Sonntag, 23. Juni 2024

Der Fremde muss weg!

Der Fremde ist der, der nicht hierher gehört, der also nicht hier sein soll und darum besser nicht hier wäre. Das ist die, nie so klar ausgesprochene, Einstellung, die allen hiesigen Debatten über „Migration“ zu Grunde liegt, egal, ob man ausreichende, aber gesteuerte. oder nur ganz wenig oder überhaupt keine Einwanderung will. Eben weil diese grundsätzliche Einstellung nie ausgesprochen wird ― außer als gegrölte Parole ―, gilt sie unangefochten und kann nicht in Frage gestellt werden.
Der Einwanderer ist der Fremde, der schon hier ist. Wäre der Fremde dort geblieben, wo er herkommt, gäbe es kein Problem, denn dort gehört er hin, hierhin nicht. Der Einwanderer ist also von vornherein der Unerwünschte, der Probleme schafft, weil er ein Problem ist.
Diejenigen, die für Massendeportationen schwärmen, unterscheiden sich im Prinzip nicht von denen, die Zuwanderung begrenzen und steuern wollen, die „im großen Stil abschieben“ wollen, die „Bleibeperspektiven“ wie Naturtatsachen behandeln statt wie Effekte änderbarer Gesetze, die Integration sagen und Assimilaton und wirtschaftliche Verwertbarkeit meinen. Die Grundhaltung ist dieselbe: Fremde sollen eigentlich nicht hier. Je weniger von ihnen, desto besser, die Unbrauchbaren, Störenden sollen auf jeden Fall weg.
Dass der Fremde (von den jeweils gemachte Gesetzen abgesehen) dasselbe Recht haben könnte, hier zu sein, wie der Einheimische, ist undenkbar. Hier ist hier, dort ist dort, hier sind wir, fremd ist fremd, der Unterschied muss sein. Auch wenn der Einheimische sonst nichts hat (und viele haben allerhand, einige sogar sehr viel), das kann ihm keiner nehmen, dass er ein Einheimischer und kein Fremder ist. Darauf stützt er sich, das kann er zum Dreh- und Angelpunkt seines Selbstverständnisses und in der Folge der Ablehnung des Verstehens anderer machen.
Dass, wenn man es rational betrachtet, kein einziges der realen Probleme, die die Einheimischen haben, gelöst wäre, wenn es keine Fremden mehr im Land gäbe, daran kann und will der nicht denken, der alle seine Probleme und die derer, die er für Seinesgleichen hält, im vermeintlichen Problem der Anwesenheit von Fremden bündelt und chiffriert.
Höhere Einkommen, niedrigere Lebenshaltungskosten, billigere Energie, bezahlbarer Wohnraum, bessere Infrastruktur, bessere Bildung, weniger Kriminalität, weniger Armut usw. usf., von wirksamer Klimapolitik gar nicht zu reden ― nichts davon ergäbe sich, wenn die Fremden verschwänden, zum Teil sogar das Gegenteil. Fremde verrichten notwendige Arbeit, zahlen Steuern und Abgaben (und bekommen aus dem Sozialsystem weniger heraus).
Aber es geht selbstverständlich gar nicht um eine Kosten-Nutzen-Rechnung, auch dem Fremdenfeind nicht. Er will die Fremden nicht hier haben, weil er einen schwachen Gegner will, gegen den er sein kann, ohne seine eigene Lage wirklich zu durchdenken und seine wirklichen Probleme und deren Ursachen angehen zu müssen. Er investiert Affekte, nicht Rationalität. Er ist, wovon auch immer, gekränkt und will seinen Groll pflegen. Dazu braucht er ein Opfer.
Der Fremde hat nicht das Recht, hier zu sein, also hat er eigentlich gar keine Rechte, denn wenn er, wie er sollte, verschwände, verschwänden auch alle angeblichen Rechte mit ihm. So sollte es sein. Insofern ist der Fremdenhass mit seinem Wunsch nach Rechtlosigkeit seines Opfers, ein Vorgriff auf den Zustand, den er erst herstellen will: Fremdenlosigkeit. Der Mensch ohne Rechte existiert eigentlich gar nicht, er ist fast schon weg, nur noch physisch anwesend, aber nicht als ansprechender und ansprechbarer Mensch, dem gegenüber man Verantwortung und Verpflichtung haben könnte. Dass da welche sind, die eigentlich nicht richtig hier sind, weil sie nicht das recht haben, hier zu sein, dieser Widerspruch muss aufgelöst werden, und sei es mit Gewalt.
Dass da welche sind, die nicht hier sein sollten, aber hier sind, erlaubt nicht nur den Individuen, Ressentiments zu pflegen, es lässt sich auch zur Anstachelung von Massen verwenden. Wobei das eine auf das andere zurückwirkt: Je mehr Fremde zum Thema gemacht werden (und ihr Verschwinden als Lösung propagiert wird), desto eher glauben die die Leute, dass da ein reales Problem mit realen Lösungen vorliegt. Weil aber aus verschiedenen Gründen niemand die unerwünschten Fremden zum Verschwinden bringen kann (etwa, weil sie Rechte haben, weil sie Nutzen bringen, weil internationale Verpflichtungen bestehen), ist und bleibt das Thema dauerhaft eines, das mobilisierende Ablenkung erlaubt.
Auch wer überhaupt keine Nachteile durch die Anwesenheit von Fremden je erlitten hat und kaum Fremde kennt, wird in unterschiedlichem Maße zustimmen, dass es zu viele sind und, wenn irgend möglich, nicht mehr werden dürfen, sondern sogar weniger werden sollten.
Wie ein Fremder ― der für sich selbst ja gar kein Fremder ist, er ist schließlich vertraut mit sich, spricht mindestens eine Sprache und hat Erfahrungen, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Wünsche, Ängste ― die Sache sieht, kommt fast nie zur Sprache, interessiert in den politischen Debatten, die die Einheimischen mit sich selbst führen, überhaupt nicht. Da er ein Problem ist, weil sein Hiersein ein Problem ist, ist das sein einziges Problem, und das kennt man, dazu gibt es nichts zu sagen, das setzt man voraus. Man will nichts von ihm wissen. Es geht allenfalls darum, ihn, wenn man ihn schon nicht loswird, möglichst nutzbringend einzusetzen, was er an Erfahrungen und Fähigkeiten mitbringt, ist nicht von Interesse, nur was mit ihm angefangen werden kann. Seine Existenz, bevor er ein Fremder wurde, ist belanglos, er zählt nur als der, der hier ist und dessen Vorhandensein nicht etwa er gestalten darf, sondern in Form von Rechten und Pflichten und Erwartungen reguliert werden muss.
Es genügt nicht, dass der Fremde, wie jeder im Geltungsbereich von Rechtsvorschriften, diesen unterworfen ist, er muss diese Unterwerfung auch ausdrücklich zu wollen behaupten und zudem außer den Normen auch noch die Werte, auf die jene angeblich zurückgehen und die sie ausdrücken, als allein richtig ausdrücklich anerkennen. Wehe, wenn nicht.
Mit dem Eintritt in die einheimische Rechtssphäre verliert der Fremde jedes Recht auf seine Herkunft, während sie ihm andererseits dauernd angehängt wird und in jedem Zusammenhang markiert werden muss. Seine Andersheit, die fraglos vorausgesetzt, in ihrer Besonderheit aber nicht erfragt wird, gilt als problematisch und wertlos. Was er denkt, was er glaubt, was er hofft, was er will, was er nicht will ― spielt keine Rolle (außer als Widerstand gegen seine Integration). Er soll wollen, was man von ihm erwartet: Sich innerhalb der Volkswirtschaft nützlich zu machen. Das aber folgerichtig nach Regeln, die ausschließen, dass der Fremde einfach sein eigenes Ding macht oder dass sich am Funktionieren des politischen, ökonomischen und kulturellen Systems etwas grundlegend und nachhaltig ändert.
Der hier befindlich Fremde ist also nur erträglich, wenn er „vereinheimisiert“ wird, angepasst, assimiliert, entfremdet.
Der Gedanke, dass jeder Mensch das Recht haben könnte, sich überall auf der Welt, in jeder ihm erreichbaren Gegend aufzuhalten und sich nach Wunsch und bei Gelegenheit dort niederzulassen und sich dabei zwar an die (gerechten) Gesetze halten, aber nicht die vorherrschende Ideologie übernehmen zu müssen, dieser Gedanke, der von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen ausgeht und sie auf ein Grundrecht ― nämlich: zu leben, zu existieren, da zu sein ― bezieht, ist undenkbar, wie es scheint.
Wem aber nützt die Ziehung von Grenzen und das Regime ihre Überschreitbarkeit und Unüberschreitbarkeit? Wem nützt es, die bewohnbare Welt in Herrschaftsgebiete aufzuteilen? Ist es gerecht, dass es Zonen des Wohlstands und Zonen der Armut und des Elends gibt, dass die Bewohner der reichen Gegenden von der Unterdrückung und Ausbeutung der anderen profitieren?

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