Donnerstag, 3. Januar 2013

Heißt „konstruiert“ denn „inexistent“?

Das Internetportal „queer.de“ ist nicht gerade dafür bekannt, seine Nutzer mit intellektuellem Kram zu behelligen. Man befasst sich dort für gewöhnlich lieber mit Klatsch und Tratsch, mit lifestyle und mit einem etwas schrägen Blick aufs Politische. Umso überraschender war es, dass man am Silvestertag des Jahres 2012 Burkhard Scherer Gelegenheit gab, unter der Überschrift „Die Mehrheit ist hetero – wie queer sind wir?“ ein paar Gedankengänge aus dem Bereich dessen, was man Queer Theory nennt, in einfachen worten darzustellen. Die erwartbaren Reaktionen blieben nicht aus.
„Ich bezweifle, dass mittlere Vorlesungen dieser Art überhaupt ihre Leser finden werden, denn hier nervt allein schon mal die Textmenge, mit der im Grunde genommen nichts ausgedrückt wird, was nicht schon offenkundig wäre.“
„Queer-Quatsch (…) eine akademische Diskussion, die elitär geführt wird und für die Menschen keinen Nutzen hat. (…) Das ist nur ein affiger Murks, der einem akademischen Wolkenkuckusheim entspringt.“
„Ich gebe zu, nach der Hälfte des Textes nicht weitergelesen zu haben, weil langweilig, nichts neues, nichts fesselndes.“
„Dieser Artikel ist kaum lesbar (zu lang ) und fällt unter die Kategorie :unnötiges Geschwätz.“
Ins selbe Horn stieß auch „Adrian“ vom Blog „Gay West“: „ein unglaublich kompliziert geschriebener Beitrag (…), der wieder einmal versucht, aus Homosexualität eine Lebensweise, wenn nicht gar eine Revolution zu machen. (…) Der Beitrag eines/einer gewissen Dr. B. Scherer strotzt im folgenden geradezu von Klischees, Verallgemeinerungen und postmodernen Plattitüden.“ Und dann wird ausführlich zitiert, was „Adrian“ anscheinend nicht mit eigenen Wort wiedergeben kann.
Zwischendurch gelangt „Adrian“ zu erstaunlicher Einsicht: „Ich für meinen Teil, weiß dass ich in einer heterosexuellen Welt lebe. Den Grund hierfür sehe ich ganz simpel darin, dass die meisten Menschen heterosexuell sind.“ Auf den Gedanken, dass deshalb die meisten Menschen heterosexuell sind, weil sie in einer heterosexuellen Welt leben, kommt „Adrian“ selbstverständlich nicht. Solch kritische Erwägung hielte er wohl für „postmodern“.
„Denn was soll es eigentlich bedeuten, Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus etc. in Frage zu stellen? Soll das heißen, sich hinzustellen und zu behaupten, man sei nicht weiß, sondern habe eine schwarze Hautfarbe? Man sei nicht untere Mittelklasse, sondern Bourgeoisie? Man sei nicht querschnittsgelähmt, sondern so wie alle anderen?“
Hier stellt sich jemand nun wirklich dumm. Eine Analyse der Weisen vorzunehmen, in denen Menschen nach Rasse, Klasse, Geschlecht usw. eingeteilt werden, bedeutet selbstverständlich nicht, die realitätsstiftende Macht dieser Einteilungen zu leugnen oder sie für durch rein verbale Umetikettierung veränderbar zu halten. Dass jemand querschnittgelähmt ist, ist eine medizinische Diagnose, dass er behindert ist, eine gesellschaftliche Veranstaltung.
Darum ist es Unsinn, wenn „Adrian“ behauptet: „Es mag zuweilen schmerzlich sein, aber eine Minderheit zu sein, ist so schlimm auch nicht. Individualität bedeutet, Unterschiede anzuerkennen und sie als Teil der Pluralität des Lebens zu akzeptieren. Aber zu versuchen, diese Unterschiede einzuebnen, diese als nichtexistent, als Konstruktion zu betrachten, halte ich in höchsten Maße für absurd. Ganz einfach, weil es der Lebensrealität widerspricht. Und weil Kategorien nützlich sein können.“
Der Kern des Missverständnisses besteht in der Gleichsetzung von „konstruiert“ und „inexistent“. Wäre dem so, wäre, wie viele glauben, jeder Sozialkonstruktivismus einfach nur lächerliches Hirngespinst. Es ist aber nicht dasselbe, die Weisen aufzuzeigen, wie etwas gesellschaftlich produziert wird, sich also als nicht naturwüchsig erweist, und zu behaupten, es existiere gar nicht. Der Eiffelturm in Paris ist mit Sicherheit nicht von selbst gewachsen, sondern eine Konstruktion. Existiert er deshalb nicht? Die deutsche Straßenverkehrsordnung oder der Nürnberger Christkindlesmarkt: Gibt es sie etwa von Natur aus? Oder wurden und werden sie von Menschen gemacht? Existieren sie deshalb nicht? Kurzum, nicht der Sozialkonstruktivismus ist lächerlich, sondern solche Kritik daran, die „konstruiert“ mit „inexistent“ gleichsetzt, als ob gerade das die sozialkonstruktivistische These wäre.
Auch mit den Einteilungen „Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus etc“ verhält es sich so. Dass es von Menschen gemachte Zuschreibungen und Einteilungen sind, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt, dass sie nicht wirklich sind und Wirklichkeit bestimmen. Im Gegenteil, gerade dass sie gemacht werden, dass sie vollzogen werden müssen, um zu existieren, verleiht ihnen die Macht von Tatsachen. Die politische Folgerung, die sich aus sozialkonstruktivistischen Überlegungen ergeben kann, lautet allerdings: Was von Menschen gemacht ist, kann unter Umständen auch anders gemacht werden. Die Einteilungen, wie sie derzeit nach Rasse, Klasse, Geschlecht usw. vorgenommen werden, können auch anders oder gar nicht erfolgen.
Was daran „absurd“ sein soll, sehe ich nicht. Ich halte auch nichts davon, die „Pluralität des Lebens“ kritiklos hinzunehmen, statt Unrecht, das man als solches erkennt, zu benennen und nach Wegen der Veränderung zu suchen. „Lebensrealität“ ist, anders als Leute wie „Adrian“ gerne glauben (machen) möchten, nichts ein für alle mal Vorgegebenes, sondern etwas, das so oder so von allen aneinander gestaltet wird. Gewiss sind „Kategorien“ nützlich. aber wem nützen sie wann wie? Welche anderen Kategorien sind denkbar und lebbar? Welcher andere Nutzen kann aus anderen Kategorien gezogen werden? Fragen über Fragen, die man sich als theoriefeindlicher Tropf naturgemäß nicht stellen muss.

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