiformen. Vergleichbares gibt es bei Frauen, Jugendlichen und Kindern auch. Es geht um Gleichförmigkeit bei großer Vielfalt verschiedener Formen. Obwohl die Sachen alle anders aussehen, sind sie doch alle vom selben Typus ― und sehe im Grunde gleich aus: erwartbar, uninteressant, systemerhaltend.
Undenkbar also, dass Angestellte von Banken und Versicherungen, leitende Beamte, Politiker in offizieller Funktion, gewisse Tefau-Journalisten und „Experten“ usw. usf. nicht Anzug und Krawatte trügen. Also genau die Leute, denen ich auf keinen Fall vertraue.
Anzug und Krawatte signalisieren: Ich bin ein Teil des Systems. Ich passe mich nicht nur an und mache mit, sondern ich unterwerfe mich sogar noch dem absurdesten Reglement. Es gibt auch Männer, die mit Anzug und Krawatte ins Theater oder Konzert gehen. Sie halten das wohl für „gehobene“ Kleidung, dem „feierlichen“ Anlass angemessen. Entsprechend lächerlich ist der betroffene Teil des Kulturbetriebs dann auch. Da kann von Bühne und Podium noch so sehr der Anspruch auf Gesellschaftskritik, gar Umsturz der Verhältnisse wabern, im Publikum sitzen Anzug und Krawatte und lachen die aus, die glauben, mit Kunst etwas anderes verändern zu können als das eigene Einkommen (und das der Vermittler und Verkäufer).

Dienstag, 4. Juni 2024

Zum Toben der Elemente

Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich nicht mitjammere, wenn es um die Zerstörungen durch die aktuellen Überflutungen geht? Sicher tun auch mir die Leute leid, die Teile ihres Hab und Guts verloren haben (und die Toten und Verletzten sowieso), aber andereseits gibt es in ihrem Land Versicherungen, öffentliche Hilfen und ein gutes soziales Netz. Anderswo haben Menschen das nicht und sind wirklich arm dran, auch wenn sie schon vorher bettelarm waren. Und dann ist da noch die durchaus auch moralische Frage, ob man nicht durch einen anderen Lebensstil, einen mit weniger wassernaher Verbauung, mit sehr viel weniger Asphalt und Beton und dafür mit mehr Freiraum für Flüsse und Bäche die Wirkung von unerwartet starkem Regen und außerordentlichen Pegelständen zumindest abmildern hätte können. Wenn man denn aus vorausgegangenen Flutkatastrophen etwas hätte lernen wollen.
Ich persönlich sehe die Wassermaßen gern. Mich betreffen sie ja auch nicht. (Mich betrifft aber sehr wohl der oben genannte Lebensstil, der ja auch Energievergeudung, Abgase und Müll umfasst.) Ich nehme Überschwemmungen bevorzugt von der ästhetischen Seite. Und von der, wie soll ich sagen, apokalyptischen. (Apokalypse heißt übrigens Offenbarung und nicht Weltuntergang.) Die Überheblichkeit des Menschen findet da jäh und eindrucksvoll ihre Grenze an der Urgewalt der Elemente. Hin und wieder zeigen eben Feuer, Luft, Wasser und Erde mit Bränden, Stürmen, Fluten, Erdbeben und Vulkanausbrüchen, dass der Mensch nicht Herr der Welt ist. Dass er sich bescheiden sollte und seine Eingriffe und sein Vordringen in das, was er selbst Natur nennt (die Natur selbst weiß nichts von Natur), gefälligst auf ein Mindestmaß zu beschränken hätte. Er hat ja ganz offensichtlich die Folgen seines Größenwahns und seiner Gier nicht im Griff.
Mich befriedigt dieser Gedanke. Ich halte vom Menschen als technischem Weltgestalter nämlich nicht viel, eigentlich gar nichts. Ich bezweifle zwar, dass elementare Katastrophen im engeren Sinn göttliche Strafen sind. Aber Warnungen sind sie. Angebote, doch endlich umzudenken und etwas am Naturverbrauch und Naturumbau zu ändern. Allerdings bezweifle ich auch, dass das in großem Stil passieren wird. Immerhin ist es nicht mit den Kapitalinteressen vereinbar, also nicht mit der Politik, also nicht mit den Medien, also nicht mit der Masse der Leute. Das ist traurig.
Kommt, Elemente, tobt euch aus!

Leute (1)

X. klagt, sie wisse nicht, wen sie wählen solle. „Der Y. ist mir noch am sympathischsten, sagt sie. „Der korrupte Dummkopf?, frage ich. „Davon weiß ich nichts, sagt sie. „Wäre schon gut, wenn man sich vorm Wählen informiert“, sage ich. (Vor ein paar Jahren wählte sie Kurz, weil der ihr so sympathisch war.) X. zuckt die Schultern und jammert weiter. Es sei zwar schwierig sagt sie, aber zur Wahl gehen müsse man ja, das sei wichtig, auch wenn man dann weiß wähle. „Man muss nicht zur Wahl gehen, es gibt keine Wahlpflicht“, halte ich fest. Na ja, meint sie, es sei keine gesetzliche Pflicht, aber Bürgerpflicht. „Ja, sage ich. Geh nur schön brav wählen, um zu zeigen, dass du ein System unterstützt, in dem alle Politiker und Parteien für dich genau genommen unwählbar sind. Aber beschwer dich dann hinterher nicht, wenn dann wieder Gesindel gewählt wurde und wieder Gesindel regiert.“