Sonntag, 4. September 2016

Fragment über das Gastrecht

Man hält es für normal, den Fremden zu fragen, wer er ist, woher er kommt und was er will. Es ist auch normal, aber nicht so selbstverständlich, wie man glauben möchte. Denn eigentlich verbietet seit unvordenklichen Zeiten das Gastrecht — das zunächst und vor allem ein Recht des Gastes ist, das den Gastgeber verpflichtet —, den Fremden, den man aufnimmt, nach dem zu fragen, was er nicht von sich aus erzählt. Denn das Gastrecht gilt unabhängig davon, wer der Gast ist. Es wird ja nicht vom Gastgeber unter bestimmten Bedingungen gewährt und unter anderen verweigert oder widerrufen. Sondern es ist unbedingtes Recht des Gastes und unbedingte Pflicht des Gastgebers. Sein Bruch ist Verbrechen. Und neugierige Fragen zu stellen, wäre auch eine Infragestellung dieser Unbedingtheit.
Zu sehr hat man sich an die Norm gewöhnt, dass der Fremde eine Identität zu haben und sie anzugeben und nachzuweisen habe. Die gesichert festgestellte Identität gilt gar als Vorbedingung für alles andere. Niemand darf eine falsche Identität angeben oder seine richtige Identität unkenntlich machen. Über falsch und richtig entscheidet dabei beileibe nicht der zu Identifizierende. Wer die Identitätsfeststellung verweigert oder erschwert, wer seine Identität fälscht oder verfälscht, gilt als Normübertreter, der auszuschaffen ist.
Man hat sich, sagte ich, daran gewöhnt, Identifizierungen für normal zu halten, und dies selbstverständlich deshalb, weil man es gewöhnt ist, selbst identifiziert zu werden. Immer wieder wird vom Subjekt (Untertan) gefordert, seine Identität anzugeben, sich als der und der erkennbar zu machen, um berechtigten Zugang zu diesem und jenem zu erhalten. Wer sich wo aufhalten darf, wer worauf Zugriff, wer worauf Anrecht hat, hängt vom korrekten Nachweis einer passenden Identität ab.
Dass der Fremde ein Mensch ist und als solcher bestimmte Bedürfnisse hat, steht außer Frage. Hinzu kommen Bedürfnisse, die jeder Mensch unter bestimmten Umständen haben kann. Jeder bedarf der Nahrung, aber nur der Kranke, Verletzte, Schwache der Pflege. Niemand bedarf einer Identität, um das Recht zu haben, am Leben zu sein, um das Recht zu haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Derlei steht als Menschenrecht jedem von vornherein auch ohne jede staatliche Anerkennung zu und verpflichtet alle anderen dazu, es zu achten.
Es gibt ein Recht darauf, nicht schlecht behandelt zu werdem. Das verpflichtet alle, die Aufnehmenden wie die Aufgenommenen. Aber es gibt kein Recht darauf, über den anderen Bescheid zu wissen. Wissen ist Macht, darum hat jeder das Recht, sich dem Wissen der anderen zu entziehen. Jeder darf nach seinen Handlungen und Unterlassungen beurteilt werden, aber niemand muss eine „Identität“ haben müssen.

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