Donnerstag, 17. Oktober 2024

Unterwegs (15)

Im Zug. Einer empört sich lautstark: „Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.“ Dann liest er seine Begleiterin aus einer Zeitung vor. Ich muss mithören, ob ich will oder nicht. Ich erfahre also: Ein fünfundvierzigjähriger Mann habe im Drogenrausch mit einer Axt einen Siebzehnjährigen erschlagen. Soundsoviel Hiebe seien es gewesen. „Mein Liebster ist Tod, mein Leben hat keinen Sinn mehr.“ Ihr Mandat sei in schlechter Verfassung, habe die Star-Anwältin Soundso mitgeteilt. „Wieso hat der eine Staranwältin? In was für einer Gesellschaft leben wir?“
In einer, denke ich mir, in der auch mutmaßliche Straftäter Rechte haben. Vielleicht ist der Beschuldigte reich oder seine Familie ist es. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vertretung vor Gericht etwas kostet und reiche Angeklagte teure Anwälte haben können.
Und wir leben auch in einer Gesellschaft, sage ich mir, in der private Tragödien zur Unterhaltung des Pöbels nicht nur vor Gericht, sondern auch in „den Medien“ verhandelt werden. Bluttat, Drogen, schwuler Sex, was will man mehr, da kann man sich so schön gruseln und empören. Die Volksseele kocht vielleicht nicht über, aber sie wird auf hoher Temperatur gehalten.
Fast muss man froh sein, dass, wie ich später erfahren werde, der „Axtmörder“ Österreicher ist und sein Opfer Bulgare war ― und nicht etwa umgekehrt. Welche Empörungsorgie hätte sich dem Gelegenheitsrassismus sonst geboten! Übrigens muss die Zeitung mehr als eine Woche alt gewesen sein, als man mir heute daraus vorlas. Anscheinend hat nicht nur die Bahn zuweilen Verspätung, sondern auch das ausliegede Erregungspotenzial.

Dienstag, 15. Oktober 2024

Es ist nicht kompliziert und es ist sehr wohl Rassismus und Kolonialismus

Wie dumm darf man sich stellen, um noch als „Intellektuelle“ durchzugehen? Offensichtlich sehr dumm, zumindest wenn man man eine israelische Intellektuelle ist und dem deutschen Publikum vorschwatzt, was es hören will.
Eva Illouz behauptet, es sei alles sehr kompliziert. Dabei gibt es kaum eine einfachere Geschichte als die: Der Zionismus forderte unter dem Slogan „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ von den imperialistischen Mächten einen jüdischen Nationalstaat, der sollte durch jüdische Einwanderung nach Palästina erzwungen werden, durch Verdrängung, Vertreibung und Ermordung der einheimischen Bevölkerung und durch Terrorakte.
Was ist daran kompliziert? Es ist schlicht eine Geschichte der Überheblichkeit, des rassistisch grundierten Nationalismus, des Kolonialismus und der Gewalt (bis hin zum Faschismus eines Jabotinsky). Und eine Geschichte des Unrechts, des Leides, des Widerstandes und des Gegenterrorismus.
Frau Illouz verdreht die Tatsachen. Der Zionismus sei antirassistisch gewesen, weil er doch Juden vor der Bedrohung und Verfolgung durch Rassismus zu schützen beabsichtigt habe. Letzteres stimmt zum Zeil (zum Teil wurden Bedrohung und Verfolgung, sogar die eliminatorischen Maßnahmen der Nazis, aber auch begrüßt, weil man sich davon mehr Einwanderung versprach), aber das Kriterium dafür, wer aus Sicht der Zionisten Jude und deshalb schutzberechtigt (und künftig mit staatsbürgerlichen recht auszustatten) war, war, um es vorsichtig zu sagen, „ethnisch“, man könnte auch sagen: „rassisch“: Es kam und kommt auf die Abstammung an, nicht auf die Religion (die freilich selbst wieder viel Wert auf Abstammung legt). Die Religion war den Zionisten sogar zuwider.
Zu sagen, der Zionismus sei nicht rassistisch, ist wie zu sagen, der Nazismus sei nicht rassistisch, schließlich habe er Deutsche vor den Juden schützen wollen … Es ist dieselbe „Argumentation“ wie die der rassistischen Rechtspopulisten: Wir haben nichts gegen Fremde, wie wollen nur unser Volk vor Überfremdung schützen, wenn die Fremden weg sind, stören sie uns gar nicht.
Frau Illouz behauptet auch, der Zionismus und sein Projekt eines rassereinen Nationalstaates (auf fremdem Territorium) sei keineswegs kolonialistisch gewesen. Schließlich seien die „frühen Siedler“ angetreten, um Landwirtschaft zu betreiben und die Beschäftigung arabischer Landarbeiter sei angelehnt worden. Die Shoah sei eine Ausformung des Kolonialismus und damit der jüdische Staat eine „plausible antikoloniale Antwort“.
Daran stimmt nichts. Ja, es gab (und gibt) landwirtschaftliche Kollektive, die berüchtigten Kibbuzim, und ja, es gab Stimmen gegen die Beschäftigung von Arabern in Landwirtschaft und Industrie. Einerseits wollte man, ähnlich wie die Nazi-Ideologen, Blut und Scholle zusammenbringen, also durch forcierte Bearbeitung des Bodens einen „neuen Juden“ erschaffen, der nichts mehr mit dem Klischee des mauschelnden und raffgierigen Geschäftemachers zu tun hatte, andererseits wollte man die Begegnungen jüdischer Minderheit und arabischer Mehrheit sehr gern sehr einschränken. Und schon gar nicht arabische Arbeiter auf die Idee kommen lassen, sie könnten ebenso wie jüdische Arbeiter Rechte, Gewerkschaften und Parteien haben.
Sehr früh schon wurden freilich sehr wohl Araber beschäftigt („ausgebeutet“ wie Illouz richtig sagt), übrigens auch in manchen Kibbuzim, und bis heute ist die Ausbeutung arabischer Arbeitskräfte (und zahlreicher nichtjüdischer Arbeitsmigranten aus anderen Ländern) eine wesentliche Grundlage der israelischen Volkswirtschaft. (Die freilich wegen der irrsinnigen Militärausgaben ziemlich marode ist und ganz am Tropf ausländischer Geldgeber hängt,)
Antikolonial ist daran nichts. Das zionistische Projekt ist eher das Musterbild einer Siedlungskolonie: gesteuerte Zuwanderung neuer Herren bei gleichzeitiger Unterdrückung der Eingeborenen. Aneignung des Landes, insbesondere der fruchtbaren Flächen, und deren intensive Ausbeutung, insbesondere für den Export.
Es stimmt auch nicht, dass die „Shoah“ eine „Ausformung des Kolonialismus“ war. Die millionenfache Entwürdigung, Entrechtung, Beraubung, Verfolgung, Verschleppung, Folterung und Ermordung von Menschen, die man als Juden und Jüdinnen klassifizierte, diente nicht den Gewinn von Territorien oder der Bevölkerungsverschiebung. Das unternahmen die Deutschen mit Polen, Ukrainern und Russen, in deren Gebieten die einheimische Bevölkerung versklavt und ermordet werden sollte (und zum Teil ja auch schon wurde), während man die Ansiedlung Deutscher in den „gereingten“ und gestohlenen Territorien plante. Welche Ähnlichkeit gibt es zwischen „Shoah“ und „Gewinnung von Lebensraum im Osten“? Keine. Welche zwischen deutscher Herrenmoral und Zionismus? Unzählige.
Angenommen, die nordamerikanischen Ureinwohner („Indianer“) hätten irgendwann die USA massenhaft verlassen und irgendwo, was weiß ich, sagen wir: auf Madagaskar einen eigenen Staat gegründet und zu diesem Zweck die dortige Bevölkerung verdrängt, bestohlen, unterdrückt, vertrieben und ermordet: Wäre das „antikolonial“ gewesen?
Das absurde Gerede von Eva Illouz findet bestimmt viele deutsche Liebhaber und Liebhaberinnen. Ja, es ist alles so schrecklich kompliziert! Beide Seiten! Die Israelis müssen sich doch verteidigen dürfen! Schließlich haben wir damals die Juden … Usw. usf. Lauter Unsinn. Der deutsche Völkermord rechtfertigt nicht den zionistischen. Unrecht bliebt Unrecht, auch wenn der Geschädigte sich wehrt und sei es mit unrechten Mitteln. Zionismus ist Rassismus und mörderischer Kolonialismus und war es von Anfang an. Israel ist ein rassistischer Terrorstaat und darf keine Zukunft haben.

Samstag, 12. Oktober 2024

Notiz zur Zeit (230)

Bin ich denn der einzige, den es amüsiert, dass die eben eröffnete größte Moschee Albaniens im Stil der großen Moscheen Istanbuls errichtet wurde, mit anderen Worten: im Stil der Hagia Sophia, der einst größten Kirche Konstantinopels?

Sonntag, 6. Oktober 2024

Wahlen und wie man sie deutet

Bei der österreichischen Nationalratswahl 2024 gaben 1.408.514 von 6.346.059 der Wahlberechtigten ihre Stimme der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Das sind 22,2%. Legt man, wie es üblich ist, nur die gültig abgegeben Stimmen zu Grunde (4.882.888), liegt der Stimmenanteil der FPÖ bei 28,8%. Gemäß diesem Wahlergebnis stellt die FPÖ im Nationalrat 57 der 183 Abgeordneten (das sind 31,1%).
Man könnte also sagen, dass etwa 77,8% der Wahlberechtigten und 71,2% der Wähler und Wählerinnen die FPÖ nicht gewählt haben und diese 68,9% der Bevölkerung parlamentarisch nicht vertritt.
Trotzdem ist allenthalben von einem „Wahlsieg“ der FPÖ die Rede. Und davon, dass jetzt deren Regierungsbeteiligung anstehe. Wieso eigentlich?
Das liegt auch, wenngleich wohl nicht nur, an der Art und Weise, wie in „den Medien“ berichtet und kommentiert wird. Selbstverständlich ist es für die Journaille viel interessanter, zu plärren: „Die FPÖ hat die Wahl gewonnen.“ Als nüchtern zu analysieren: „Die anderen Parteien haben dreimal so viel Stimmen wie die FPÖ bekommen.“
Manche Bürgerinnen und Bürger sind vom Wahlausgang erschreckt und geben sich empört. Dabei haben Umfragen genau den „Erfolg“ der FPÖ vorhergesagt, der eingetreten ist, zum Teil sogar einen noch größeren. Keine Überraschung also. Denn was hätte auch sonst passieren sollen?
Die Wahl ändert nichts. Oder nicht viel. Das Problem ist ja im Kern gar nicht die rechtspopulistische Partei mit ihren kräftigen Verbindungen zu Rechtsextremismus, sondern das Problem sind ihre Wählerinnen und Wähler. Wie ich nach der Wahl mit starker Zuspitzung sagte: „Österreich ist ein Land voller Nazis, und die sind auch dann Nazis, wenn sie nicht gerade Nazis wählen.“
Dass die Stimmung im Land deutlich rassistische, autoritäre, illiberale Züge trägt, ist Voraussetzung und Folge der allgemeinen Propaganda und der politischen Praxis der übrigen Parteien. Eine Regierungsbeteiligung der FPÖ wäre sicher unangenehm, aber im Wesentlichen wird schon seit langem von den Regierenden das umgesetzt, was die FPÖ fordert: eine fremdenfeindliche, nationalistische, antisozial-neoliberale Politik. Es kann immer noch übler werden, das stimmt, aber weder die ÖVP oder die SPÖ noch auch, wie ihre Regierungstätigkeit gezeigt hat, die Grünen sind Garanten dafür, dass das nicht passiert. Sie haben dem weder programmatisch noch mental etwas Relevantes entgegenzusetzen.  
Das eigentlich Erschreckende an der Wahl ist demnach: Das Wahlvolk hat sich mit allergrößter Mehrheit für ein Weiterso und ein Zurück (in ein imaginäres Gestern) entschieden, nicht für ein beherztes Angehen der wirklichen Probleme, für echte Lösungsvorschläge und für eine solidarische, ökologische, geschichtsbewusste und weltoffene Zukunft.

Sonntag, 29. September 2024

Getrickse der Demokraten

Kann man anscheinend machen. Bringt aber nichts. Gestützt auf eine passend herbeigeführte verfassungsgerichtlichen Entscheidung, hat im Thüringer Landtag eine Mehrheit der Abgeordneten die Geschäftsordnung so geändert, dass auch andere als die stärkste Fraktion einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorschlagen konnten. und daraufhin jemanden in besagtes Amt gewählt, dessen wichtigste Qualifikation es war, nicht von der AfD zu sein. Man hat, mit anderen Worten, durch rechtliches Herumgetrickse einen Landtagspräsidenten von der AfD verhindert.
Dabei scheint mir, einem juristischen Laien!, die Entscheidung des thüringischen Verfassungsgerichtes, die derlei erlaubt hat, höchst fragwürdig. In der vor der im Hauruckverfahren erfolgten Änderung der Geschäftsordnung hieß es in dieser nämlich ausdrücklich für die konstituierende Sitzung: „Nach Feststellung der Beschlussfähigkeit wählt der Landtag die Präsidentin beziehungsweise den Präsiden­ten, die Vizepräsidentinnen beziehungsweise Vizepräsi­denten und 18 Schriftführerinnen und Schriftführer und bil­det einen Petitionsausschuss nach § 70 a.“ (§ 1) Also Feststellung der Beschlussfähigkeit, dann Wahl. Das ist alles. Kein Wort von der Möglichkeit, dazwischen Anträge zu stellen und die Geschäftsordnung zu ändern. Nicht einmal eine Debatte darf vor den Wahlgängen stattfinden (lt. § 2). Die erste Sitzung unter Vorsitz des Alterspräsidenten findet ja überhaupt nur statt, um einen Landtagspräsidenten usw. zu wählen, erst damit ist der Landtag konstituiert und kann dann seine Arbeit aufnehmen. Und dabei zum Beispiel seine Geschäftsordnung ändern.
Der aus meiner Sicht dem Wortlaut der bisherigen Geschäftsordnung widersprechende Trick war, wenn man den unbedingt einen Landtagspräsidenten von der AfD verhindern wollte, nur notwendig geworden, weil sich die CDU eine regulären Änderung der Geschäftsordnung durch den vorherigen Landtag verweigert hatte. In der irrigen Hoffnung, selbst stärkste Fraktion zu werden und einen Landtagspräsidenten vorschlagen zu können.
Um das Selbstverständlich ausdrücklich zu sagen: Ich verabscheue die AfD und hätte gern, dass niemand sie wählt. Da ihre Abgeordneten aber nun einmal gewählt sind (und bedauerlicherweise sogar die relative Mehrheit im Landesparlament bilden), ist es, um das Mindeste zu sagen, schlechter Stil (um von der mögliche Rechtsbeugung durch die Verfassungshüter zu schweigen), nach erfolgter Wahl die Regularien der Demokratie zu ändern, um auf formell demokratische Weise demokratische Rechte zu beschneiden und so von der Konkurrenz der AfD nicht gewünschte politische Ergebnisse zu verhindern.
Demokratie mit eingeschränkten Rechtsstaat ― denn dass Normen gelten, bis sie in rechtmäßigem Verfahren geändert werden, ist ein wichtiges rechtsstaatliches Prinzip ―, ist das nicht genau das, was Rechtspopulisten wollen? Ist das nicht zum Beispel das, was in Ungarn Orbán und seine FIDESZ machen? „Wir haben die Mehrheit, wir bestimmen, was Recht und was Unrecht ist.“ Und auch die österreichische FPÖ hat ja erklärt: Gesetze müssen der Politik folgen, nicht die Politik den Gesetzen.
Wo hört derlei auf? Als der Alterspräsident (von der AfD) sich strikt an die Geschäftsordnung halten und keine Anträge und Sachabstimmungen zulassen wollte, wurden wieder Rufe nach einem Verbot der AfD laut. Und dann? Aberkennung der Mandate? Erinnert schon ein bisschen an 1933 …
Im Namen der Verteidigung der Demokratie an den demokratischen Spielregeln herumzutricksen, ändert im Übrigen nichts, aber schon gar nichts daran, dass vierhunderttausend Thüringer und Thüringerinnen eine „gesichert rechtsextreme“ Partei gewählten haben. Es lässt im Gegenteil die anderen Parteien, die derlei undemokratisches, unrechtsstaaliches Getrickse für nötig halten ― übrigens ohne dass es einen Aufschrei der Zivilgesellschaft oder der Medien gäbe ―, mickrig und ängstlich aussehen.
Wer die AfD nicht will, muss eine andere Politik vorschlagen und dafür Mehrheiten finden. Mit autoritären Methoden autoritär-illiberale Politik verhindern zu wollen, wird scheitern.