Sonntag, 16. Dezember 2012

Warum und wozu Religion?

Die Frage, warum und wozu Religion, stellt sich dem nicht, der je das gemacht hat, was man eine religiöse Erfahrung nennt. Und wer nie eine solche Erfahrung gemacht hat, kann die Frage nicht beantworten. Er müsste wie ein Blinder von der Farbe reden. Wobei ich noch nie davon gehört habe, dass ein blinder Mensch die Berechtigung der Malerei leugnet, bloß weil er sie nicht sieht, während es sehr oft vorkommt, dass fanatisch irreligiöse Menschen alle Religion am liebsten wegerklären möchten. Darin ähneln einander ja atheistische und andere Fundamentalisten: Sie empfinden nicht, wie Gläubige, Freude und Ehrfurcht, sondern Hass und Angst. Sie hassen aus Angst, sie ängstigen sich davor, den Grund unter den Füßen zu verlieren. Gewiss, auch Kleingläubige klammern sich oft an scheinbar Sicheres, an Buchstabe und Zahl, an Vorschrift und Gewohnheit. Echte religiöse Erfahrung hingegen ist immer transgressiv. Sie lässt die Beschränkungen des Alltäglichen hinter sich und konfrontiert mit dem Außerordentlichen. Letztlich ist das Göttliche immer ein Abgrund und der Glaube daran ein Sprung hinein. Die Formen religiöser Praxis mögen verschieden sein, das, dem sie sich zu nähern versuchen ist, sofern man das sagen kann, dasselbe. Das Ungeheure zieht an und soll doch in Schach gehalten werden. Religion ist immer beides: Entgrenzung und Zähmung, Öffnung für das Unfassbare und Einfassung zum Schutz vor ihm. Mitunter verliert sich das eine durch das andere. Doch noch die entleerten Formen verweisen auf die Inhalte, mit denen sie zu füllen wären, wenn man nur wollte. Wer aber grundsätzlich nicht will, dass es, wie man so sagt, „einen Gott gibt“, dem ist in diesem Punkt nicht zu helfen. Sein Wille müsste denn gebrochen oder immerhin umgelenkt werden, und das bewirken nur Ereignisse. Es ist ihm zu wünschen, dass es freudige wären, aber oft erfordert es tragische. Hier ist der religiöse Mensch klar im Vorteil. Er braucht nicht erst Not und Tod, Angst und Zittern, um nach dem zu suchen, was ihm Halt gibt. Er lebt bereits in der Gegenwart des Göttlichen, und die selbstverständliche Reaktion darauf ist, wie gesagt, Ehrfurcht und Freude.

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