Freitag, 19. März 2021

Jeder Einzelne zählt

Ein bisschen Schwund ist immer. Mit Verlust ist zu rechnen. Die Vorteile überwiegen die Nachteile. Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Opfer müssen gebracht werden. Augen zu und durch.
Es ist nicht überraschend, aber trotzdem widerwärtig, dass, wenn's drauf ankommt, statt einer Ethik, bei der jeder Mensch gleich kostbar ist, nur blanker Utilitarismus zum Zuge kommt: das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl; der Rest hat eben Pech.
 
Das schrieb ich unlängst in einem sozialen Netzwerk. Und postete dazu eine Photographie aus Auschwitz von einem Haufen Brillen.
Darauf antwortete mir ein Bekannter, der in letzter Zeit fürs „Mitlaufen“ plädiert:
 
Was bedeutet es denn, dass jeder Mensch gleich „kostbar“ ist in der Realität einer arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft?
Darf der eine mit seiner offenen Tuberkulose im Theater rumhusten und sein Umfeld infizieren, weil er nicht an die heilsame Wirkung der Antibiotika glaubt oder deren Nebenwirkungen fürchtet?
Dürften Impfverweigerer den Erfolg der Pockenimpfungskampagne gefährden und Millionen von Opfern riskieren, weil sie individuell Nebenwirkungen befürchten?
Dürfen überall Windräder gebaut werden, nur nicht vor meiner Haustür?
Oder haben wir es nicht auch mit vielen Menschen zu tun, die sich allein schon „aus Prinzip“ verweigern ― oder weil es Spaß macht oder weil „Danke Merkel“?
Einer größtmöglichen Menge an Menschen ein größtmögliches Glück zu ermöglichen wollen, überhaupt Glück zum Maßstab zu erheben, ist doch ein hehres Ziel - und steht in der Ethik dem Nützlichkeitsgedanken doch ausgesprochen stark entgegen.
Der Rest hat eben Pech?
In der Tat, es gibt so etwas, wie Pech, es gibt Menschen, die man mit größtem Einsatz von Ressourcen, Respekt und Achtung nicht glücklich machen kann und es gibt Menschen, die mit einem sehr kleinen Einsatz von Mißachtung viele Menschen unglücklich machen können.
Wo Menschen gemeinsam agieren werden, je größer, je ausdifferenzierter die Kohorte, Entscheidungen getroffen, die dem einzelnen Kompromiss und auch Fügsamkeit abfordern.


Ich antwortete ihm:

„Größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl“ ist die (von Jeremy Bentham stammende) Definition des Nützlichkeitsdenkens (Utilitarismus) und steht also diesem nicht entgegen ― allerdings meinem Verständnis nach jeglicher Ethik, sofern diese auf der völligen Gleichwertigkeit (ich sagte Kostbarkeit) jedes Einzelnen mit jedem anderen Einzelnen beruht, gemäß der Goldenen Regel (Behandelt die Menschen so, wir ihr von ihnen behandelt werden wollt).
Du sprichst von einer „arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft“. Wenn Du damit meinst, dass die Verbindung von Profitmaximierungsstreben und konsumistischem Hedonismus, die man Kapitalismus nennt, den diesem Unterworfenen entfremdete Lebensweisen aufzwingt, wären wir uns einig. Es gibt keine richtige Pandemiebekämpfung in einer falsch organisierten Gesellschaft.
Soll der von Dir anscheinend favorisierte Mitmach-Pragmatismus etwa auf eine „normative Kraft des Faktischen“ hinauslaufen? Nach der Devise: Weil es nun einmal so und so ist, muss man sich, ob man will oder nicht, dem anpassen und so und so handeln? Das ist nicht mein Ansatz und nicht einmal mein Thema. Ich bin ein Radikalinski, ein Fundi, ein Extremist und was der Beschimpfungen mehr sind. Mir geht es nicht ums bloß Aktuelle, sondern ums Grundsätzliche und Grundlegende. Ethik und Gesellschaftskritik, meine Tätigkeitsfelder, haben es mit dem Kontrafaktischen zu tun. Mit dem, was sein soll und nicht ist, und dem, was ist, aber nicht sein soll. Ich kritisiere also die schlechten Verhältnisse, aus denen schlechte Verhältnisse hervorgehen. Die Coronalügnerei etwa, die aus der „Normalität“ hervorgeht, interessiert mich nicht als solche, sondern eben als Effekt des Normalen, das ich für schlecht halte: den Weltbürgerkrieg, die Weltwirtschaftsunordnung, die Weltuntergangsmaschinerie, wie immer man es nennen will. Ich sage also im Unterschied zu Dir (ich paraphrasiere) auf keinen Fall: Wenn wir schon in der Scheiße sitzen, lasst uns das Beste daraus machen und Scheiße fressen.
Arbeitsteilung und Ausdifferenziertheit, nun ja. Du hast bei anderer Gelegenheit das Bild von der „Titanic“ gebraucht. Dort ging es auch sehr arbeitsteilig und ausdifferenziert zu! Die einen feierten im Ballsaal, während die anderen unter Deck Kohlen schippten; im Zwischendeck wurde auf engste Raum gestunken und auf bessere Zeiten gehofft. Leicht zu erraten, wer schneller im Rettungsboot war. Das Auflaufen auf den Eisberg und das Sinken und Ertrinken war kein zufälliges Unglück, sondern zwangsläufige Folge der Hybris einer Klassengesellschaft. Man baute ein Luxusschiff (Luxus für die einen, Verheizung für die anderen), das man selbstherrlich für unsinkbar erklärte. Es ist letztlich egal, ob das Ding schlecht gesteuert wurde, es hätte nie gebaut werden dürfen. Du hast mir vorgehalten, dass ich zur Rettung beim Untergang der „Titanic“ nichts beitrüge. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich bin Philosoph, ich kritisiere den Bau solcher Schiffe und die Verhältnisse die dazu führen. Ich fordere andere Arten Weisen des Reisens und eine andere Gesellschaft, die ohne Luxusdampfer und fossile Brennstoffe und Ausbeutung auskommt.
Arbeitsteilung gibt es seit tausenden von Jahren. Nicht die Frage, ob sie nötig ist, um ein bestimmtes zivilisatorisches Niveau zu erreichen und zu erhalten, beschäftigt mich, sondern das Problem, wie sie gestaltet werden müsste, um ein freies und gerechtes Zusammenleben zu ermöglichen und nicht zu verhindern. Wenn Arbeitsteilung und Gerechtigkeit und Freiheit nicht zusammenpassen, dann spräche das gegen die Arbeitsteilung, nie aber gegen das Ziel eine gerechten und freien Zusammenlebens. ― Aber vielleicht geht es bloß darum, dass es möglich wäre, das Zusammenleben so zu ordnen, dass nicht jeder alles machen muss, aber niemand jemanden ausbeutet?
Ob es dabei wirklich ein Problem der Ausdifferenzierung von Lebensstilen ist, dass jemand mit offener Tuberkulose im Theater herumhustet, sich Impfungen verweigert, gegen Windräder demonstriert usw. usf.? Was heißt hier „dürfen“? Gemessen an einer woher zu nehmenden Norm? Nützlichkeit? Für wen? Glück? Wessen Glück?
Ich bin übrigens sehr dafür, eine Kritik der Lebensweisen zu praktizieren. Ethik und Gesellschaftskritik gehen für mich ohnehin Hand in Hand. Wer darf wo husten? Wer soll sich wogegen impfen lassen? Welches Verhältnis zur Erzeugung und zum Verbrauch von Energie ist angemessen? Dazu passend: Dürfen Menschen Flugreisen machen, obwohl das eine massive Schädigung der Umwelt bedeutet? Dürfen sie das, einfach, weil es ihnen Spaß macht, weil es sie irgendwie glücklich macht, egal, was die Folgen für andere sind? Oder ist das Flugzeug als Verkehrsmittel aus ethischen Gründen nicht völlig abzulehnen? Welche Folgen hätte das für die Ökonomien, die vom Massentourismus zu profitieren versuchen?
Um das zu beantworten braucht es klare ethische Kriterien und nicht kurzfristige technische Lösungen. Schon gar nicht als Projekt derer, die dauernd ein „Gemeinwohl“ behaupten, ohne ein solches nachweisen zu können. Bisher wurde noch jedes große politische Verbrechen mit dem „Gemeinwohl“ und einer dringend notwendigen gesellschaftlichen Gefahrenabwehr begründet. Holocaust, GULag, Kulturrevolution, Killing Fields …
In einer unfreien Gesellschaft allerdings ― und in einer solchen leben wir, trotz aller individuellen Freiheiten, weil die Rahmenbedingungen unethisch, global wie lokal ― ist eine Abwägung zwischen dem Gut des Gemeinwohls, das dieses der schönen Worte immer nur ein Vorwand für die Macht- und Profitinteressen weniger ist, und dem Gut der individuellen Selbstbestimmung, die bei Lichte besehen immer nur eine auf Widerruf gewährte Zurüstung für die Mitwirkung an den herrschenden Verhältnissen ist, unter solchen Bedingungen also ist diese Abwägung absurd. Selbstverständlich kann auch in einer Räuberbande darüber diskutiert werden, wie die Beute fair zu verteilen ist, aber das Entscheidende ist doch, dass die Beute auf Raub beruht und also auf Unrecht.
Du kannst hier einwenden, man könne ja wohl nicht warten, bis die Gerechtigkeit im Ganzen erreicht sei, wenn man jetzt möglichst richtig handeln wolle. Das stimmt. (Auch wenn es nicht mein Thema ist.) Nur folgt daraus nicht, dass man dem Großen Unrecht zustimmen müsse, um ab und zu ein kleines bisschen Recht zu verwirklichen.
Wenn ein Zweck angeblich nur mit Mitteln zu erreichen ist, die diesem Zweck widersprechen, dann mag das in irgendeiner Weise effektiv sein, aber die geschichtliche Erfahrung lehrt, dass in solchen Fällen ganz andere Zwecke verfolgt und ganz andere Ziele erreicht werden: Die Emanzipation einer Klasse durch die Liquidierung einer anderen, eine Diktatur zur Sicherung von Freiheiten, Massenmord und Zerstörung zur Verwirklichung einer besseren Gesellschaft, Bespitzelung, Gängelung, Manipulation zur Durchsetzung von „Harmonie“: Wir wissen, was daraus wurde und ahnen, was daraus nur werden kann.
Reden wir also über Zwecke. Wie war das mit der „Titanic“? Das Schiff sinkt, Menschen ertrinken und ich rede von den Verbrechen der Reederei? So ist es aber ja gar nicht. Das Schiff sinkt nicht. Der angeblich Eisberg ist eine wenig bedrohliche Eisscholle. Aber die Reederei versucht, das Schiff zu versenken. Versicherungsbetrug? Mir egal, welchen Profit sich wer wodurch verspricht. Mir geht es um die Profitmacherei als solche.
Manche freilich müssen drunten sterben, / Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, / Andre wohnen bei dem Steuer droben, / Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne. (Hoffmannsthal) Ist dem so? Muss es so sein? Kann man wirklich nichts daran ändern?
Zwischen Pech und Pech ist allemal ein Unterschied. Zwischen dem Pech, auf das niemand Einfluss hat, und dem Pech, das die einen über die anderen ausgießen. So zu tun, als seien Todesfälle, die durch schlecht erforschtem, fragwürdig funktionierende und verführt in Umlauf gebrachte Impfstoffe zu Stande kommen, einfach eine Laune der Natur, ist in etwa so sinnvoll, wie es wäre, Abtreibung und plötzlichen Kindstod gleichzusetzen.
Es geht nicht ums Glück. Ums Glück, geht es, wenn überhaupt, nur am Rande. Es geht um Gnade. Anders gesagt: um Würde. Ja, jeder einzelne Mensch ist kostbar, ist auf seine Weise einzigartig, einmalig und von Grund auf bejahenswert. Unterschiede sollte man hingegen unbedingt bei den Handlungen machen. Es gibt nämlich gute und schlechte ― nicht nur effiziente und ineffiziente. Was den Einzelnen opfert, irgendeinen, kann nicht gut sein. Ich weiß, man kann sich allerhand Dilemmata ausdenken (Wenn Terroristen eine voll besetzte Passagiermaschine entführen und sie in eine Stadt zu steuern drohen, darf man sie abschießen?), und mir ist auch klar, dass man den, der in der Praxis anders handelt, als es die Theorie gebietet, nicht immer wird verurteilen wollen.
Aber Ethik durch die Quantifizierung von Rechten zu ersetzen, führt unweigerlich zur Entmenschlichung. Lebenswertes und lebensunwertes Leben: Die Gesellschaft lässt bereits zu, dass Kinder mit Down-Syndrom pränatal exekutiert werden. Soll sich, wer krank und alt ist, nicht besser zum (ärztlich unterstützten) „Selbstmord“ entschließen? Wäre es nicht besser, Menschen so zu züchten, dass bestimmte Erbkrankheiten nicht mehr vorkommen ― und vielleicht sozial unerwünschte Verhaltensweisen auch nicht mehr?
Das eben meint „Biopolitik“: Der Einzelne ist nur noch eine Rechengröße, es kommt auf das Wohl und Wehe einer wie auch immer zu definierenden Bevölkerung an. Dazu passt die Beiläufigkeit, mit der Grundrechte ausgesetzt werden, die doch allesamt Schutzwehren des Einzelnen vor dem Staat sein sollen, also keineswegs Luxusgüter, die der Bequemlichkeit dienen, sondern Alltagserfordernisse zur Wahrung von Würde und Anstand, von Freiheit und Ordnung, von Gerechtigkeit und Sicherheit.
Gemeinnutz geht vor Eigennutz, die Nazi—Redensart ist nur die wohlklingendere Variante von: Du bist nichts, dein Volks ist alles. Dagegen ist daran festzuhalten, dass jeder Einzelne das höchste Gut ist und keiner mit einem anderen verrechnet werden darf, dass die Gesellschaft nur aus den Verhältnissen der einzelnen zueinander besteht und danach zu beurteilen ist, wie frei und gerecht diese Verhältnisse sind; darüber hinaus hat Gesellschaft nicht nur keinen Wert, als eigenständige Entität existiert sie gar nicht und kann darum gegenüber dem Einzelnen auch keine Rechte haben.
So aber wie gerade jetzt der entfesselte, sich selbst ermächtigende Nationalstaat verfahren ja auch immer schon die mutinationalen Konzerne: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. (In der BRD werden „wegen Corona“ die Renten nicht erhöht, also gekürzt.) Die Kosten der Politik trägt letztlich der Einzelne ― und jeder ist ein Einzelner ―, von den Effekten profitieren die, die am Ruder sind.
Und das alles soll man hinnehmen? Gar kritiklos? Nein, mitmachen, wenn das jeweils alternativlose Modell von Realität und Handlungszwang immer wieder umerzählt (erst ging es darum, jedes Leben zu retten, bis hin zum Schwachsinn von „Zero-Covid“, jetzt genügt es, wenn die Vorteile die Nachtzeile überwiegen) undc den Leuten eingeredet wird, sie dürften, ja sie müssten auf Kosten anderer leben, das kann und das will ich nicht. Da liegen Welten zwischen uns.

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