Samstag, 9. November 2019

Notiz zum „Mauerfall“

Beim Wiedersehen der 30 Jahre alten Fernsehbilder stelle ich fest, dass mir die hysterischen Wahnsinn-Wahnsinn-Wahnsinn-Schreier so unsympathisch sind wie damals. Ja, sie konnten plötzlich in den Westen. Na und? Die SED hatte eines wesentlichen Repressionsmittel aus der Hand gegeben. Doch bis 1961 hatte es in Berlin bekanntlich gar keine Mauer gegeben. Viele Menschen nutzten das, um die SBZ oder die DDR zu verlassen. Aber viel, viel mehr Menschen taten das nicht. Im Gegenteil. Sie blieben wo sie waren und machten mit. Jahre- und jahrzehntelang dienten sie auf die eine oder andere Weise dem Regime. Jeder sechste Erwachsene war SED-Mitglied. Fast alle plapperten im vorgegeben Jargon, katzbuckelten vor der Macht, winkten und jubelten, wo zu winken und jubeln war. Dass der Konformismus erzwungen war, ändert nichts daran, dass viele im Herzen angepasst waren. Über eine halbe Million Menschen fungierten als Stasi-Spitzel. Heute schwärmt man von der gegenseitigen Hilfsbereitschaft, damals wusste man, ein falsches Wort gegenüber der richtigen Person, und du gehst in den Knast. Heute ist viel vom „Mut“ der DDR-Bürger die Rede. Ich verstehe nicht, worin der bestanden haben soll. Lange Zeit waren sie Mitläufer und Mittäter (die Zahl der Oppositionellen fiel kaum ins Gewicht). Als andere auf die Straße gingen, gingen sie mit. Ihre Parolen wurden zügig dümmer. Ihr Ziel war rasch Westmark und Konsumfreiheit. Der Untertan verachtet die Macht, die ihm nichts mehr antun kann. Vielleicht ist das eine Ursache für die ostdeutsche Melancholie: Sie hatten ihre Unterdrückung geliebt, dann verloren und können jetzt nicht zugeben, dass sie sie je geliebt haben. Dafür muss es Schuldige geben. Die Fremden und die, die ― wie ich ― ohne Respekt für die „Lebensleistung“ (Speichellecken, Heucheln, den Betrieb beklauen, Denunzieren ...) der Ossis sind. Beim Wiedersehen der alten Fernsehbilder fällt mir das alles wieder ein.

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